Mihaela Hariton hilft autistischen Kindern und trainiert Tutoren

Wie angewandte Verhaltensanalyse das Leben zahlreicher Familien leichter macht

Bereits in ihrer Kindheit war Mihaela Hariton von zwischenmenschlichen Beziehungen und vom Verhalten der Menschen fasziniert. Einerseits ergaben sich für sie aus ihren Beobachtungen stets zahlreiche Fragestellungen, andererseits trieben sie interessante Personen und Persönlichkeiten ständig voran, die Verhaltensweise der Menschen zu erforschen, um letzten Endes jedem Einzelnen auf individuelle Art und Weise entgegenzukommen. Zur gleichen Zeit entwickelte sich auch das Bedürfnis, einen echten Beitrag im Leben anderer zu bringen und ein aufrichtiges Lächeln in deren Gesicht zu sehen. Nach mehreren Erfahrungen in unterschiedlichen Bereichen widmet sich Mihaela behinderten Kindern und steigt überaus aktiv in den Kampf gegen den Autismus ein, zuerst als Tutorin, danach als Koordinatorin und derzeit als ABA-Trainerin (Applied Behavioral Analysis – deutsch: angewandte Verhaltensanalyse). 

Seit rund fünf Jahren unterstützt sie ihre Kollegen innerhalb des Autistenzentrums „Horia Moțoi“ (und nicht nur), um maßgeschneiderte Lehrpläne für die kleinen Patienten aufzustellen. Außerdem organisiert sie Kurse und Vorlesungen, um auch anderen Zentren und interessierten Personen beizustehen.

Erste Berührung mit Autismus

Als Idealistin erzogen, versucht Mihaela schon während ihres Studiums der Kommunikation und Public Relations einen Beitrag zu leisten und bedürftigen Kindern zu helfen. Das damals neue Betreuungszentrum für autistische Kinder stellte sie als Tutorin für einen ihrer Spezialfälle ein. Ein ganzes Jahr lang stand sie diesem Kind bei, half ihm bei den Hausaufgaben und insbe-sondere dabei, die Welt zu erforschen. Vor ihrer Abschlussprüfung musste sie jedoch ihre Tätigkeit aufgeben – nicht unbedingt, weil diese zeitraubend war, sondern weil sie emotionell schwer zu  ertragen  war. Denn ihre Tätigkeit betrachtete Mihaela nicht wie ein Spiel, bei dem sie einfach nochmal würfeln darf, sondern als nachhaltige seelische und emotionale Bindung, auf die man schrittweise und mit viel Mitgefühl die Zukunft eines Kindes aufbauen soll.

Auf der Suche nach dem Lebenszweck

Als junge Absolventin übernimmt Mihaela mehrere Jobs in ihrem Ausbildungsbereich und schafft es, den Beginn einer erfolgreichen Karriere aufzubauen: als intelligente, gutaussehende Frau mit tiefgehenden Psychologiekenntnissen und Fingerspitzengefühl für menschliches Verhalten und die menschliche Persönlichkeit scheint sie es im „Rampenlicht der Public Relations“ zunächst leicht zu haben. Innerlich aber kämpft sie mit dem berufsbedingten Lächeln und den oberflächlichen Beziehungen ihres Arbeitsbereichs. Glücklicherweise, behauptet Michaela immer lächelnd, kam 2008 die Krise und sie musste ihren Tätigkeitsbereich ändern. Sie konnte nun ihrem inneren Drang nach tiefgründigen Gesprächen, Kultur, Phiolosophie und insbesondere einer gemeinnützlichen Arbeit nachgehen, bei der sie ihr wahres Ich zum Strahlen bringen kann. In einer freiwilligen Zusammenarbeit mit dem Kulturportal Liternet.ro schreibt sie zahlreiche Beiträge zu Theaterstücken, Filmkritiken, kulturellen Aspekten, aber auch ihre eigene Weltanschaung in der suggestiv betitelten Sektion „Der Weg nach Oz“ – denn genauso wie im Fall der Hauptperson dieser Geschichte, Dorothy, versteht sie das Leben als Erkundungsweg zur Selbstentwicklung. Unter dem Vorwand des Journalismus darf sie interessante Personen kennenlernen und steigt noch tiefer in die menschliche Psyche ein. Als ihr erstes Theaterstück „Pe mâine“ (Auf Morgen) für das Festival Neutextbörse Dramafest in Neumarkt/Târgu Mureș ausgewählt und danach auch im Radio übertragen wird, scheint ihr schriftstellerischer Zukunftsweg vorgepflastert zu sein.

Zurück zu den Kindern

So erfolgreich und befriedigend ihre freiwillige schriftstellerische Tätigkeit zu sein scheint, muss Mihaela aber auch für ihren Unterhalt sorgen. Im Jahr 2010 nimmt sie wieder eine Stelle als Tutorin im derzeit bereits landesweit bekannten Autisten-Betreuungszentrum an. Der Hintergedanke dabei war, über diese Krankheit „von innen her“ zu schreiben, wobei ihr jedoch nach kurzer Zeit klar wird, dass die Tätigkeit mit und für die Kinder ihre Zukunft darstellt. Die neun Beiträge zum Thema Autismus, die sie im Kulturportal liternet.ro unter dem Namen „Autismul, din interior“ (Autismus, von innen betrachtet) veröffentlicht, geben eine feinfühlige und besonders sensible Einsicht in die Welt autistischer Kinder wieder, auf Grund zahlreicher persönlicher Geschichten und konkreter Beispiele aus Familien.

Die früher in der Geschäftswelt gesammelten Erfahrungen erlauben ihr, in relativ kurzer Zeit als Koordinatorin der Tutoren befördert zu werden, wobei sie gleichzeitig ihrer Ausbildung im Bereich der angewandten Verhaltensanalyse (ABA) nachgeht. 

Interessant scheint ihr nicht nur, die Kinder zu betreuen, sondern auch ihre Tutoren zu coachen. Mihaela beginnt, individuelle Entwicklungspläne für ihre Kollegen aufzustellen und darf ab 2018 für diese als ABA-Trainerin agieren. Dabei setzt sie nicht so sehr auf die theoretische Seite, sondern versucht, jede einzelne Situation praktisch zu erkunden und die beste Eingriffsvariante auszuwählen. Denn jeder Fall ist besonders, jedes Kind ist einzigartig und braucht seine eigene Lösung. Oftmals beschreibt sie ihre Tätigkeit wie die eines Kochs (obwohl sie sich mit ihren Kochkünsten nicht rühmt): man muss Zutaten aus unterschiedlichen Disziplinen herholen und situationsabhängig einsetzen, wobei das Endergebniss niemals dasselbe sein wird – genau wie in Kochrezepten, in denen zwar die Zutaten angeführt werden, doch der Koch die Mengen abschätzen und eventuell noch Gewürze beifügen muss.

Beziehung zu den Eltern

Größte Aufmerksamkeit schenkt Mihaela der Beziehung zu den Eltern ihrer kleinen Patienten, denn deren Mitwirken ist essenziell. Eigene Kinder hat sie keine, aber sie hat verstanden, dass die Perspektive der Eltern komplett anders ist als diejenige des Betreuers. Die Eltern ihrer Patienten sind oftmals alleinerziehend,  meist haben sie wenig Unterstützung aus dem eigenen Familien- und Freundeskreis und häufig kämpfen sie mit sich selbst, um die Behinderung des eigenen Kindes zu akzeptieren. Hinzu kommt natürlich auch die finanzielle Seite, denn es ist nicht einfach und auch nicht billig, ein autistisches Kind zu pflegen. 

Viele der Kinder, die Mihaelas Zentrum besuchen, stammen nicht aus Bukarest: die Eltern, normalerweise die Mutter, ist in die Hauptstadt gezogen, weil es hier viel bessere Möglichkeiten für ihr Kind gibt. Und nach einem schweren Arbeitstag müssen diese Eltern auch weiterhin mit ihrem Kind arbeiten, um die gewünschten Ergebnisse zu erhalten. Die beste Unterstützung, die sie den Eltern anbieten kann, ist zuhören und ihnen, wenn möglich, ein bisschen Zeit für sich selbst zu geben.

Zukunftspläne

An eigene Kinder denkt Mihaela derzeit noch nicht. Ihre Energie widmet sie ihrem Mann, der ebenfalls Betreuer eines autistischen Kindes ist, und ihren kleinen Patienten. Und genau um die geht es, wenn Mihaela über ihre Zukunftsprojekte spricht. Derzeit arbeitet sie an einer großen Datenbank für ihre Tutoren und Koordinatoren, die zahlreiche Informationen, Anweisungen und Beispiele zu ihrer Tätigkeit bieten und ihnen die Arbeit leichter machen soll. Somit sollten ihre Tutoren ständig mit den letzten Erkenntnissen und Entwicklungen im Bereich auf dem Laufenden sein und ihre gesamte Energie ihrer Tätigkei widmen. Es wird die erste derartige Datenbank in Rumänien sein - im Moment aber nur für die eigenen Mitarbeiter gedacht.

In einem nächsten Schritt plant die erfahrene ABA-Trainerin, die gebündelten Informationen in Schulungen und Präsentationen für andere Zentren, aber auch für Behörden anzubieten, denn Verhaltensanalysen können in jeden Bereich angewandt werden und nützlich sein. So zum Beispiel könnten Lehrer viel leichter bestimmte Verhaltensstörungen erkennen, gleichzeitig auch deren mögliche Auswirkungen verstehen sowie die entsprechenden Schritte einleiten, um auf jedes Kind besser eingehen zu können. Schulinspektorate und weitere Entscheidungsträger im Bildungsprozess würden durch derartige Schulungen ein besseres Verständnis für die unterschiedlichen Belange der Schüler (insbesondere der bedürftigen) erhalten und hoffentlich auf diese auch flexibler und angepasster eingehen. Im weiteren Sinne sind Verhaltensanalysen eigentlich in jedem Unternehmen und überall dort, wo Menschen zusammenkommen, nützlich, denn jeder von uns trägt seine eigenen Wunden in sich. Und wenn sie noch zwischendurch Zeit hätte, gesteht Mihaela, würde sie gerne auch das Schreiben wieder aufnehmen…


Autismus in Rumänien

Laut Statistiken der Weltgesundheitsorganisation für das Jahr 2022 wird in Rumänien jede 7,5 Stunden ein autistisches Kind geboren. Auch die weltweiten Statistiken der Webseite worldpopulationreview.com geben für Rumänien ein autistisches Kind auf 80 Neugeburten an, deutlich höher als der weltweite Durchschnitt von einem Autisten auf 100 Neugeburten (im Vergleich: Katar zählt einen Autisten bei 64 Neugeburten, Frankreich einen bei 144 Neugeburten). Dies sind aber nur die offiziellen Daten.  

Zahlreiche Familien in Rumänien würden derartige Behinderungen eher verschweigen, erklären Spezialisten wie Alina Munteanu, die Mitgründerin des Therapiezentrums für Autismus ASPERA. Ihren Schätzungen und Recherchen nach gibt es in Rumänien ein autistisches Kind auf 54 Neugeburten. Insgesamt leiden hierzulande rund 560.000 Personen an Autismus. Um derartige Behinderungen zu behandeln, seien tägliche Therapien im Wert von 1500-2500 Euro notwendig, wobei die staatliche Unterstützung kaum 10 Prozent abdeckt – der Rest ist von den Eltern vorzulegen, sei es aus Eigenmitteln oder über Sponsoren.


Das Autismuszentrum „Horia Moțoi“...

...wurde im Jahr 2004 als erste Behandlungsstelle für autistische Kinder in Rumänien eröffnet. Auslöser dafür war Radu Nedescu, der Sohn der Gründerin, der mit Autismus diagnostiziert wurde und für den es damals keine adäquate Therapie gab. Mit viel Mühe und Energie, aber auch mit Knowhow aus Großbritannien, konnte Cristina Nedescu ihren Sohn behandeln und für das Leben vorbereiten. Über Radu wurde im Laufe der Zeit viel geschrieben – er gilt derzeit als erstes Kind in Rumänien, das den Autismus mit Hilfe des ABA-Systems (Applied Behavioral Analysis – deutsch: angewandte Verhaltensanalyse) überwunden hat. Seine erste Gedichtesammlung hat er in der elften Klasse veröffentlicht. Derzeit studiert er Philosophie in Belgien. 
Für Spenden und Sponsoring wird herzlichst gedankt:

Kontoinhaber: A.A.C.A.R. Horia Motoi
Bank: ING BANK N.V. Amsterdam – Zweigniederlassung Bukarest
IBAN: RO39 INGB 0000 9999 0896 3688