„Mein Leben mit Hanna“

Bekenntnis einer außergewöhnlichen Liebe

Die Musikwissenschaftlerin und Komponistin Saviana Diamandi hütet Fotos und Dokumente als Erinnerung an ihr geliebtes deutsches Kindermädchen wie einen kostbaren Schatz.

Die kleine Saviana (rechts) im deutschen Kindergarten

Ein verblasstes Schwarzweißfoto zeigt Saviana (Mitte) mit ihrer Hanna (rechts) auf dem Schulweg.

Erwartungsvoll steigt die kleine Saviana die Treppen zur Mansarde hoch. Die Zöpfe ordentlich geflochten, das frischgebügelte weiße Rüschenkleid zart nach Mottenkugeln duftend. Gleich würde ihre geliebte Hanna mit ausgebreiteten Armen im Türrahmen stehen und sie würden - wie jeden Freitag - einen wunderbaren gemeinsamen Nachmittag verbringen. Das Schönste aber an diesen Besuchen war, dass die Kleine am Abend mit Hanna in ihrem riesigen Bett schlafen durfte. So verbrachten sie auch den freien Freitag stets zusammen, in der Mansarde des Hauses Opriţescu, wo die deutsche Gouvernante wohnte. „Hanna war für mich wie die Luft zum atmen“, bekennt die Komponistin und Musikwissenschaftlerin Saviana Diamandi mit gerührter Miene.

Wie hingegossen lehnt sie in dem roten Fauteuil in ihrer Bukarester Altbauvilla. Rundum  edle antike Möbel, ein Wandteppich, eine grauweiße Katze heischt schnurrend nach Aufmerksamkeit. Während draußen der Regen aus  dunklen Wolken auf den grauen Asphalt prasselt, erzählt sie in perfektem Deutsch, als wäre es ihre Muttersprache – und irgendwie ist es dies ja auch – die bewegende Geschichte einer lebenslangen Freundschaft.  Das schwere Parfüm längst vergangener Tage, eines Bukarests der Nachkriegszeit, senkt sich über den Raum. Doch der Stimme der Erzählerin entspringt eine Brise von Liebe und Freude, wenn sie von „ihrer Hanna“ spricht. Sie schwebt so spürbar im Raum, als wäre der Geist dieser wunderbaren Frau, die  1924  Kriegswirren aus dem deutschen Pforzheim nach Rumänien verschlagen wurde, und die trotz ihres schweren Schicksals nur Liebe und Güte in die Herzen der Menschen säte, gerade zugegen.

Perle mit Familienanschluss

„Es war meine Mutter, die den Wunsch hatte, dass wir eine deutsche Erziehung genießen sollten“, hebt Saviana Diamandi an. Ihre Eltern waren beide Mediziner, der Vater Gynäkologe mit eigener Praxis, die Mutter Zahnärztin in der Poliklinik. „Eine extrem willensstarke Frau, und stets positiv gesinnt“, erinnert sie sich. In früher Kindheit war die Mutter an Wirbelsäulentuberkulose erkrankt – ein Wunder nicht nur, dass sie überlebte, sondern trotz striktem Gebärverbot zwei Kindern das Leben schenkte. Weil es in Rumänien in gutbürgerlichen Häusern Mode war, nach Vorbild der Adligen Erzieherinnen aus Deutschland, Frankreich oder England einzustellen, beschloss auch die vielbeschäftigte Ärztin, nach der Geburt des ersten Sohnes eine Gouvernante anzuheuern.

Nach mehreren Fehlgriffen kam schließlich Ottilie Tschitschnig aus Wien ins Haus der Opriţescus. „Otta war energisch, machte lange Spaziergänge, las sehr viel und war sich für keine Arbeit zu schade“, erinnert sich Saviana Diamandi. „Oft half sie meinem Vater sogar als Assistentin in der Praxis“. Dabei hatte sie die Mutter zuerst gar nicht anstellen wollen, weil ihr deren elegante Erscheinung  Konkurrenz zu machen drohte. Schnell eroberte sich Otta jedoch einen Platz im Herzen der ganzen Familie und der Junge hing sehr an seinem Kindermädchen. „So eng war das Verhältnis, dass Otta sich sogar mit den heimlich gehorteten Goldmünzen der Familie auf dem Dachboden versteckte, als die Kommunisten kamen, um das Haus nach dem verbotenen Metall zu durchsuchen.“ Obwohl man nichts fand und die Zahnärztin gar nicht mit Gold arbeitete, hatte man sie damals – wie viele andere Berufskollegen –  präventiv für einen Monat ins Gefängnis gesteckt.

Von der Aushilfskraft zur Ersatzmutter

Sieben Jahre später, 1954, gebar die Ärztin erneut unter dramatischen Umständen ein Kind. Das Mädchen, eine Frühgeburt, raubte ihr die letzten Kräfte. „Wenn ich sterbe, dann soll es wie ich Saviana heißen“, bestimmte sie – und überlebte. Otta hatte nun zwei Kinder zu betreuen. Die ehrgeizige Ärztin, schon nach wenigen Monaten wieder im Krankenhaus, war von dem Schreibaby jedoch bald überfordert. Nächtelang musste sie die kleine Saviana in den Schlaf wiegen. Als Otta dann auch noch einen Monat Urlaub verlangte, musste eine Vertretung ins Haus. Die Wahl fiel auf Ottas Freundin Hanna. Obwohl sie nicht sehr gut Rumänisch sprach, lebte sich Hanna schnell im Haus ein. Im Gegensatz zu der distanzierten Diplomatenfamilie, bei der sie angestellt war, fühlte sich die 45-Jährige in der warmherzigen Atmosphäre der Opri]escus auf Anhieb wohl. Als Otta vom Urlaub zurückkehrte, fiel der Abschied dafür umso schwerer.

Eines Nachts erreichte den Doktor plötzlich ein Anruf. Es war Hannas Arbeitgeber. Sie hätte einen schweren Asthmaanfall und könne kaum atmen. „Mein Vater fuhr hin und holte sie zu uns“, berichtet Saviana Diamandi. „Als sie sich erholt hatte, nahm sie meine Mutter ernsthaft ins Gebet: ‚Hanna, sind Sie nicht deshalb krank geworden, weil Sie bei uns bleiben wollen?‘ Die Gute hatte nicht nur ins Schwarze getroffen, sondern auch eine Lösung parat: Otta solle sich nur um Nicky kümmern, während sie für Saviana zuständig sein würde. „So begann mein Leben mit Hanna“, lächelt die rotblonde Frau im Lehnstuhl warm.

Insel der Klarheit und Lebensfreude

„Konkurrenz zwischen Mutter und Hanna gab es nie. Hanna war selbst Waise und hatte uns beigebracht, die Mutter sei das Wichtigste auf der Welt.“  Nachdenklich fügt sie hinzu: „Von ihr lernte die ganze Familie.“ Nicht nur, dass sie die Frau Doktor einfühlsam darauf hinwies, sich neue Schuhe zu kaufen, weil die alten nicht mehr präsentabel seien. Nicht nur, dass sie dem Hausherrn im Ärztekittel, in der Tasche und sonst überall kleine Zettelchen mit der Aufschrift „Kaffee“ versteckte, weil er trotz mehrfacher Aufforderung vergessen hatte, Kaffeegeld zu hinterlassen – der Vater erzählte dies später überall als Anekdote herum. Auch beide Kinder liebten die deutsche Erzieherin heiß und innig. „Mein Zuhause war eine Insel der Klarheit – in einer Zeit, in der im Land alles Lüge war“, resümiert  Saviana Diamandis. 

„Von Hanna hab ich auch die Freude am Singen, sie sang ständig und überall“, freut sich die Musikerin. Am schönsten aber waren die Geburtstage: Mal war das Kinderzimmer voller rosa Luftballons, mal hatte ihr die Gouvernante ein Hänsel- und Gretel-Häuschen aus Pappe gebastelt oder Zeitschriften aus der DDR bestellt: „Fröhlich sein und Singen“ und „Deine Gesundheit“. „Später durfte ich sogar ihre Erziehungsbücher lesen“, bekennt  sie. Die schönste Überraschung aber ließ sich Hanna zu ihrem Schulanfang einfallen, als sie ihr aus einer alten Puppe – mit neuen Zöpfen vom Frisör und einer selbstgenähten Uniform – ein „richtiges Schulkind“ gebastelt hatte!

Schwerer Weg aus Pforzheim

An den langen Freitagabenden erfuhr das heranwachsende Mädchen nach und nach alles über ihr geliebtes Kindermädchen. Auch die traurige Geschichte, die sie 1924  als junges Mädchen nach Rumänien führte: Johanna Friederike Mayer, die Tochter eines Goldschmieds in Pforzheim. Ihr Vater starb sieben Monate vor ihrer Geburt. Die Mutter heiratete daraufhin einen Gärtner, an dem das Mädchen sehr hing. Doch als Hanna sieben Jahre alt war, starb auch die Mutter bei der Geburt des zweiten Kindes. So kam die Waise in die Familie des Bruders ihres Stiefvaters, einem Zahntechniker, wo sie mit ihrer Cousine gemeinsam aufwuchs. Dieser verheiratete sich wieder und die neue Stiefmutter machte den Mädchen das Leben ziemlich schwer. Hanna sollte ebenfalls Zahntechnikerin lernen, doch der Krieg kam dazwischen und zwang sie, sich schnell eine Anstellung als Kindermädchen zu suchen.

Während dieser Zeit traf sie eine ehemalige Lehrerin, die ihr von einer freien Stelle in Neumarkt/Târgu Mures erzählte, mit guter Bezahlung und Familienanschluss. So kam Hanna in die reiche Familie der Möbelfabrikanten Szekely und Réthy. Die Kinder hatten sie von Anfang an lieb – im Zeugnis wurde sie in den höchsten Tönen gelobt, erzählt Frau Diamandis stolz. Nachdem die Kinder groß waren, schlug ihr Arbeitgeber vor, Hanna solle heiraten und vermittelte ihr einen Mann in Schäßburg/Sighişoara. Doch das Glück war nicht von Dauer. Der Mann stellte sich als nervenkrank heraus, die Ehe endete mit Scheidung. Mit fast 40 Jahren stand sie wieder vor dem Nichts. Schließlich erhielt sie eine Stelle als Kindermädchen bei einer Fabrikantenfamilie in Bukarest. Als die Fabrik im Krieg nach Rosenau/Râşnov umziehen musste, war sie glücklich. „Sie liebte die Wälder und Berge, weil sie sie an Pforzheim, an den Schwarzwald, erinnerten“, erklärt Saviana Diamandi. „Deshalb fuhr sie auch so gerne mit uns Kindern nach Sinaia.  Immer nachdem wir vom Urlaub am Meer mit Mutter zurückkamen – Hanna durfte da nicht mit, denn damals dachte man , Seeluft sei schlecht für Asthmatiker – fuhren wir mit ihr alleine in die Berge“, erinnert sich die Musikerin wehmütig.

Lebenslange Treue

Hanna blieb in der Familie, auch als Saviana längst schon groß war. Während der Gymnasialzeit, in der das Mädchen zwei Schulen parallel absolvierte – die Musikschule mit Klavierunterricht und ein Lyzeum mit Schwerpunkt auf Mathematik und Physik – hielt sie ihr den Rücken frei. Turnen, Ballett, Besuch des Hauslehrers, nach der Schule schnell essen und dann zum Englischunterricht, so ähnlich sah das Programm der Schülerin damals aus. Obwohl Hanna sie auch noch während des Studiums mit Frühstück, gebügelter Wäsche und ähnlichen Liebesdiensten verwöhnte, lernte das Mädchen sehr wohl, wie man selbst einen Haushalt führt.

Mit 81 Jahren – Saviana war längst verheiratet und hatte selbst Kinder – starb  ihre geliebte Hanna. „Erst jetzt, an ihrem Grab, erzählte mir meine Mutter eine bewegende  Geschichte“, lächelt Frau  Diamandi und wischt sich heimlich eine Träne aus dem Augenwinkel: Die Diplomatenfamilie, bei der Hanna  gearbeitet hatte, bevor sie zu den Opri]escus kam, hatte sie eines Tages einbestellt. Man bot ihr an, mit nach Argentinien zu kommen, wo der Mann als Botschafter tätig war. „Obwohl Mutter sagte, sie könne ruhig hingehen, herrschte im Haus ein seltsamer Druck“, erinnert sich Saviana Diamandi.  Als Hanna vom Gespräch zurückkam, fragte die Mutter, wie es gewesen sei. Da brach es aus ihr heraus. „Ich hab der Dame gesagt, von  Frau Doktor Opriţescu gehe ich erst weg, wenn ich ins Grab muss!“

Da ist sie wieder, diese spürbare Wolke der Liebe... Sie begleitet mich noch, als ich gedankenverloren auf der regennassen Straße durch das windgepeitschte Bukarest laufe. Vorbei an den alten Villen, an Hochhäusern und  Supermärkten, an den fremden Gesichtern in der anonymen Stadt. Wie wenigen Menschen ist es  doch gegeben, Spuren in den Herzen der Menschen zu hinterlassen, egal wohin sie gehen, denke ich. Hanna, die unscheinbare deutsche Waise, die  es alleine in die Fremde verschlug, hatte diese seltene, kostbare Gabe.