Kinder des Untergrunds

Parada Romania bietet Straßenkindern eine Perspektive

Antonio und Florin üben für die nächste Aufführung.

Die Pyramide kehrt das Prinzip der Straße um: Hier tragen die Starken die Schwachen.

Die Stadt unter uns
Fotos: Die Verfasserin (1), Parada Italia (2)

Ein Junge, vielleicht 8 oder 9 Jahre alt, mit schwarzem Wuschelkopf spielt mit einem Luftballon. Es ist Europatag, den Ballon mit dem Sternenkranz hat er von einer Veranstaltung, die gegenüber der Bukarester Universität stattfindet. Immer wieder wirft der aufgeweckte Junge den Ballon in die Luft, um ihn dann zu fangen, bis – wie kann es anders sein? – er über die Gitterstäbe des Bukarester Stadtmuseums fliegt. Aus, vorbei der Spaß? Nicht für den Kleinen, denn in einem Punkt unterscheidet er sich von anderen Kindern in seinem Alter. Er hat keine Eltern, die ihm verbieten, sich zwischen den Gitterstäben, die gerade breit genug für den schmalen Körper sind, hindurchzuzwängen. Keine halbe Minute später steht er auf der anderen Seite, strahlend, mit den Luftballon in beiden Händen.
Liviu, der ihn beobachtet hat, schmunzelt. Auch er lebt auf der Straße und schläft neben den Heizungsrohren der Kanalisation, denn dort ist es auch im Winter warm. Oberhalb von Bukarest deuten nur die dicken, weißen Dämpfe, die aus manchen Gullis aufsteigen, auf die unterirdische Stadt hin – das Zuhause von über 1500 Straßenkindern. Den Geruch des Untergrunds trägt Liviu nach oben. Es ist der Gestank von getrocknetem Alkohol und Schweiß, der einem norma-lerweise am Morgen einer durchzechten Nacht in die Nase steigt. Doch Liviu wirkt nicht verkatert. Er ist hellwach, während er sich mit Antonio, dem dritten im Bunde, unterhält.

Heute soll hier eine Show von Parada Romania, einer NGO mit dem Ziel, die Straßenkinder Bukarests wieder in die Gesellschaft zu integrieren, stattfinden. Nur ein unauffälliges Schild deutet in der U-Bahnstation der Universität darauf hin, dass hier gleich Akrobaten und Jongleure auftreten werden. Noch bereiten sich die anderen Kinder auf ihren Auftritt vor. Flori, die Trainerin der Kids, spricht noch einmal die Choreografie mit ihren Schützlingen durch. Dann, mit dem Ertönen der Musik, wird es ernst. Zwei Mädchen, Zwillinge, kommen auf die improvisierte Bühne, die aus einem viereckigen Stück Teppich besteht. In ihren glitzernden, rosa Kostümen wirken die Kinder wie professionelle Artisten. Die Bewegungen der Bodenakrobatinnen sind anmutig und elegant, während sie sich in verschiedene statuenhafte Figuren verwandeln und zu einer einzelnen Person verschmelzen. Die Beiden demonstrieren, dass sie es gelernt haben, ihren zierlichen Körper zu beherrschen und diesen nach ihren Vorstellungen zu verbiegen.

Parada Romania – eine Perspektive

Seit fast 20 Jahren arbeitet Parada Romania schon mit Straßenkindern zusammen und versucht, auf das Problem aufmerksam zu machen. Ursprünglich begann alles mit dem französischen Clown Miloud Oukili. Nach der großen Revolution erfuhr er durch die Nachrichten, wie die rumänischen Waisenhäuser eine Flut an verstoßenen Kindern auf die Straße entließen. Eine Generation im Elend, die der verhasste Diktator Ceauşescu durch das Verbot von Verhütung und Abtreibung schuf. Oukili, von dem innigen Wunsch getrieben, den Kindern zu helfen, setzte sich spontan mit einer roten Nase und ein paar Bällen in das nächste Flugzeug. In Bukarest merkte er schnell, dass die Kinder mit seinen Jongleur-Künsten zu begeistern waren. Durch den Zirkus eröffnete sich den Straßenkindern plötzlich eine neue Welt, in der sie nicht mehr wie Aussätzige behandelt wurden. Die Kids hatten eine neue Droge gefunden. Statt den Klebstoff „Aurolac“ zu schnüffeln und damit Hunger und Kälte fernzuhalten, war es nun der Applaus, der sie Angst, Gewalt und sexuellen Missbrauch vergessen lies. Mit dem Klatschen der Zuschauer heben sich die Mundwinkel der Zwillinge. Anfangs noch ernst, wird aus dem Lächeln ein breites Grinsen, als sie sich verbeugen. Über 700 Straßenkinder hat Parada Romania inzwischen wieder reintegriert. Auch in Italien und Frankreich tritt Parada mit den Kindern auf.

Dabei nutzt der Zirkus seine internationalen Reisen als Bühne, um auf das Problem und die Tatenlosigkeit der rumänischen Politik hinzuweisen. Inzwischen wächst eine neue Generation an Kindern heran, die in der Straße ohne medizinische Versorgung geboren wurde. Viele sterben deshalb schon als Babies. Auch Liviu verlor seine Kinder an die Straße. Nur drei Organisationen kümmern sich im Moment in Bukarest um die vergessenen Kinder – eine davon ist Parada. „Der Zirkus dient dazu, das Vertrauen der Kinder zu gewinnen,“ erklärt Franco Aloisio, der hauptsächlich für die Planung der Aufführungen von Parada zuständig ist: „Das ist die Grundlage, auf der wir aufbauen können. Je besser wir das Kind dann kennenlernen, desto mehr verlangen wir von ihm. Zum Beispiel die Kontaktaufnahme mit der Familie oder die regelmäßige Teilnahme am Schulunterricht.“ Manche Kinder studieren sogar, andere dagegen arbeiten nur gelegentlich, da sie ihre Arbeit aufgrund ihrer mangelnden sozialen Kompetenzen immer wieder verlieren. Marius gehört zu letzteren. Mit 14 Jahren kam er zum Zirkus und ist immer noch hier. Der Mann mit zerzausten Haaren und dem schüchternen Lächeln, das seine Zahnlücken entblößt, ist psychisch labil. Stabilität in seinem Leben findet er nur im Zirkus, deshalb kommt er immer wieder zu Parada zurück.

„Wir können die Kinder nicht zwingen, die Straße zu verlassen“, meint Aloisio, „sondern ihnen nur eine Perspektive anbieten. Entscheiden muss sich jedes Kind selbst. Der Zirkus übt zwar mit seinen Farben und Kunststücken eine gewisse Anziehungskraft auf die Jugendlichen aus, aber auch die Straße hat ihren Reiz. Im Zirkus gibt es Regeln: Keine Drogen, keine Gewalt, gegenseitiger Respekt. Auf der Straße dagegen sind die Kinder unabhängig. Im Zirkus gibt es Autoritäten, auf die sie hören müssen – gerade das, wovor viele wegliefen. Die meisten Kinder kommen deshalb nur sporadisch oder bei Kälte und Regen. Für die Trainerin Flori ein Problem, denn konstantes und gemeinsames Üben ist kaum möglich. Trotzdem ist die ehemalige Künstlerin des internationalen Zirkus gerne bei Parada: „Es ist einfach schön, den Erfolg der Kinder auf der Bühne zu sehen.“ Immer wieder erklärt sie den Kindern geduldig die Bewegungen, schimpft, wenn ihre Schützlinge beginnen, Quatsch zu machen und lobt sie, wenn sie sich verbessern. Hochkonzentriert jongliert Antonio mit drei Ringen und versucht, sich so, langsam, im Kreis zu drehen. Nach mehreren Versuchen gelingt es, begleitet von den ermutigenden „Bravo“-Rufen seiner Trainerin. Der Junge ist erst seit Kurzem beim Zirkus und auch er kommt eher selten.  

„Alle hier sind verrückt“

„Schwierig ist es deshalb, weil wir eine Tageseinrichtung sind,“ erzählt Aloisio:  „2011 mussten wir die Apartments für die Unterbringung der Kinder aufgrund der Finanzkrise schließen. Viele der privaten Sponsoren sprangen ab. Somit besteht natürlich immer das Risiko, dass der Fortschritt, den wir tagsüber erzielen, nachts, wenn die Kinder in die Kanalisation gehen, wieder verloren geht.“ Inzwischen hat sich die finanzielle Situation bei Parada wieder stabilisiert. Das verdankt der Zirkus freiwilligen Helfern, kleineren Beiträgen und Spenden von Kleidung, also Unternehmen und Privatpersonen. Für die Zukunft hat Parada neue Unterkünfte geplant und dafür bereits ein Grundstück außerhalb von Bukarest gekauft. Noch vor dem nächsten Winter sollen dort 28 Kinder untergebracht werden. Denn je länger sich die Kinder auf der Straße durchschlagen müssen, desto schwerer wird es für sie, sich ein anderes Leben vorzustellen. Der Erfolg der Reintegration ist deutlich höher, wenn die Kinder erst seit Kurzem obdachlos sind, denn dann hatten sie noch keinen Kontakt zu Drogen und sind noch nicht HIV infiziert. Ein Versuch, den Kindern Kondome zur Verhütung mitzugeben, scheiterte. Bereits am nächsten Tag verkauften sie diese auf dem öffentlichen Markt. „So funktioniert die Straße“, seufzt Aloisio.

Neben Problemen wie Krankheiten muss Parada auch täglich mit dem Fehlen von Ausweispapieren oder mit Diebstählen zurechtkommen. „Du kannst die Kinder nicht dazu motivieren, zu kommen, und gleichzeitig von ihnen erwarten, dass ihnen die Sachen hier nicht gefallen,“ so Aloisio: „Ein 14-Jähriger, der auf der Straße lebt, hat die gleichen Wünsche wie andere Kinder in seinem Alter. Viele der Kids haben Handys. Nur weil sie auf der Straße leben, heißt das nicht, dass sie keine Menschen sind.“ Um ihre Wünsche zu stillen, bleibt den Kindern aber oft nur der Weg in die Kriminalität. Nicht selten werden sie deshalb polizeilich gesucht. „Jeden Tag häufen sich die Probleme. Wer den Job hier macht, muss ein wenig verrückt sein,“ kommentiert Aloisio seine Erzählungen über den Alltag von Parada: „Alle hier sind ein bisschen irre. Die Kinder, das Personal, einfach alle.“ Es gibt Situationen, in denen die Kinder durchdrehen, in denen ihre Erfahrungen mit Gewalt an die Oberfläche drängen und nicht mehr kontrollierbar sind. Dann kommen sie in eine Krise und beginnen, sich beispielsweise auf offener Straße auszuziehen. Als Passant allerdings ist es unmöglich, hinter die Maske der Straßenkinder zu blicken. So wie im Zirkus die Schminke die Narben kaschiert, verdeckt das Lachen der Kinder ihre oft schrecklichen Erfahrungen. Vor dem Gebäude des Zirkus stehen ein paar Kinder – Freunde, die zusammen Spaß haben und sich gegenseitig necken. Antonio möchte, dass sein älterer Kumpane still hält. Er will ihm die Bartstoppeln am Kinn kraulen. Der Junge lässt es geschehen. Sie sind eine Familie, denn wem sonst sollen sie vertrauen, wenn nicht denjenigen, die ihr Schicksal teilen?


Jeder kann Parada Romania unterstützen. Mit Spenden von Kleidung und Hygieneartikeln oder einem finanziellen Beitrag. Wer möchte kann Parada auch zu einer Veranstaltung einladen oder für seine Geburtstagsparty engagieren. Freiwillige Helfer sind ebenfalls immer gesucht. Es gibt also zahlreiche individuelle Chancen den Zirkus und dessen Projekte zu fördern. Weitere Informationen finden sich unter: www.paradaromania.ro/ro/homepage-new/

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