Paradigmenwechsel in der Forschung

Hirsch, Online-Repository und andere Tendenzen

Große, renommierte Verlage sind attraktiv sowohl für die Forscher als auch für das Publikum.
Foto: Zoltán Pázmány

„Wie ist dein Hirsch?“ Wenn diese Frage unter Akademikern gestellt wird, geht es nicht um Wild und auch nicht um einen leckeren Braten, sondern um den Bekanntheitsgrad eines Wissenschaftlers. Der Physiker Jorge E. Hirsch hat im Jahr 2005 diesen Bewertungsindex vorgeschlagen. Seitdem macht die Kennzahl, die auf einer bibliometrischen Analyse beruht, d. h. auf Zitationen der Publikationen des Wissenschaftlers fußt, Schlagzeilen. Heute wird der Akademiker gemessen und gewogen wie ein Neugeborenes, um über die Tauglichkeit oder Untauglichkeit, die Lebensfähigkeit und die weiteren Karrierechancen zu urteilen. Und das jedes Jahr, unabhängig vom Alter. Dass Umberto Eco dabei einen Hirsch-Index von 116 erreicht, ein international renommierter deutscher Professor auf 36 kommt und ein in Rumänien etablierter Wissenschaftler aus demselben Bereich nur einen Index von 4 erreicht, liegt auf der Hand. Problematisch wird es, wenn dieser Wert zum einzigen Einstellungskriterium wird. Es gibt erhebliche Unterschiede in der Art und Weise, wie der Hirsch-Index bei einem Mathematiker oder bei einem Geisteswissenschaftler auszufallen hat. In manchen Disziplinen ist bereits ein Index von 18 eine Sensation, in anderen ist da schon ein Wert von 60 oder gar 100 nötig.

Auch haben Kommunismus und Eiserner Vorhang den Wissenschaftlern aus dem Osten wahrlich keinen Gefallen getan, ihr Bekanntheitsgrad ist in vielen Bereichen gering. Dass Hirsch nicht das Maß aller Dinge ist, haben nun auch einige Wissenschaftler erkannt. In der renommierten Zeitschrift „Nature“ veröffentlichten sie einen viel beachteten Artikel, der sich kritisch mit dem Hirsch-Index auseinandersetzt. Im Rahmen einer Tagung an der Temeswarer West-Universität mit dem Thema „eNFORMATION“ wurde dieser Artikel einer breiten Öffentlichkeit vorgestellt und diskutiert. Daneben tauschten sich Akademiker und Bibliothekare über einen generellen Paradigmenwechsel in der Forschung aus.

Alles andere als schreibfaul

In einer Zeit, in der man über den Lesemuffel schimpft, wird erstaunlich viel geschrieben , und in diesem Falle, auch gelesen: Es geht um akademisches Schreiben und Veröffentlichen, denn Texte produzieren, gehört ja zum Wesen des Akademikers. Doch wie gut sind diese Texte letztendlich? Wen gehen sie etwas an? Wie groß ist ihr Einfluss? Was steckt dahinter? Mit einem (Schlag)wort: Wie wird die Qualität gemessen und bewertet? In dieser Hinsicht haben technische Disziplinen einen klaren Vorsprung, denn dort können Erfolge leichter erfasst werden. Etwa wenn neue Erfindungen von der Forschung in den praktischen Gebrauch übergehen. Manche Neuerungen sind in unerwarteten Bereichen erfolgreich. Forscher haben etwa eine Membrane entwickelt, um Ablagerungen von Algen auf der Oberfläche von Schiffen vorzubeugen. Diese Technologie wird nun in der Medizin bei der Herstellung von Kathetern verwendet. So fulminant geht es in den Geisteswissenschaften nicht zu. Das merkt man auch, wenn die Gelder für die Finanzierung von Forschungsprojekten verteilt werden – auch auf EU-Ebene, nicht nur hierzulande.

Wie viele Publikationen müsste ein Forscher pro Jahr produzieren, um für das System rentabel zu sein? Gibt es eine Norm? Auch diese Frage stellt man sich heute. Wenn ein in Rente gegangener rumänischer Universitätsprofessor auf seine Karriere zurückschaut, dann sind es etwa drei Bücher, die er auf einem Regal in der Unibibliothek hinterlässt und etliche wissenschaftliche Arbeiten, die in meist inländischen Zeitschriften publiziert wurden. Heute ist die Anzahl der Bücher schon bei Dozenten sehr gering. Außerdem sollten die Bücher möglichst in A1- oder A2-Verlagen veröffentlicht worden sein. Das hat nichts mit Autobahnen zu tun, sondern mit der Klassifizierung der Verlage. Derzeit schauen Forscher zuerst auf die jedes Jahr neu veröffentlichte Klassifizierungsliste der Verlage und dann in die Geldbörse, um zu sehen, wo zu welchem Preis veröffentlicht werden kann.

Und bei Büchern bleibt es nicht. Jeder Forscher oder Dozent muss jedes Jahr eine Mindestzahl wissenschaftlicher Arbeiten vorlegen. Am besten in Zeitschriften mit möglichst großer Verbreitung, also großem „Impact Factor“ – ohne Anglizismen kommt man nicht aus und ohne Englisch schon gar nicht. Ich unterhalte mich, auf Englisch, mit einem Herrn mit türkischem Namen, der den ursprünglich deutschen Verlag S. repräsentiert und frage direkt, ob der Verlag auch Interesse an Texten in deutscher Sprache habe – es muss gesagt werden, dass dies ein Verlag mit einer Erfahrung von über 150 Jahren ist. „Ja, es gibt auch Zeitschriften, die daran interessiert sind und sich auf den deutschsprachigen Markt fokussieren. Schließlich sind wir ursprünglich ein deutscher Verlag“. Mit anderen Worten: Es ist möglich auf Deutsch zu publizieren, aber sinnvoller ist es auf Englisch zu schreiben. Mit Englisch kann man ein breiteres Publikum erreichen und damit etwa seine Chancen erhöhen, zitiert zu werden. Klingt stark nach einem Nachteil, wenn sich ein Forscher auf eine andere Sprache festlegt. Na gut, dann gibt es noch die Franzosen. Das hätte ich nicht gesagt, ohne die Uni-Bibliothek in Montpellier gesehen zu haben: Viele neue Publikationen, vielleicht doppelt so viele wie an der Universität in Temeswar, füllen die Regale. Jedoch: Alles auf Französisch und zu über 90 Prozent nur französische Autoren – die natürlich wichtig sind, aber gerade in Kommunikationswissenschaften, die mich interessieren, sind nun mal auch Forscher aus anderen Ländern, wie den USA, wichtig.

Weniger Journal,  mehr „Repository“

Es können nicht jedes Jahr Bücher publiziert werden. Dafür aber eine Vielzahl an wissenschaftlichen Arbeiten. Mittlerweile gibt es eine Norm, eine Mindestanzahl an Arbeiten, die ein Wissenschaftler pro Jahr zu veröffentlichen hat. Zudem soll demnächst ein nationales „Repository“ entstehen – ein Mega-Speicher, an dem sich die Universitäten und großen Forschungseinrichtungen des Landes beteiligen sollen. Jede einzelne von ihnen soll ihren eigenen Speicher ausweiten und am Mega-Speicher mitwirken. „Ein Problem ist noch der freie Zugang zu den Inhalten, aber das ist unser Ziel. Es ist die Zeit gekommen, dass die wissenschaftlichen Forschungsergebnisse, die mit Hilfe öffentlicher Gelder erforscht wurden, für alle zugänglich gemacht werden“, erklärt Staatssekretär Tudor Prisecaru, der Leiter der Nationalen Behörde für wissenschaftliche Forschung in Temeswar. Es ist tatsächlich so, wie das Univ.-Prof. Dr. Otilia Hedeşan, Mitglied des Leitungsausschusses der West-Universität auf der Tagung erklärt hat: „Wir erleben einen Paradigmenwechsel. Es gibt konstante Werte wie die Aufrichtigkeit der Forscher, gleichzeitig hat sich die Geschwindigkeit der Forschung stark verändert“.

Und die Publikationsgeschwindigkeit wird weiter zunehmen, das meint zumindest Iulian Herciu, der Vertreter von Thomson Reuters in Rumänien. Die Zukunft ist nicht die der wissenschaftlichen Journale, sondern der digitalen Mega-Ablagen: „Wir werden von den Zeitschriften zu den Ablagen oder Mega-Speichern übergehen. Wir werden die Veröffentlichungen beschleunigen. In zehn Jahren wird man mehr über eine wissenschaftliche Bibliothek wie über eine wissenschaftliche Zeitschrift reden“. Um sich das Ausmaß einer Datenbank der Zukunft vorzustellen, helfen aktuelle Daten: Fast 59,3 Millionen Dokumente sind zurzeit in der „Web of Science Core Collection“, dem Herzstück einer unter Akademikern sehr bekannten Datenbank zu finden. Wobei man sich das „Web of Science“ als „die größte Kunstgalerie der Welt“ vorstellen soll: „Jede Arbeit ist dort ein Kunstprojekt und wird kuratiert“, so Iulian Herciu.

Und wie steht es mit Herrn Hirsch?

Zurück zu Herr Hirsch. Die Veröffentlichung der Studie „Bibliometrie: Das Leiden-Manifest für Forschungsmetrie“ von D. Hicks et alii führte zum ersten Mal zu einer konstruktiven Kritik des Index. Prinzipiell versuchen die Forscher, unterschiedliche Situationen zu vermeiden. Internationale Rankings der Universitäten, die auf unvollständigen Kriterien beruhen, wie etwa das Shanghai ARWU oder das Times Higher Education, und die blinde Benutzung des h-Index bei der Anstellung im akademischen Bereich oder in der Forschung sollen an Einfluss verlieren. Der Missbrauch von zu großen h-Indexen in den Lebensläufen der Forscher, insbesondere im biomedizinischen Bereich, soll vermieden werden. Auch die Zuteilung von Fonds soll nicht nur aufgrund vereinfachter numerischer Prinzipien, wie dem individuellen Impact Factor, erfolgen. Es soll auch eingestellt werden, weiterhin nichtstaatliche Organisationen zu gründen, nur um Fonds heranzuziehen. Sprich: Es gibt Erfindungen, weil Forscher diese Erfindungen brauchen, nicht weil die Erfindungen selbst gebraucht werden. Viele Forscher erhoffen sich viel von Hicks Publikation. Insgesamt stellt er dem Hirsch-Index zehn Prinzipien entgegen, die eine bessere Beurteilung von Forschung und Forschern ermöglichen soll. Sie klingen simpel, forsch und sehr gut. Etwa wird gefordert, dass die Beurteilung eines Forschers durch quantitative und qualitative Bewertungen zu erfolgen habe. Auch sollte die Exzellenz in der Forschung, die von lokaler Bedeutung ist, bewahrt werden. Es werde ein zu großer Akzent auf die angelsächsische Kultur gelegt und andere Umstände außer acht gelassen.