Kubanische Hühner und Hemingway in Havanna

Im letzten August besuchte ich Havanna, was mir die Gelegenheit bot, einige sehr persönliche Erfahrungen zu sammeln. Lässt man die oft unerträgliche Hitze beiseite, fühlte ich mich in der kubanischen Hauptstadt pudelwohl. Nicht nur durch die architektonische Kulisse aus la Habana vieja, der Altstadt, und die großartigen Musiklokale auf der Calle Obispo. Nein, man kann in dieser Stadt auch heute noch, mitten auf der Straße, so gut wie mit jedem ein Schwätzchen halten, wie früher auf dem Lande in Rumänien. Mit dem im Schatten einer zerfallenen Mauer, die Saiten seines Instruments zupfenden Gitarristen, dem gelangweilten, nach Abwechslung suchenden Hotelpförtner, der den Passanten nachsieht, oder mit dem auf einer Bank verweilenden alten Männlein, der über unlösbare Probleme wie die Quadratur des Kreises oder die Beschaffungsmöglichkeiten eines Ventilators sinniert. Denn in Havanna gibt es kaum etwas zu kaufen. So habe ich beispielsweise ein Kaufhaus in der Nähe der Plaza de Armas betreten, wo die Ware totale Fehlanzeige war, sowohl im Erdgeschoss, als auch in der ersten und zweiten Etage. Aber lassen Sie mich nicht lügen, just in der Mitte des von riesigen, leeren Regalen umgebenen Erdgeschosses, entdeckte ich hinter einer Vitrine fünf immerhin daumengroße Schrauben. Aber das war’s dann auch, sodass mir nach dem Zählen der Schrauben noch genügend Zeit übrig blieb, die unzähligen, umher hastenden Kubaner, die verzweifelt nach Ware suchten, zu beobachten. Das Kaufhaus war rappelvoll, und sobald man kurz stehen blieb, behinderte man den Verkehr, sodass man an jeder Ecke sicherheitshalber einen wachsamen Kontrolleur postiert hatte, der in einem kommunistisch-strengen Ton die Gaffer dazu anhielt weiterzulaufen. „Pasa, companero, pasa!“, weiterlaufen Genosse, wiederholte er immer wieder mit Nachdruck, man war ja schließlich nicht der einzige, der dieses einmalige Kaufhaus bewundern wollte.

Ich sah auch noch eine Metzgerei in der Altstadt, die die anderen Touristen jedoch nicht als solche ausmachten, die ich aber aufgrund der vielen an einer langen Stange befestigten leeren Fleischhaken sofort identifizierte. Ich genoss natürlich den Vorteil, in Ceauşescus Rumänien gelebt zu haben, wo ich schon als Kind gelernt hatte, die Verkaufsläden anhand der abwesenden und nicht der anwesenden Ware voneinander zu unterscheiden. Es kursierte in den 70ern in Rumänien dieser realistische Witz: Ein Mann betritt einen Laden und fragt: „Wieso haben Sie denn kein Fleisch?“ „Weil das hier eine Bäckerei ist. Hier haben wir kein Brot. Kein Fleisch haben sie in der Metzgerei nebenan.“ Es gab also in dieser Metzgerei kein Fleisch, aber auf der Verkaufstheke erblickte ich eine Menge mit frischen Eiern gefüllten, sauber aufeinandergestapelte Eierkartons. Die kubanischen Hühner waren offensichtlich die einzigen, die den Produktionsplan der sozialistischen Zentralplanwirtschaft gewissenhaft erfüllt und sogar überschritten hatten.

Auch besuchte ich in der kubanischen Hauptstadt in der fünften Etage des Hotels „Ambos mundos“ (Beide Welten) das Zimmer 511, in dem Hemingway in den 30ern gewohnt hatte. Besser gesagt, wollte ich es besuchen, denn nachdem ich mit dem bezaubernden Aufzug von anno dazumal ins fünfte Stockwerk gestiegen war, drückte ich auf die entsprechende Türklinke, doch das Zimmer war leider geschlossen. Also kehrte ich zur Rezeption zurück, wo man mich wissen ließ, dass Esperanza, die Schlüsselbesitzerin und Hemingway-Zimmer-Kustodin, mangels Besucherzahl womöglich gerade eine Pause auf unbestimmte Zeit einlegte. Wo genau, wusste man aber leider nicht. Da ich in unmittelbarer Nähe eine camerera, ein Zimmermädchen sah, das nachdenklich an einem Besen lehnte, bat ich dieses nach Esperanza zu forschen, wozu ich es durch einen zugesteckten Dollar zusätzlich motivierte, sodass sich das Zimmermädchen wie der geölte Blitz auf die Suche machte, um nach lediglich zehn Minuten Arm in Arm mit der Gesuchten wieder aufzukreuzen.

Esperanza war ein schlanke Frau um die vierzig, mit schneeweißer Haut, kastanienbraunem, zu einem Dutt zusammengebundenem Haar, weißer Bluse und einem wie ein son cubano nostalgischem Lächeln. Ich gab ihr zwei Dollar für den Eintritt plus einen Dollar Trinkgeld, sie öffnete dankbar die Tür, und ich betrat das Zimmer. Der Raum war klein und denkbar einfach möbliert, es gab dort einen Schrank, links am Eingang ein Bett, einen Tisch und einen Nachttisch mit einem alten Wählscheibentelefon. Aber in kleinen Räumen wurden bereits des Öfteren große Bücher geschaffen, und hier begann Hemingway 1939 den Roman „Wem die Stunde schlägt“ zu schreiben. Es sah so aus, als sei der Schriftsteller gerade kurz ausgegangen, um einen Mojito um die Ecke, im berüchtigten Lokal „Bodeguita del Medio“ oder einige Straßen weiter einen Daiquiri in der Kneipe „Floridita“ zu kippen. Auf dem Tisch stand eine alte Schreibmaschine mit einem eingespannten, bis zur Hälfte bedruckten Papierblatt, daneben lagen eine John-Lennon-Brille avant la lettre mit kleinen, runden Gläsern und Metallrahmen und ein mit dem Bleistift beschriebenes Papierblatt, wo ich entzifferte: „No, he said. Rien à faire. Rien. Faut accepter comme toujours.“ „Nein, sagte er. Man kann gar nichts machen. Gar nichts. Man muss es wie immer akzeptieren.“ Ja, schon damals ließ sich nichts mehr ändern, wenn alles zusammenbrach, ging es mir durch den Kopf.

Hemingway hatte sich offensichtlich etwas Französisch in seinen Pariser Jahren, in den 20ern, angeeignet und setzte es hier literarisch wirkungsvoll ein. An der Wand hing ein Bild von Hemingway und Martha Gellhorn, seiner künftigen Ehefrau, sie tranken ein Glas Champagner oder Weißwein, man konnte es nicht ausmachen. Doch eins war offensichtlich, das Bild strahlte Lebensfreude und ein unübersehbares Glücksgefühl aus. „The world is a fine place and worth the fighting for.“ „Die Welt ist ein wunderbarer Ort, wofür es zu kämpfen lohnt“, fiel mir dabei ein Hemingway-Satz ein. Doch zwanzig Jahre später würde der Schriftsteller diese Ansicht ändern und sich mit einer Schrotflinte eine Kugel in den Kopf jagen, zerstört durch Alkohol, heftige Depressionen und unerträgliche, durch zwei Flugzeugabstürze in Afrika verursachte Rückenschmerzen. C’est la vie, dachte ich, aber nun war Hemingway immer noch glücklich, im Hotel „Ambos mundos“, Zimmer 511.

Etwas weniger glücklich schienen die deutschen Touristen gewesen zu sein, die in diesem Hotel in den letzten Jahren gewohnt hatten. Da ich mir vornahm, bei meinem nächsten Havanna-Besuch in diesem Zimmer mindestens ein-, zweimal zu übernachten, sah ich mir bei trivago.de die Bewertungen für dieses Hotel an und fand u. a. folgende Bemerkungen: „Im Ambos mundos hat Hemingway gewohnt. Es gibt dort viele Dinge, die an ihn erinnern. Unser Zimmer wies eine Menge Mängel auf. Der Strom fiel ein paar Mal aus, und der Aufzug war zu klein. Vier Tage lang gab es kein warmes Wasser. Die Staubflusen unter dem Bett stammten bestimmt aus Hemingways Zeiten.“ Ich wusste nicht wieso, aber dieser Kommentar erinnerte mich sofort an meine alte Heimat. Ein anderer, etwas finanzorientierter Tourist kommentierte lakonisch: „Der Besuch von Hemingways Zimmer kostet zwei Dollar, doch wenn man in Ambos mundos wohnt, ist er gratis. Aber es gibt dort nichts zu sehen. An meiner Zimmerdecke gab es einen riesigen Wasserfleck. Der Duschkopf funktionierte nicht.“ Und ein anderer schrieb zutiefst enttäuscht:  „Das Frühstück auf der Hotelterrasse, mit Aussicht auf das alte Havanna kostet zehn Dollar, aber es lohnt nicht. Es gibt kaum etwas zu essen, nur Croissants, Müsli, Rühreier, Omelett, Bratwürste, Schinken, gebratenen Speck, Käse, Yoghurt und exotische Früchte.“ Ich stellte mir den Mann ungefähr so umfangreich wie den Glockenturm der Kathedrale von Havanna vor, und es tat mir irgendwie leid, dass er durch das ärmliche Frühstück so viel leiden musste. Aber so geht das, der Hunger ist ewig und geht immerfort als Sieger hervor, sogar in den nostalgischsten Winkeln Havannas.