Lies mich, ich bin ein Rom!

Nur durch offene Dialoge kann Rassismus bekämpft werden

Das Interkulturelle Institut Temeswar ist im Dezember 20 geworden. Seit den 1990er Jahren führt Călin Rus (Mitte) mit seinem Team Projekte durch, um Vorurteile gegen Roma zu bekämpfen.
Foto: Zoltán Pázmány

Ein Buch sollte man nie nach seinem Umschlag beurteilen. Călin Rus hat in seiner langjährigen Laufbahn als Leiter des Interkulturellen Instituts Temeswar (IIT) oft das Problem angetroffen, dass weder die Roma-Minderheit noch die rumänische Mehrheitsbevölkerung über die vorhandenen Vorurteile hinwegschauen möchten und zu einem Dialog bereit sind. Stattdessen überwiegen die Vorurteile und die Angst vor dem Fremden. Roma bleiben die Bösewichte, die Rumänien im Westen schlecht dastehen lassen, die zwielichtige Geschäfte treiben, ungebildet und unerzogen sind. Gemeinnützige Organisationen versuchen seit über 20 Jahren die bestehenden Vorurteile abzubauen, und zwar durch Dialog. Denn nur zu oft würde man europaweit „Integration“ mit „Assimilation“ verwechseln. Kulturelle Eigenarten der Roma wollen viele nicht akzeptieren. Stattdessen gilt die Faustregel: Sie sollen sich an uns anpassen. Da wird auf Widerstand gestoßen, denn ihre Identität möchten die wenigsten aufgeben, auch wenn viele sich für diese schämen.

Viele Roma möchten ihre Herkunft eher für sich behalten. Das meint Fuşteac Raul, selber Angehöriger der Roma-Minderheit und Student. Er macht eine Ausbildung zum Sozialarbeiter und möchte nach seinem Abschluss mit armen Roma-Familien arbeiten, die vorwiegend auf dem Land leben. Er ist zu einem Dialog bereit. Darum nahm er auch an der Veranstaltung des IIT „Citeşte-mă, sunt Rom/ă“ (dt. Lies mich, ich bin ein Rom/eine Romafrau) teil.
Rund zehn Personen, die entweder selber Roma sind oder mit Roma gearbeitet haben, beteiligten sich an dem Projekt, das darauf ausgerichtet war, Gespräche miteinander statt übereinander zu fördern. Einen Nachmittag lang konnten Temeswarer einem der Freiwilligen Fragen darüber stellen, was es bedeutet, Roma zu sein, und womit sich Roma tagtäglich auseinandersetzen müssen. Die Veranstalter stellten die Freiwilligen als sogenannte „Lebendige Bücher“ vor. Die Teilnehmer konnten sich, wie in einer Bibliothek, einen Titel auswählen und für zwanzig Minuten ausleihen. Hinter dem Titel verbarg sich in diesem Fall kein herkömmliches Buch, sondern ein „lebendiges“, also einer der Freiwilligen, der bereit war, mit den Teilnehmern über sein Leben zu sprechen.

„Wenn du an meiner Stelle wärst“, lautete der ausgewählte Titel für  Raul Fuşteacs  Lebensgeschichte. Der junge Mann hat die soziale Ausgrenzung von Roma in Kindergärten erlebt. Er besuchte eine Bildungseinrichtung im Kreis Temesch/Timiş und musste dort feststellen, dass die Roma-Kinder von den anderen Kindern getrennt werden. Laut der Erzieherin sei dies auf Wunsch der Eltern passiert. Ihre Kinder sollten sich nicht mit Roma abgeben, gab die Erzieherin als Grund an. Sie selbst habe versucht, sich zu rechtfertigen, indem sie meinte, dass sie keine Rassistin sei. Einen Mittelweg würde sie aber nicht sehen. Sowohl über das Vorgehen der Eltern als auch der Erzieherin war Fuşteac entsetzt. Dieses Erlebnis habe seinen Entschluss gestärkt, Sozialarbeiter zu werden. Gegen diese Vorurteile möchte er vorgehen. Denn nicht alle Roma sind gleich. „Zu sagen, dass alle Roma Diebe sind, wäre genauso, als würde man alle Rumänen für Diebe halten“, meint der Student. „Ich persönlich kenne auch wohlhabende Roma und die sind gegen das Stehlen.“

Für das Negativbild seien manche Roma verantwortlich, die tatsächlich kriminell sind. Aufgrund der Unwissenheit der Menschen wird dieses Bild allerdings um das zehnfache aufgebauscht. Diejenigen, die kriminell sind, seien oft das Ergebnis ihres Umfeldes, findet Fuşteac. Die soziale Ausgrenzung und die Armut treibt sie in die Kriminalität.
Als Jugendlicher wollte Fuşteac Profi-Fußballer werden. Eine schwere Knieverletzung machte seinen Traum zunichte. Er ist zur Hälfte Rom. Seine Mutter ist rumänischer Abstammung. Seine Freunde hätten ihn schnell akzeptiert. Dass sein Vater Rom ist, verheimlicht er in der Regel nicht. Er schämt sich für seine Herkunft nicht. Er ist eine Ausnahme. Das meint auch Letiţia Mark. Die Roma-Aktivistin leitet in Temeswar/Timişoara einen Verein, der sich für die Rechte der Romafrauen starkmacht. Laut Mark würden sehr viele Menschen, die Teil der Mittelschicht sind, verschweigen, dass sie Roma sind. Darum kennt die Mehrheitsbevölkerung auch sehr wenige positive Beispiele, die das Allgemeinbild widerlegen könnten. Mark verweist auch immer wieder auf die Geschichte der Roma. Bis 1855 waren die meisten Zigeuner Leibeigene. Nur zu oft wird dieser geschichtliche Hintergrund ignoriert. Dabei würde er viel über die gegenwärtigen Probleme der Minderheit in Rumänien aussagen. Die Problematik gleiche derjenigen der Afroamerikaner aus den Vereinigten Staaten.

Rassismus bleibt in Rumänien ein aktuelles Problem. Ob am Arbeitsplatz, in der Schule oder im Alltag: Roma werden von Mitarbeitern und Mitbürgern oft diskriminiert. Nur durch offene Dialoge und Bildung könnte man die Roma-Problematik lösen. Der inzwischen pensionierte Beamte Jacques Chevalier hat in den 1990er-Jahren viel mit Roma gearbeitet. Er war für die EU zuständig. Nur durch gegenseitige Toleranz und durch die Bereitschaft, sich näherzukommen und kennenzulernen, können Vorurteile gegenüber den Roma abgebaut werden.