„Positiver Wandel braucht mehr Engagement in der Politik“

ADZ-Gespräch mit Dr. Martin Sieg, Leiter der Auslandsbüros der Konrad-Adenauer-Stiftung in Rumänien und der Republik Moldau

Seit Anfang Januar ist Dr. Martin Sieg der neue Leiter der Auslandsbüros der Konrad-Adenauer-Stiftung in Rumänien und der Republik Moldau. Mit dem studierten Geschichts- und Politikwissenschaftler, der über die Jahre auch als Berater für deutsche und internationale Regierungs- und Nichtregierungsorganisationen sowie als außenpolitischer Mitarbeiter im Deutschen Bundestag tätig war, sprach ADZ-Redakteurin Lilo Millitz-Stoica über die innenpolitischen Entwicklungen seit Amtsantritt der PSD-ALDE-Regierung.

Sehr geehrter Herr Dr. Sieg, wie sehen Sie Rumänien zehn Jahre nach dem EU-Beitritt des Landes aufgestellt? Überwiegen Fortschritt, Rückschritt oder Starrheit und verknöcherte Mentalitäten?

Rumänien hat deutliche Fortschritte gemacht, vor allem bei der rechtsstaatlichen, aber auch bei der wirtschaftlichen Entwicklung. Das bedeutet nicht, dass es daneben keine gegenläufigen Tendenzen gebe. Rumänien scheint mir schon noch in einem Transformationsprozess zu sein, in dem die bisherigen Fortschritte noch nicht nachhaltig gesichert oder gar unumkehrbar sind, und die demokratische, rechtsstaatliche und marktwirtschaftliche Entwicklung nicht abgeschlossen ist. Das Urteil hängt immer auch von den Maßstäben ab.
Im Vergleich mit Südosteuropa ist die rumänische Entwicklung bereits vorbildlich. Rumänien hat aber auch den Anspruch, sich mit Mitteleuropa zu vergleichen. Dieser Vergleich zeigt natürlich noch Potenzial, nicht zuletzt bei der Entwicklung des Wohlstandes. Aber warum sollten in Rumänien nicht auch dieselben Fortschritte möglich sein, die in anderen EU-Staaten bereits stattgefunden haben?

Erst unlängst haben die beiden Kammerpräsidenten Dragnea und Popescu-Tăriceanu angekündigt, sich in einem Brief an EU-Kommissionschef Juncker über eine angebliche Diskriminierung Rumäniens beschweren zu wollen – Brüssel übersehe geflissentlich die Defizite anderer EU-Staaten, ermahne Rumänien jedoch immer wieder in puncto Haushalt, obwohl es dafür keinen Grund gebe. Was für ein Bild gibt das Verhältnis Rumänien-EU aus Ihrer Sicht daher ab – wie  stehen die Menschen hierzulande zur EU, wie die Politiker?

Wenn ein Brief schon öffentlich angekündigt wird, dann wendet man sich damit ja nicht an Brüssel als vielmehr an die eigene Bevölkerung. Rumänien ist Mitglied der EU. Es wäre eigentlich an der rumänischen Regierung, ihre Vorbehalte in den Gremien anzusprechen. Natürlich gibt es in jedem Land immer mal wieder Interessenunterschiede zwischen der europäischen und der nationalen Ebene; und es gibt andere Staaten, in denen die nationale Politik mehr dazu neigt, sich gegen Brüssel zu profilieren oder die EU für unpopuläre Entscheidungen verantwortlich zu machen.
Sicher hat es auch von Brüssel aus jüngst deutliche Kritik an der rumänischen Regierungskoalition gegeben. Aber dabei ging es vor allem um die Sorge vor Einschränkungen der Korruptionsbekämpfung und um die Notverordnungen vom Januar.

Die Kammerpräsidenten stellen ihre Kritik an der EU in einen anderen Kontext: in den Kontext der Haushaltsdisziplin und damit auch der Notwendigkeit möglicher Einsparungen und ihrer Rechtfertigung. Natürlich kann man zu Recht darauf verweisen, dass auch andere Länder gegen die jährliche Neuverschuldungsgrenze von drei Prozent des BIP verstoßen oder verstoßen haben. Aber der Kern der Auseinandersetzung liegt doch woanders: Die Europäische Kommission schätzt, dass die rumänische Neuverschuldung bei über drei Prozent liegen wird. Die rumänische Regierung sagt, die Neuverschuldung wird drei Prozent nicht übersteigen. Wenn die Regierung recht behält, dann löst sich das Problem von selbst auf. Das entscheidet nicht die EU, sondern die Finanzpolitik Rumäniens. Mein Eindruck ist allerdings auch, dass Rumänien zu den Ländern gehört, die zur EU insgesamt eine besonders positive Haltung haben. Die Zustimmungswerte und das Vertrauen in der Bevölkerung sind auch im europäischen Vergleich hoch. Die europäische Integration wird von allen maßgeblichen politischen Kräften unterstützt. Rumänien ist ein konstruktiver und verlässlicher Partner in der EU.

Das linksliberale Kabinett unter Premier Grindeanu hat binnen weniger Monate im Amt bereits vier Regierungsumbildungen erlebt, die fünfte scheint diese Tage anzustehen. Wie bewerten Sie die bisherige Regierungstätigkeit von Grindeanu und seiner Ministerriege – welches wären ihre Pluspunkte, welches ihre Mankos?

Es fällt mir noch etwas schwer, die eigene Handschrift von Grindeanu in der Regierungstätigkeit zu erkennen. Bislang war seine Amtszeit ja einerseits von der Krise um die Notverordnungen von Januar und die folgenden Proteste überschattet. Andererseits ist die Abgrenzung zwischen den Entscheidungen, die in Parteizentralen getroffen werden, und der verfassungsmäßigen Verantwortlichkeit der Regierung in der Praxis etwas verschwommen. Dass der Premierminister sich selbst oft eher zurückgehalten hat bzw. nicht so in Erscheinung getreten ist, kann aber politisch auch klug sein. Es bleibt abzuwarten, ob er und seine Regierung künftig ein stärkeres Profil entwickeln.

Wie ist es Ihrer Meinung nach gegenwärtig um die „checks & balances“ im Rechtsstaat Rumänien bestellt? Funktionieren sie noch oder sind sie nach den zahllosen Begnadigungs- und Strafrechtsänderungsvorlagen, Stärkung des Parlaments durch Ausklammerung des Staatsoberhauptes aus wichtigen Ernennungsverfahren bereits ausgehöhlt?

Rumänien hat inzwi-schen mehr als zwei Jahrzehnte demokratischer Entwicklung hinter sich. Aber ich denke schon, dass sich demokratische Kontrollmechanismen, die Checks und Balances im Verfassungsgefüge allgemein noch nicht so ganz eingespielt haben. Die Art und Weise, in der Anfang des Jahres versucht wurde, über Nacht und durch Notverordnungen bedeutende Änderungen des Strafrechts und der Korruptionsbekämpfung herbeizuführen, ist dafür das jüngste, aber nicht das einzige Beispiel. Die Zivilgesellschaft hat in diesem Fall als demokratisches Korrektiv gewirkt. Die großen Demonstrationen waren ein beeindruckendes Zeugnis für die Zivilcourage vieler Rumänen. Dass diese Auseinandersetzung auf die Straße getragen wurde, ist aber auch eine Reaktion darauf gewesen, dass der demokratische Diskurs im Parlament gar nicht erst stattgefunden hat. Und in der Folge hat sich in den Protesten wohl auch ein verbreitetes Misstrauen in der Bevölkerung gegen-über dem Zustand der Demokratie und den politischen Parteien gezeigt, das ja auch in der niedrigen Wahlbeteiligung zum Ausdruck gekommen ist und Regierung wie Opposition zu denken geben sollte.

Es ist aber schon länger eine Tendenz der politischen Entwicklung in Rumänien, die Möglichkeiten, die die Verfassung zulässt, für die politische Auseinandersetzung auszureizen. In weniger als zwanzig Jahren hat Rumänien bereits zwei präsidiale Amtsenthebungsverfahren erlebt, genauso viele wie die USA in mehr als 200 Jahren demokratischer Entwicklung. Und während der Auseinandersetzung um die Korruptionsbekämpfung im Frühjahr kam es wieder zu zumindest unterschwelligen Drohungen mit der Amtsenthebung gegen den Präsidenten. Hier sollte es eigentlich einen demokratischen Konsens geben: Instrumente wie Notverordnungen und Amtsenthebungsverfahren sind für extreme Ausnahmesituationen vorgesehen, für schwere nationale Krisen. Sie sollten nicht politisiert werden.
Verfassung und Gesetze können nicht alles formal regeln. Es bedarf daher auch des Respekts vor dem Sinn der Verfassung und den Wertentscheidungen, die in der Verfassung zum Ausdruck kommen. Demokratie im Sinne des westlichen Rechts- und Verfassungsstaates bedeutet ja zuerst Respekt vor demokratischen Grundwerten, Regeln und Verfahren. Demokratie erschöpft sich nicht im Ergebnis einer Wahl.

Es braucht auch ungeschriebene Regeln und Grenzen, die von der Mehrheit wie von der Minderheit beachtet werden. In den USA, Großbritannien oder Deutschland sind viele dieser Regeln nur durch die Tradition oder die Geschäftsordnung der Parlamente bestimmt, obwohl sie an Bedeutung für den demokratischen Prozess nur der Verfassung nachstehen. Das betrifft parlamentarische Entscheidungsverfahren, Rechte der Opposition sowie die Besetzung vieler wichtiger Funktionen – besonders wenn diese eine unparteiische Amtsführung erfordern. Und es gilt dabei in aller Regel der Grundsatz, dass man diese Regeln nicht ohne schwere Not, und das heißt, nicht aus politischen Gründen ändert. Genauso wenig, wie man Spielregeln während eines laufenden Spiels ändert. Solche Regeln sollten sich in Rumänien noch stärker herausbilden und verfestigen.

Rechnen Sie damit, dass die Vorstöße der PSD-ALDE-Mehrheit gegen Justiz und Korruptionsbekämpfung letztlich den von ihnen erhofften Erfolg haben werden bzw. die Korruptionsbekämpfung tatsächlich eingedämmt wird?

Die Korruptionsbekämpfung und die Stärkung des Rechtsstaates sind vermutlich die bedeutendsten Fortschritte, die Rumänien seit dem Ende des Kommunismus erzielt hat; und diese Fortschritte bleiben die wichtigste Voraussetzung für eine nachhaltige wirtschaftliche, soziale und demokratische Entwicklung. Ein besonders ermutigendes Zeichen ist dabei das Engagement der Zivilgesellschaft und die Bereitschaft Hunderttausender Rumänen, für die Verteidigung des Rechtsstaats auf die Straße zu gehen.

Wo steht Rumänien zurzeit im regionalen Vergleich bei der Korruptionsbekämpfung?

Rumänien hat sich bei der Korruptionsbekämpfung sicher zum regionalen Vorbild entwickelt. Ein Merkmal dieser Entwicklung ist, dass in Rumänien niemand mehr sakrosankt ist und über dem Gesetz steht. Die DNA hat sich regional und unter Experten auch europaweit einen guten Ruf erworben. Sie kann und sollte ein Beispiel für Justizreformen in anderen Ländern sein. Wesentlich scheint mir aber zu sein, dass der Erfolg der DNA nicht nur auf ihren gesetzlichen Grundlagen beruht. Ebenso wichtig ist, dass es in Rumänien engagierte Richter und Staatsanwälte gegeben hat und gibt, die das Recht wirklich ernst nehmen und durchsetzen.

Last but not least: Sie sagten unlängst in einem Gespräch mit dem „Deutschlandfunk“ in Bezug auf Rumänien und die massiven Straßenproteste von Anfang Februar: „Die Korruption war der Kapitalismus des Sozialismus, das sitzt tief drin“. Der nicht unumstrittene Politologe Silviu Brucan prophezeite den Rumänen nach der Wende bekanntlich zwanzig Jahre bis zu einem Mentalitätswechsel – die sind längst verstrichen. Wie viele Jahre geben Sie uns bzw. erachten Sie hierfür als nötig?

Mentalitäten ändern sich überall nur langsam, Beispiele leben fort und deshalb kommt der Wandel immer nur graduell. Aber es geht nicht nur um Mentalitäten. Deren Rolle möchte ich auch nicht zu sehr betonen. Denn das suggeriert ja, dass Korruption eine Art kulturelles Phänomen in Rumänien wäre; und das wiederum würde den vielen Anständigen im Lande nicht gerecht werden und zugleich Korruption auch ein Stück weit entschuldigen. Es geht auch um Strukturen, besonders im öffentlichen Dienst und im politischen Raum sowie in deren jeweiligen Finanzierungs- bzw. Einkommensstrukturen. Es gibt aber auch eine Ungleichzeitigkeit von Entwicklungen innerhalb der Gesellschaft. Die Hunderttausende, die gegen Einschränkungen der Korruptionsbekämpfung demonstriert haben, brauchen keinen Mentalitätswandel. Ich habe allerdings auch den Eindruck, dass ein großer Teil der Gesellschaft in den politischen Parteien und den demokratischen Institutionen keine wirklichen Alternativen sehen. Das mag dazu führen, dass sich viele Menschen eher gegen die Politik als in der Politik engagieren. Positiver Wandel braucht aber mehr Engagement in der Politik.

Herzlichen Dank für Ihre Ausführungen.