Mit Großmut, mit Geduld

Den Abend eines der längsten Tage des Jahres, am Dienstag, den 20. Juni, habe ich damit verbracht, die Weinreben im Pfarrhof zu schneiden. Alles abschneiden, was keine Frucht trägt und wenn die Reben noch so lange sind. Oder die Blätter kräftig und groß: weg damit. Und die Reben, an denen sich Früchte gebildet haben, kürzen. Radikal. Da kam so einiges zusammen, was danach auf dem Boden lag.

Während des Schneidens und des Herumhantierens im Dickicht der Reben kam mir ein Satz von Jesus in den Sinn, der nach dem „Ich bin der wahre Weinstock und mein Vater der Weingärtner“ steht: „Eine jede Rebe an mir, die keine Frucht bringt, nimmt er weg; und eine jede, die Frucht bringt, reinigt er, dass sie mehr Frucht bringe.“ (Johannes 15, 2) Genau das, was jetzt im Juni alle tun, die Weinreben im Hof oder im Garten haben oder gar einen Weinberg bewirtschaften. Alles, was keine Frucht bringt, wird abgeschnitten. 

Sollte das auch für unser Leben gelten? Für das private Leben und für das Leben unserer Kirche(n)? Noch so schöne, lange Triebe, die sich durch unser Leben oder durch das Leben der Kirche ranken, aber keine Frucht ausgebildet haben, einfach abschneiden – ohne lange zu überlegen, ohne Wenn und Aber, ohne Diskussion? 

Wir befinden uns auf der Höhe des Jahres, Ende Juni, Halbzeit. Und da lässt sich gut Rückschau halten und nach Klarheit Ausschau halten für die zweite Jahreshälfte. Was kann weg und was ist wichtig geworden oder bleibend wichtig? Wo lassen sich – im übertragenen Sinn – Früchte erkennen und wo sind nur viele Ranken, aber nicht viel dahinter? 

Was aber können solche Früchte sein? Wir sind nicht nur im Juni, sondern auch in der Trinitatiszeit, in der die Dreifaltigkeit Gottes als Quelle unseres Lebens im Fokus des kirchlichen Lebens steht, Gott als Vater, als Sohn und als Heiliger Geist. Im Brief an die Gemeinden in Galatien formuliert der Apostel Paulus: „Die Frucht der Geistkraft ist Liebe, Freude, Friede, Großmut, Freundlichkeit, Güte, Treue, Bescheidenheit, Selbstbeherrschung.“ (Galater 5, 22). Daran können die Reben in unserem Leben und im Leben unserer Kirche(n) gemessen werden. Nicht gleich  einen radikalen Kahlschlag machen, sondern mit Großmut, mit Geduld die Dinge besehen und entscheiden, was nur Ballast ist und was gepflegt werden soll. 
An diesem Sonntag ist für die Predigt in den evangelischen Gottesdiensten eine Erzählung aus dem Buch des Propheten Jona dran (Jona 4, 1–11): Gott will die Stadt Ninive nicht vernichten, denn die Bewohner sind umgekehrt zum Leben. Aber Jona wurmt das, denn seiner Meinung nach funktioniert das Leben anders: Wenn Gericht angekündigt wird, dann soll auch Gericht geschehen, ein Kahlschlag, ohne Wenn und Aber. Und er möchte für seine getane Arbeit – den Kahlschlag anzukündigen – belohnt werden. Während Jona in seiner Wut resigniert und gar sterben will, betont Gott die Seite des Lebens. Leben und Lebendigkeit soll sein und nicht Vernichtung. Auch daran können wir uns in der Mitte des Jahres ausrichten und an Jesu Zusage: „Ich bin der Weinstock, ihr seid die Reben. Wer in mir bleibt und ich in ihm, der bringt viel Frucht; denn ohne mich könnt ihr nichts tun.“ (Johannes 15, 5).