Lieber den Tod als Krieg

KZ-Überlebender Leopold Engleitner: der kleine Mann mit dem kaputten Rücken, der gegen Hitler aufstand

Leopold Engleitner auf der Frankfurter Buchmesse 2011. Fotos: Wikimedia Commons

Der mehrfach preisgekrönte Film „Leiter in der Löwengrube“ von Bernhard Rammerstorfer wurde am 10. Dezember im Kulturhaus „Friedrich Schiller“ gezeigt. Eine Einführung lieferte Prof. Dr. Mariana-Virginia Lăzărescu von der Fakultät für Fremdsprachen (Germanistik) an der Universität Bukarest. Organisatoren waren das Österreichische Kulturforum und die Österreich-Bibliothek.

Kerzenschein, Lebkuchenduft, Glühwein mit Zimt. Weihnachten, das Fest der Liebe und des Friedens naht. Doch nicht immer läutet Kerzenschein Frieden, Freude und feierliche Stimmung ein. Wie selbstverständlich sind diese Dinge? Wie zerbrechlich Frieden und Lebensglück sind, zeigt diese Weihnachtsgeschichte, die eigentlich keine ist. Denn sie beginnt am 4. April 1939 in Bad Ischl, Österreich. Und doch passt ihre Botschaft in die Vorweihnachtszeit... 


Heftiges Klopfen. „Aufmachen!“ tönt es gebieterisch an der Tür. Die jungen Leute, die im Kerzenschein zusammensitzen, erstarren. Zwei Männer, drei Frauen, brave Gesichter. Einer fasst sich tapfer ein Herz, versucht, möglichst arglos zu klingen: „Wer is’n do?“ „Gestapo!“ bellt es zurück.

Stiefel poltern in die Stube. Ein Papier wird auf den Tisch geknallt. Unterschreiben! Keiner der jungen Leute unterzeichnet. Wie Verbrecher werden sie daraufhin abgeführt. Nur die junge Frau mit dem Baby darf bleiben. Die nächsten Jahre soll Leopold Engleitner im gestreiften Anzug mit dem aufgenähten Dreieck, dem „lila Winkel“, verbringen. Doch das ist nicht das Schlimmste. Es folgen Schikanen, Prügel, Hunger, Schwerstarbeit im Steinbruch. Drei Konzentrationslager erlebte der Österreicher von 1939 bis 1943. Immer wieder wird ihm in dieser Zeit das Papier vorgelegt. Er hätte sich die Freiheit billig „erkaufen“ können – um den Preis seiner Seele.

Falsche Leiter  in die Freiheit

„Leiter in der Löwengrube“ heißt der Film, der Leopold Engleitners Schicksal als ältesten KZ-Überlebenden Nazi-Deutschlands schildert. Die Löwengrube steht für das Konzentrationslager. „Was ich brauchte, um aus der Löwengrube zu entkommen, war eine Leiter – doch nicht irgendeine“, betont der Österreicher. Die falsche Leiter war das Dokument, das er partout nicht hatte unterzeichnen wollen. Das keiner seiner Glaubensbrüder im Lager unterschrieb, auch dann nicht, als einer vor aller Augen erschossen wurde. Engleitner hätte mit dieser einen, einzigen Unterschrift die Freiheit erlangen können – wie alle Zeugen Jehovas. Sie waren die einzigen im KZ, denen man diese Chance bot.

An die 30.000 Zeugen Jehovas gab es 1939 in Deutschland. Man nannte sie abfällig „Bibelforscher“, „Bibelwürmer“ oder „Jordanschleichen“. Aus Sicht der Nazis waren sie eine pro-jüdische „ausländische“ pazifistische Gruppe. Ihr Verbrechen: Sie verweigerten den Gruß „Heil Hitler“, denn Heil könne nur von Gott kommen. Und sie verweigerten den Kriegsdienst sowie den Dienst in der Rüstungsindustrie. Darauf stand KZ - oder Todesstrafe.

Mission gegen das Vergessen

„Bist du bereit, zu sterben? Ich werde abdrücken, denn du bist ein hoffnungsloser Fall!“ brüllt der SS-Offizier. „Ich bin bereit“ sagt Leopold Engleitner. Er schließt die Augen in Erwartung des Schusses. Nichts geschieht. „Du bist zu blöd zum Sterben!“ bellt der Offizier.

„Wie bin ich in diese verzweifelte Situation geraten?“ fragt der alte Leopold Engleitner vor der laufenden Kamera. Drei Konzentrationslager hatte er überlebt – Buchenwald, Niederhagen und Ravensbrück - und seinen Lebensabend damit verbracht, seine Geschichte als Mahnung an die nächsten Generationen weiterzugeben. Denn erst1999 wurde diese der Öffentlichkeit bekannt, nachdem der Autor und Filmemacher Bernhard Rammerstorfer sein Leben in dem Buch und dem Dokumentarfilm „Nein statt Ja und Amen“ aufgezeichnet hatte. 2004 erschienen beide in englischer Fassung unter dem Titel „Unbroken Will“. Für Engleitner und Rammerstorfer folgten Vortragstouren durch die USA, nach der Übersetzung beider Werke ins Französische und Russische auch nach Frankreich und nach Russland. 150.000 Kilometer reiste der Zeitzeuge mit seinem Biografen und seiner Friedensbotschaft um die Welt – besuchte Schulen, Universitäten und Gedenkstätten.

Im November 2012 stellte er noch mit 107 Jahren den inzwischen mehrfach preisgekrönten Dokumentarfilm „Leiter in der Löwengrube“ in Los Angeles vor, der 2013 auf zwei Filmfestivals in Kalifornien und Porto Rico prämiert wurde. „Ich bin nicht darauf aus, berühmt zu sein“, sagt Engleitner darin. „Es ging mir nur darum, nach den Grundsätzen der Heiligen Schrift zu leben.“ Und: „Ich habe in meiner Zeit einige wichtige Lektionen gelernt. Aber die wichtigste ist, dafür einzustehen, was Recht ist. Nur, dafür braucht man manchmal Mut.“

Verlockendes Himmelreich

23. Juli 1905, Aigen-Voglhub bei Bad Ischl im Salzkammergut. Die Frau des Müllersgehilfen gebiert ihr erstes Kind. Die Familie war bitterarm. Als der kleine Leopold zur Schule kam, erinnert er sich, wie die Kinder alle antreten mussten, weil der Kaiser Franz-Joseph, den alle nur „Franzl“ nannten, sie sehen wollte. Ihm fielen sofort die vielen prächtigen Orden an dessen Brust auf, aber auch, dass ein fürchterliches Aufhebens um „diese eine Person“ gemacht wurde. Schon damals dachte er oft über die Ungerechtigkeiten des Lebens nach. Nicht nur, weil seine Familie arm war. Auch, weil er in der Schule wegen seines Rückenleidens, einer Skoliose, die ihm nicht erlaubte, gerade zu stehen, oft gehänselt wurde. Trotzdem tritt der Junge mit 13 Jahren in den landwirtschaftlichen Dienst, um Armut und Hunger zu entkommen. Geschwächt von der Spanischen Grippe, die ihn wochenlang ans Bett gefesselt hatte, war die Suche nach Arbeit nicht leicht gewesen. Die meisten Bauern entgegneten: Was soll ich mit einem Schwächling wie dir?

Der katholische Glaube seiner Eltern – die Mutter sehr fromm, der Vater eher liberal - spendete Leo keinen Trost. Eher verstörte ihn die Anbetung der vielen Heiligen. Bis er eines Tages an die Zeugen Jehovas geriet. Erst in ihren Lehren konnte er die Liebesbotschaft Gottes nachvollziehen. Die Chance des einzelnen, einfachen Menschen, einen Platz in einem friedlichen Himmelreich zu erwerben, schien ihm verlockend. 1932 ließ er sich als Zeuge Jehovas taufen - ein mutiger Schritt im damaligen, von religiöser Intoleranz geprägten, erzkatholischen Österreich.

Den inneren Frieden gefunden, drehte sich mit dieser Entscheidung dafür seine äußere Welt auf den Kopf: Der Pfarrer verbreitete die Nachricht von der Kanzel, die Leute im Dorf spuckten vor ihm aus. Trotzdem beginnt der junge Mann 1934 selbst zu predigen. Mit zunehmendem Einfluss der Nazis in Österreich drohten ihm auch von dieser Seite Schwierigkeiten. Zwischen 1934 und 1938 landete er mehrmals wegen seiner missionierenden Aktivitäten im Gefängnis.

Ernst wird die Lage 1938 mit dem Anschluss Österreichs an Hitler-Deutschland. Innerhalb weniger Tage werden an die 90.000 Gegner des Nazi-Regimes verhaftet. Von nun an pflegen die Zeugen Jehovas ihre Aktivitäten nur noch heimlich im Untergrund. Bibeln werden über die Schweizer Grenze geschmuggelt. Gottesdienste finden in vertrauten Gruppen im Dunkeln statt, bei Kerzenlicht...

Wie am 4. April 1939. Leopold Engleitner und drei seiner Glaubensbrüder werden verhaftet und nach Linz gebracht. Die erste Autofahrt seines Lebens kann Leopold unter diesen Umständen nicht genießen. Es folgen Verhöre, Druck, doch keiner ist bereit, dem Glauben abzuschwören. Sie werden in Konzentrationslager eingewiesen. Die drei Freunde finden dort den Tod. Leopold Engleitner landet am 5. Oktober 1939 im berüchtigten Lager Buchenwald. Am 9. Oktober 1939 hält man ihm die Waffe an die Schläfe: „Bist du bereit, zu sterben?“

Vom Lager zur Zwangsarbeit

Die Arbeit im Steinbruch fordert ihn bis an die Grenzen seiner Kraft. Doch wer nicht mehr arbeiten kann, wird erschossen. Die Zeugen Jehovas im Lager schreiben sich gegenseitig Bibelverse auf kleine Zettel. Jemandem gelingt es, eine Bibel ins Lager zu schmuggeln. Sie wird zerteilt und verteilt, Leopold versteckt seine Seiten in den Socken. In diesen Zeiten spendet nur der Glaube Trost! Am 7. März 1941 wird Leopold nach Niederhagen verlegt, im April 1943 nach Ravensbrück.

Die Zeit im KZ hat ihren Tribut gefordert: Aufgrund einer Misshandlung wurden die Hoden des jungen Mannes zerquetscht, er wird nie eine Familie gründen können. Der Hunger zehrt beständig an den Kräften. Nachdem am 8. November 1939 ein Attentat auf Hitler vereitelt wurde, ordnet dieser wütend einen dreitägigen Stopp der Verpflegung für alle KZ-Insassen an – und für Juden sechs Tage. Als Leopold nach drei Tagen endlich wieder eine Mahlzeit bekommt, kann er den bittenden Augen der jüdischen Mithäftlinge nicht widerstehen. Was schon für einen nicht genug ist, wird geteilt.

Am 15. Juli 1943 wird der junge Mann, der nur noch 28 Kilogramm wiegt, nach Hause entlassen - doch nicht in die Freiheit. Zwangsarbeit auf dem Bauernhof lautet das Urteil diesmal. Leopold hat Glück: Der Bauer ist ein Jugendfreund und zahlt ihm sogar einen kleinen Lohn, obwohl er nicht dazu verpflichtet ist. Auch seine Bibel darf er dort verstecken. Leopold Engleitner kommt schnell zu Kräften. Hier will er das Ende des Krieges abwarten, nimmt er sich vor.

Flucht in die Berge

August 1943. Leopold Engleitner bekommt einen Brief. Vorladung zur Musterung! Zuerst wegen seines Rückens für kampfunfähig erklärt, heißt es wenige Tage später, er sei tauglich für die Front. Den Einberufungsbefehl erhält er allerdings erst im April 1945 – kurz vor Ende des Krieges.

Leopold flieht in die Berge. Nach mehreren Nächten schlaflosen Kletterns erreicht er auf 4000 Metern eine Hütte. Erschöpft entfacht er ein Feuer und legt sich schlafen. Was der junge Mann erst später erfuhr: Auf seinen Fersen kletterte ein SS-Suchteam, geführt von einem ehemaligen Schulkameraden, der sich in den Bergen genauso gut auskannte wie er. Etwa 500 Meter von der Hütte entfernt, wo Leopold Zuflucht gefunden hatte, riet dieser den SS-Leuten, wegen des dichten Nebels umzukehren. Der Abstieg zur Hütte sei nachts zu gefährlich...

Leopold fällt in einen traumlosen Schlaf. Plötzlich weckt ihn ein höllischer Schmerz! Seine Jacke hatte Feuer gefangen - Brandblasen am ganzen Rücken. Unter heftigen Schmerzen schleicht der Verletzte zurück zur Farm, doch die Bäuerin warnt ängstlich, man suche ihn dort bereits. Bei seinen Eltern findet er schließlich im Heuschober Zuflucht. Die Mutter bringt ihm Milch für die Behandlung der Brandwunde. Dann entschloss sich Leopold, erneut in die Berge zu fliehen, um sich bis Kriegsende dort zu verstecken.

5. Mai 1945. Leopold Engleitner erwacht von lauten Motorengeräuschen. Von seinem Beobachterposten aus sieht er, wie die Allierten die Munitionslager der Nazis bombardieren. Er ist gerettet!
Der Krieg ist zu Ende. 9270 Zeugen Jehovas waren in den Konzentrationslagern der Nazis gelandet, 310 fanden den Tod durch Exekution. Eine systemische Vernichtung, wie im Fall der Juden, Roma und Sinti, wurde zwar nicht betrieben, doch provozierten Misshandlungen, Schwerstarbeit und Unterernährung oft ihren vorzeitigen Tod. Wieviele insgesamt ums Leben kamen, weiß niemand.

Leopold Engleitner starb 2013 mit 107 Jahren. Der kleine Mann mit dem kaputten Rückgrat hatte den Mut gehabt, Hitler zu konfrontieren, sagt Rammerstorfer. Und staunt: Nach all dem, was er durchgemacht hatte - „Leo hatte keine Bitterkeit.“