Lehrbücher als Projektionsfläche mangelhafter Bildungspolitik

Schüler, Eltern und Unterrichtende der deutschsprachigen Schulen in Rumänien stellen sich akuter Schieflage

Vielerorts kommen noch die älteren Ausgaben der Schulbücher zum Zuge. Die neu gedruckten Bücher haben Lehrer und Schüler oft noch nicht erreicht.

Mitte Dezember 2018 traf in der Zentralredaktion der „Allgemeinen Deutschen Zeitung für Rumänien“ (ADZ) eine Pressemitteilung ein, die von Dr. Carsten Buchholz, Leiter des Abgeordnetenbüros Gunther Krichbaum, verfasst worden war. Gunther Krichbaum, Jahrgang 1964, Jurist, beteiligt sich seit 2002 als Mitglied der Fraktion von Christlich-Demokratischer Union (CDU) und Christlich-Sozialer Union (CSU) im Bundestag an der Regierungspolitik der Bundesrepublik Deutschland. Auch ist er Mitglied des Deutsch-Rumänischen Forums und Vorsitzender des Bundestagsausschusses für Angelegenheiten der Europäischen Union.

Dem deutschsprachigen Bildungswesen in Rumänien wird die moralische Unterstützung des Bundestagsabgeordneten Gunther Krichbaum zugesichert: „(…) Der Druck neuer deutschsprachiger Schulbücher kommt nun nach vielen Jahren des Wartens endlich ins Laufen. Bereits im letzten Jahr (2017, Anm. d. Red.) erfuhr Gunther Krichbaum, dass seit der Änderung der Lehrpläne im Jahr 2013 keine neuen Schulbücher in deutscher Sprache erschienen sind. ‘Als Stadtrat Christian Macedonschi aus Kronstadt mich auf dieses Problem aufmerksam machte, habe ich mich sofort an das Bildungsministerium in Bukarest und die rumänische Botschaft in Berlin gewandt. Ohne aktuelle Schulbücher hätte der Deutschunterricht in Rumänien keine Zukunft´. Unterstützt wurde Krichbaum auch von Botschafter Cord Meier-Klodt. Grund für die mangelnde Versorgung mit entsprechenden deutschsprachigen Büchern war die fehlende Genehmigung durch die rumänische Regierung. Daher konnten bereits übersetzte Lehrbücher noch nicht zum Druck ausgeschrieben werden. Zur Verzögerung trug sicher auch bei, dass das Amt des Bildungsministers in der rumänischen Regierung in der zurückliegenden Zeit mehrfach gewechselt habe, so Krichbaum. Nun kam die Nachricht, dass die Genehmigungen erteilt sind und der Druck neuer Schulbücher beginnen kann. ‘Für 17 Schulbücher in deutscher Sprache aus verschiedenen Fachrichtungen haben die rumänischen Behörden nun endlich die Druckfreigabe erteilt´, so Krichbaum. Weitere Bücher sollen in den nächsten Wochen folgen.“

Nimmt man die Statements für sich selbst und unter Ausblendung der rumänischen Bildungspolitik, könnte man meinen, über Nacht seien unerwartet neue Zeiten angebrochen. Der tatsächlichen Realität vor Ort nach zu schließen stimmen etliche Aussagen mit dem Alltag an den Zieleinrichtungen überein, aber einige Details ergeben dann doch ein komplexeres Bild. Welche finale Buchqualität haben Schüle-rinnen und Schüler auf der Schulbank liegen? Welche sprichwörtlichen Feuerwehreinsätze mussten Lehrkräfte und Bildungsbeauftragte 2018 leisten, um im Unterricht auf neue Schulbücher zurückgreifen zu können? Sind diese bereits überall in Verwendung? Und welche vom Bildungsministerium mit oder ohne Absicht aufgestellten Verwaltungshürden mussten zur Beseitigung klaffender Mängel im Eiltempo überwunden werden?

Großer Auftrag, hohe Nachfrage

Adriana Hermann, ausgebildete Grundschullehrerin für den Unterricht in deutscher Sprache, ist Fachreferentin des 1998 gegründeten Zentrums für Lehrerfortbildung in deutscher Sprache (ZfL), auf dessen Aktivität das aktuelle Qualitätsangebot des deutschsprachigen Schulwesens in Rumänien zu wichtigen Teilen beruht. Zweimal jährlich erscheint „Zett“, die auf der Homepage www.zfl.ro im pdf-Format abrufbare Zeitschrift der Einrichtung. Schriftliche Beiträge aktiver und ehemaliger Lehrer geben realitätsnahe Aufschlüsse über das Gesamtbild deutschsprachigen Schulunterrichts in Rumänien vom Kindergarten bis zur 12. Klasse. Auf den Seiten 16 bis 20 der neuesten Ausgabe (Nr. 36, November 2018) melden sich Grundschullehrerin Elke Dengel (Hermannstadt), Adriana Hermann und Martin Bottesch, Lehrer für Mathematik am Samuel-von-Brukenthalgymnasium Hermannstadt und Vorsitzender des Regionalverbands Siebenbürgen des Demokratischen Forums der Deutschen in Rumänien (DFDR), bezüglich der Schulbuchfrage detailliert zu Wort.

„Schulbücher aus dem Rumänischen ins Deutsche zu übertragen, ist eine anspruchsvolle Tätigkeit. Selbst Muttersprachler zu sein, bedeutet keine Garantie für geschicktes Übersetzen“, gibt Adriana Hermann zu bedenken. Sprache und Fachkompetenz laufen immer seltener zusammen. Berufseinsteiger und Aspiranten auf eine voruniversitäre Lehrstelle, die beide Anforderungen mit Vorzeigequalität erfüllen, machen sich rar im deutschsprachigen Schulwesen Rumäniens. Trotzdem führt das ZfL eine Liste mit den Namen etwa 40 Lehrer, die an der Konzeption und Übersetzung neuer Lehrbücher mitgearbeitet haben.

Entlohnung und Verlustgeschäft

Die vom Bildungsministerium im Jahr 2018 vorgegebenen Zeitraster waren sehr eng und mit Langfristigkeit und minutiösem Korrekturlesen unvereinbar. Auf Anordnung von oben herab musste es schnell gehen. Selbst zur Sommerurlaubszeit wurden halbe Nächte hindurch im Sofortmodus gearbeitet. Juliane Henning, Grundschullehrerin am Theoretischen Gustav-Gündisch-Gymnasium Heltau/Cisn²die, und Martin Bottesch nahmen sich der nochmaligen Durchsicht einer bereits abgefassten Übersetzung des Mathematik-Lehrbuches Klasse 4 an, wofür zwei Tage Zeit blieben. Martin Bottesch selbst wurde die finale Korrektur einer deutschsprachigen Endfassung des Mathematik-Lehrbuches Klasse 5 zugeteilt; der Computer zählte 690 Anmerkungen. Mangelhafte Arbeitseinstellung derjenigen Person, von der die Rohfassung der Übersetzung stammte? Wohl eher nicht. Dies bestätigt auch Adriana Hermann: „Das Korrekturlesen brachte Sprachstile ähnlich Google Translate zutage, doch hat niemand dieses Werkzeug tatsächlich verwendet“.

Das Erstellen eines Schulbuches wird mit dem Gegenwert in rumänischen Lei von etwa 1000 Euro entlohnt, was für Schulbücher der Gegenstände Geschichte der Minderheit, Musik und Deutsch gilt, die im ersten Halbjahr 2018 erarbeitet werden sollten. Für Übersetzungen werden bescheidenere Honorare bereitgestellt. Juli 2018 erfolgte der erste von mehreren Aufrufen, Angebote für die Übersetzung von Schulbüchern der Klassen 3, 4 und 5 in die Sprachen der Minderheiten einzureichen. Bis 30. Juli mussten interessierte Verlage Angebote erstellt haben. Strittig erweist sich eine Praxis des Ministeriums, den Richtpreis pro Buchexemplar auf nur 4 bis 5 Lei festzulegen. Bei einem Verkaufspreis von 30 Lei im Handel wartet die Frage nach dem Zielkonto des Restbetrages auf Antwort. Die Leitung des Aramis-Verlages, Herausgeber nicht weniger Neuübersetzungen, spricht es aus: „Nein, für uns schaut dabei null Profit heraus!“ Unter Lehrern ist bekannt, dass der Schulbuchverlag Editura Didactică și Pedagogică (EDP) vom Bildungsministerium unter dem vorangegangenen Minister Valentin Popa (im Amt von Januar bis September 2018) allein beauftragt wurde, Schulbücher herauszugeben – eine Maßnahme, die inzwischen aufgehoben wurde.

Offensichtlich müssen Verlage sich mit der zuliefernden Rolle von Franchise- und Tochterunternehmen begnügen. Demgegenüber wird in der Ausgabe Nr. 36 der Zeitschrift „Zett“ eine Wunschstrategie für die Herstellung von Schulbüchern festgehalten: „Korrektes und anspruchsvolles Deutsch, eine altersangemessene Sprache, logischer Textaufbau, sachlich richtige Informationen, ein pragmatisches Gesamtkonzept der Bücher, pädagogisch wertvolle Lektionen und Aufgaben sowie ein professionell gestaltetes und ästhetisch ansprechendes Produkt“. Das Lehrbuch des Gegenstandes Naturwissenschaften Klasse 3, vom Aramis-Verlag herausgegeben, ist das Ergebnis einer vergleichsweise fortschrittlichen Übersetzungsarbeit. Inhaltlich aber hebt es sich kaum von einem Fachwörterbuch ab. „Da kann man den Schülern glatt ein Lexikon vorlegen“, bemängelt Adriana Hermann.

Einzelinitiativen gegen starres Bildungsgesetz

Die vom EDP-Verlag herausgegebene Fibel der Autorinnen Adriana Hermann und Elke Dengel entstand im Zeitraffertempo von drei Monaten und durfte – wiederum aus Kostengründen – keine Illustrationen beinhalten. Ersatzweise wurden Fotos aus Privatarchiven abgedruckt. Ihre 1997 vom Teora Verlag veröffentlichte Vorgängerin war das Ergebnis zwölfmonatiger Arbeit gewesen. Die neue Fibel behält die alte Buchstabenreihe bei. Dagegen ist seit Ende September 2017 eine Verordnung in Kraft, wonach additive Lehrmittel vom Bildungsministerium zur Anwendung im Schulunterricht einzeln freigegeben werden müssen. Dies natürlich auf Kosten des jeweiligen Antragsstellers. Ex-Bildungsminister Liviu Pop, vom 29. Juni 2017 bis 29. Januar 2018 im Amt, ist der geächtete Autor besagter Regelung. Das Schüler-Arbeitsheft der Teora-Fibel ist nicht genehmigt worden, gelangt aber nach wie vor auf die Tische zahlloser Erstklässler.

In Heltau ist die neue Fibel noch nicht im Einsatz. „Wir verwenden die Teora-Fibel und warten auf die neue Ausgabe“, so Juliane Henning. So auch in Alzen/Al]îna im Harbachtal/Valea Hârtibaciului, wo Rosemarie Müller, Kuratorin der lokalen evangelischen Kirchengemeinde A.B., an der Grundschule unterrichtet: „Ich habe ein einziges Exemplar der neuen EDP-Fibel erhalten, das rückwärts gebunden und gedruckt, also nicht verwendbar ist.“
Sämtliche freigegebenen Schulbücher sind auf der Homepage www.manuale.edu.ro im pdf-Format einsehbar. Der Link lässt eine ineffizient kategorisierte Auswahl der Buchtitel nach Unterrichtssprache, -Gegenstand und -Semester zu. Nebenbei fällt auf, dass den Klassengängen 7, 8, 9 und 10 zumindest hier, Stand derzeit, kein einziges Schulbuch zugeordnet ist. Beginnend mit dem Jahr 2013 wurden Fachlehrpläne erneuert, worauf ein Chaos in der Schulbuchfrage folgte. Bildungseinrichtungen der ethnischen Minderheiten und der Mehrheit waren hiervon glei-chermaßen betroffen. Unterschiede bestehen lediglich in der Art und Weise institutionalisierter Reaktionen einzelner Organisationen auf die hinderliche Sachlage. „Die Methodologie sämtlicher Schritte von der Bekanntmachung eines ministerialen Aufrufs bis hin zum Druck eines Schulbuches ist undeutlich formuliert und auch erfahrensten Kollegen aus dem Lehramt unverständlich“, behauptet Carmen Reich-Sander, Lehrerin für Mathematik am Samuel-von-Brukenthal-Gymnasium Hermannstadt und Vorsitzende der Schulkommission des Demokratischen Forums der Deutschen in Rumänien.

Empfindliches Gesamtpaket

Bildungspolitik, Qualitätsansprüche, Minderheitenpolitik und ein ziviles Selbstverständnis universaler Ausrichtung ergeben im Zusammenspiel eher Schwierigkeiten denn Lösungsansätze. Das Lehrbuch Mathematik und Kennenlernen der Umwelt Klasse 2, von Juliane Henning und Adina Maria Fülöp (beide Theoretisches Gustav-Gündisch-Gymnasium Heltau) übersetzt und vom EDP-Verlag herausgeben, hält auf Seite 1 die rumänische Nationalhymne und Nationalflagge bereit. Das übersetzte Lehrbuch für Geschichte Klasse 4 ist übervoll an grammatikalischen Fehlern und demonstriert Unzulänglichkeiten des Fachlehrplanes: Die Zeitgeschichte Rumäniens zwischen 1918 und der Jahrtausendwende wird ausgespart. Zweiter Weltkrieg, Nazizeit und Kommunismus spielen zwar eine Rolle in den Lehrplänen für die Klassen 7 und 8, doch werden Begriffe wie beispielsweise der Holocaust nur am Rande statt als Zielobjekt von Schule hinterfragenden Denkens erwähnt. Können Eltern sich trotzdem darauf verlassen, dass der Geschichtslehrer Kritik an der Legionärsbewegung in den Unterricht integriert? Welche Meinung entwickeln Viertklässler bezüglich der im Lehrbuch auf Seite 99 abgedruckten Frage nach der europäischen Identität ihres Heimatlandes, wenn ihnen der Antisemitismus nicht altersgerecht erklärt wird? Damit entspricht das streckenweise auch heute verzerrte Nationalbewusstsein keinem Zufall. Autoren nationalkommunistischer Propaganda empfiehlt eine dem Lehrbuch für Geschichte Klasse 4 beigefügte Liste von Zusatzlektüre: Petre Dumitru Popescu oder Dumitru Almaș.

Ein Fazit? Mehr denn je gilt es, die Öffnung persönlicher Horizonte nicht aus der Hand zu geben und Kindern zu vermitteln, was Staat und Schule nur bedingt zu leisten fähig sind. Universale Bildung und Erziehung entziehen sich politischen und erzieherischen Monopolhaltungen.