Mit Geißelschnalzen und Geschrei – Hirräii!

Urzelnlauf oder „Fuga lolelor“: sächsischer Brauch, von Rumänen wiederbelebt und weitergeführt

Urzelnlauf in Agnetheln: Urzel mit Rätsche und Krapfen-Quetsche Fotos: George Dumitriu

Gruppenfoto vor der Kirchenburg Agnetheln

Der Bär als Zunftzeichen der Kürschner

Urzeldame Doris Hutter

Uwe Boghean in Großschenk fertigt Urzelmasken aus Drahtgeflecht: Mit den Fingern werden Nase, Wangen und Augenbrauen reingedrückt.

Leise knarrt das Tor, als das Mädchen in die Nacht hinausschleicht, vor sich das Lager der Feinde. Seit Wochen ist die Kirchenburg von Agnetheln umzingelt, die Verschanzten sind verzweifelt, die Vorräte längst aufgebraucht. Ursula nimmt ihren Mut zusammen -  dann rennt sie los: „Hirräii! Hirräii!“  Die zottelige, schwarze Gestalt mit furchterregender Fratze, Fell und Hörnern  knallt beherzt mit der Geißel zwischen die Zelte. Die schlaftrunkenen Türken packt das nackte Entsetzen: Das kann nur der Leibhaftige sein!

Agnetheln, 29. Januar 2017: Die Straße, die zum Stadtzentrum führt, ist voller solch dunkler Gestalten: Hemd, Hose und Tuch mit schwarzen Filzzotteln besetzt. Ein bodenlanger Flachszopf. Eine riesige Kuhschelle, die mit jedem Schritt klappert. In der einen Hand eine kunstvoll geflochtene  lederne Geißel, die andere streckt Kindern die Quetsche hin, in der Krapfen stecken. Das Beste aber ist die Maske: Hauptsache furchterregend! Eine Fratze, umrahmt vom Fell eines wilden Tieres, mit Schwanz, Pfötchen, manchmal auch Kopf. Und obwohl Hasen oder Marder keine Hörner haben, sind solche oft vorhanden. Peitschen knallen, Rätschen schnarren ohrenbetäubend zum unermüdlichen Schellen. Dann zerreisst ein kraftvolles „Hirräii!“  die Luft: Fort mit dem Winter! Weg mit der Kälte! Ab mit euch bösen Geistern!

Urzeln als Beschützer der Zünfte

Die Gestalten, die sich zum traditionellen Urzelnlauf, rumänisch „Fuga lolelor“ durch die Stadt versammelt haben - hat sie die tapfere Ursula inspiriert?  „Es ist nur eine Legende aus dem finstersten Mittelalter“, schmunzelt der evangelische Pfarrer, Reinhardt Boltres, der die furchterregenden Gestalten später im Pfarrhaus hinter der Kirchenburg bewirtet. Historisch ist der ursprünglich sächsische Brauch, der heute von Rumänen weitergepflegt wird, mit dem Zunftwesen in Verbindung zu bringen: 1689 wird der Mummenschanz der Zünfte in Agnetheln erstmals erwähnt, wobei die Urzeln die Zunftlade beschützen, die vom alten auf den neu gewählten Zunftmeister in einer feierlichen Parade übergeben wurde. Durch das Forttragen der Symbolfiguren der Zünfte in Form eines Umzugs – der Reifenschwinger steht dabei für die Fassbinder, das Rössel mit dem kleinwüchsigen Reiter und dem Mummerl für die Schneider, die Tannenzweigkrone mit ausgestopften Füchsen und Mardern sowie der Bär mit seinem fellbekleideten Führer für die Kürschner - ist die Erinnerung an diesen Zunftbrauch erhalten geblieben. Es ist zwar ein weltlicher Brauch, doch auch in der Kirchenburg spielten die Zünfte eine wichtige Rolle,  so der Pfarrer. Im Belagerungsfall mussten sie die Wehrtürme verteidigen und in Friedenszeiten instandhalten. Deshalb heißen die vier Türme in Agnetheln Fassbinderturm, Schusterturm, Schneiderturm und Schmiedeturm. In der Kirche werden noch die alten Zunftfahnen aufbewahrt und an Hochfesten an der Empore ausgehängt. Mittlerweile ist aus der Zünfteparade ein Karnevalsbrauch geworden, der auch an anderen Orten im Harbachtal praktiziert wird. Aber auch der weltweit älteste Faschingszug in Nürnberg, seit 1397 urkundlich belegt, der als Wurzel des Fastnachtsbrauchs überhaupt gilt , geht auf die Zünfte zurück.

Narrengericht und Kostümparade auch in Großschenk

Einen Tag vor dem Umzug in Agnetheln liefen die Urzeln – erstmals seit 25 Jahren – auch in Großschenk/Cincu wieder. Organisiert von einem Sachsen und einem eingewanderten Deutschen, Michael Gottschling und Martin Mertensacker, versetzten etwa 50 Zottelgestalten den Ort in Ausnahmezustand. Ganze Familien liefen kostümiert in der Parade mit, die ein zum Festwagen umdekorierter Traktor anführte. Von diesem aus wurde das Narrengericht abgehalten, erzählt Costică Boghean, der Burgführer von Großschenk. Dabei erinnerte man die Leute an Fehler, Missgeschicke und Peinlichkeiten, die Wochen vorher unter strengster Geheimhaltung gesammelt und in Gedichtform lustig verpackt werden. Treffen kann es jeden! War es früher die dicke Tante, die im Badebottich stecken blieb, so dass man die Männer von der Straße zu Hilfe rufen musste, sind es heute die Gemeindeangestellten, die wegen Parteistreitereien verulkt werden. „Noch geht das recht schüchtern vonstatten“, schmunzelt Bogheans Tochter Brigitte. „Die Rumänen haben noch Angst, es könnte doch jemand übel nehmen.“

Auf dem Platz vor dem Kulturhaus versammelt man sich, um auf Gäste aus Deutschland zu warten: die Urzelzunft aus Sachsenheim (Baden-Württemberg), von Hermannstadt/Sibiu nach Agnetheln unterwegs, soll auch hier Station machen. Ein Kleinkind auf dem Arm der Mutter streichelt in der Menge entzückt den Marderkopf, der von der Maske des Vordermanns baumelt. Brigittes Sohn, der siebenjährige Horsti, zeigt uns stolz seine Maske. Sein Onkel Uwe, den wir später in der Werkstatt besuchen, hat sie und die anderen Masken im Dorf gefertigt. Auch Kostüme nähte er für einige aus Altkleidern - „andere fanden sie auf den Dachböden ihrer Häuser, zurückgelassen von den Sachsen“, erzählt Uwe Boghean. Horstis Kostüm geht auf das Konto der Großmutter: Die Sächsin Marietta Boghean kann sich selbst noch gut an den Urzelnlauf von früher erinnern. „Damals durften wir Kinder nicht auf die Gasse, wegen der Peitsche. Außerdem hatten wir Angst vor den Urzeln!“,  gesteht sie. „Wir haben ihnen die Krapfen nur aus dem Fenster gereicht.“ Anders als in Agnetheln verteilen die Urzeln hier keine Krapfen, sondern erhalten selbst welche - und oft ein Schnäpschen dazu. Auch Eier werden gegeben und in der Zunftlade gebunkert. Außerdem fand der Umzug in Großschenk, anders als in Agnetheln, früher am Aschermittwoch statt, erinnert sich Marietta.

Endlich sind die Gäste eingetroffen und beginnen mit dem Spektakel: Der rot-weiße Holzreifen der Fassbinderzunft, in dem ein Weinglas steht, wird durch die Luft geschwungen. Die Übung, die am nächsten Tag mit zwei und drei Gläsern meisterlich glückt, misslingt; das Glas zerschellt. Doch die Tannenkrone mit Füchsen und Mardern und der „Bär“ – ein Mann im Fell mit echtem Bärenkopf  – lenken schnell ab. Auf starken Schultern wird das hölzerne Schneiderrössel wie eine Sänfte getragen. Und der Knirps, der darauf thront, strahlt wie ein Honigkuchenpferd! Schmalzbrote und Schnäpschen werden im Kulturhaus verteilt. Letzteres ist wohl Grund für den rumänischen Begriff für die Urzeln: „lole“ -  er soll sich von „lallen“ ableiten. Die Peitschen knallen wieder - und Costică Boghean sinniert: „Heute ist es nicht mehr so kalt – die Urzeln hatten schon Erfolg!“ 

Ein Brauch zur Völkerverständigung

In Agnetheln geht es professioneller, aber auch formeller zu als in Großschenk: Über 300 Urzeln ziehen  durchs Zentrum. Den Raum für die spektakulären Geißelschnalzer sperren sie mit ihren Peitschen diskret selbst ab, im Gänsemarsch, links und rechts. Warum jede Urzel eine Nummer trägt, erklärt Doris Hutter, Kulturreferentin der HOG   Agne-theln, die mit 40 sächsischen Urzeln aus Sachsenheim und Nürnberg teilnahm: damit der Urheber identifizierbar ist, falls doch jemand einen Hieb abbekommt. Denn nur von innen kann man durch die Drahtmasken sehen - umgekehrt nicht. Vor dem Rathaus wird für die Reden Halt gemacht: Immerhin feiert die hiesige Urzelzunft „Breasla Lolelor“ ihr zehnjähriges Jubiläum. Nach der Auswanderungswelle der Sachsen war der Brauch 1990 zum Erliegen gekommen, bis 2006 eine kleine Gruppe rumänischer Schüler von der Schule G.D. Teutsch unter Anleitung des Lehrers Bogdan Pătru seine Wiederbelebung versuchte. Zur Überraschung aller war die „Fuga lolelor“ sofort ein Riesenerfolg, so dass 2007 der Verein gegründet wurde.

Längst sind die Urzeln  auch fester Bestandteil des deutschen Faschingstreibens, freut sich Urzeldame Doris Hutter. 1965 hatten 13 ausgewanderte Agnethler erstmals den Urzelnlauf in Sachsenheim gezeigt. Heute sind die dortigen Urzeln Mitglied der Schwäbisch-Alemannischen Narrenzunft. Inzwischen reisen auch immer mehr aus Agnetheln stammende Sachsen aus ganz Deutschland nach Sachsenheim zum Urzelnlauf an. Oder sie gründen selbst Urzeln-Hochburgen, die eigene Umzüge organisieren: Traunreut, Geretsried, Herzogenaurach, Nürnberg, Weisendorf, Bonn und Heidenheim. Doris Hutter bringt in ihrer Ansprache – auf Rumänisch und in Gedichtform – treffend auf den Punkt: „Was unsere Vorfahren mit Lärm  ausdrücken wollten, was man austreiben muss: böse Geister. Wir treiben heute, mit euch an eurem Jubiläum,  alle möglichen Geister aus! Damit uns ein freundschaftlicher Geist  noch mehr verbindet. - Von so etwas lebt Europa.“ - „HIRRÄII!“