Pythons im Badezimmer und andere Geschichten aus untergegangenen Zeiten

Ioana Pârvulescus Sammelband über das Leben im Kommunismus / Mehr als ein Mittel gegen das Vergessen

Oktober 2016, eine sozialwissenschaftliche Fakultät in Rumänien, erstes Studienjahr, Einführung in die Volkswirtschaftslehre. Ich spreche von Bedürfnissen und von Gütern, die Menschen herstellen, um ihre Bedürfnisse zu befriedigen. Natürlich auch über den Markt, über Preise, Verbraucher und Firmen. Und ich stelle einen ersten Vergleich zu früher an, zu der Zeit vor 1989. Die Studierenden sind Jahrgang 1997. Einer weiß es genau: Früher war es besser, so hat man es ihm zu Hause gesagt. Auch 2015 war es so, junge Menschen glauben fest, dass es vor 1989 besser war. So haben sie es gehört, meistens von Bezugspersonen wie Eltern oder Lehrern.
Ich öffne ein schwarzes Buch mit orangefarbenem Titel und einer Glühbirne auf dem Deckel und lese vor. Gabriela Tabacu, Architektin, zurzeit Professorin in Bukarest, damals Angestellte eines staatlichen Bauunternehmens, erzählt: „Gemeinsam mit einem Kollegen musste ich in den 1980er Jahren Wohnungen begutachten, die nicht erdbebensicher waren. Auf dem Balkon einer engen Zweizimmerwohnung bemerken wir zwei Löcher in der Mauer, vier-fünf Zentimeter groß. Wir fragen, was das soll. Die Dame des Hauses erzählt uns, es seien Lüftungen für das Bad. Aber das Bad hat doch ein eigenes Fenster. Ja, aber das Fenster haben wir zugemauert. Dürfen wir uns das Bad anschauen? Nein. Wieso? Im Bad hausen zwei Pythonschlangen, die Frau ist Dompteurin beim Staatszirkus. Dort ist es aber so kalt, dass die Schlangen sterben würden. Verenden die Schlangen, verliere ich meine Stelle, sagt die Frau. Also halte ich sie bei mir im Bad, ein Auto vom Zirkus bringt ihnen wöchentlich Futter, holt sie vor den Aufführungen ab und bringt sie nachher wieder zurück. Einen Spalt breit öffnet die Frau dann die Tür zum Badezimmer. Wir können die grau-grünen Viecher erblicken, es läuft uns kalt über den Rücken. Wir verzichten auf Weiteres.“

Etwa 360 Geschichten, einige nur ein paar Zeilen lang, hat die Bukarester Philologin und Schriftstellerin Ioana Pârvulescu in dem Band „Şi eu am trăit în comunism” (Auch ich habe im Kommunismus gelebt, Humanitas-Verlag, 2015) zusammengetragen. Dabei ist ihr wohl eines der spannendsten Bücher über den rumänischen Kommunismus gelungen, die in jüngsten Jahren erschienen sind. 95 Bürger erinnern sich an die viereinhalb Jahrzehnte, die Land und Volk bis heute geprägt haben, an ihr Leben, an Freunde und Verwandte, an die Eltern oder Großeltern, an Nachbarn, Arbeitskollegen, Milizmänner, Mitarbeiter der Securitate, RKP-Funktionäre, einfache Bauern, Zöllner, Chefs, Lehrer und Professoren, Ärzte, Putzfrauen, Alimentara-Verkäuferinnen, Kellner oder Rezeptionisten in den Hotels.
Zumeist tun sie es ohne Groll und Hass, obwohl Geschichten erzählt werden, die einen schaudern lassen: der Dampf, der aus der geöffneten Brusthöhle eines Kindes emporsteigt, in einem eiskalten OP-Saal im Bukarester Fundeni-Krankenhaus; ein todkranker Arzt, der keine Genehmigung für einen Dialyseplatz bekommt und sterben muss; ein Verhör durch die Securitate; scharf kontrollierende Zöllner im Zug in Curtici, denen eine verstecke Geldsumme nur deshalb entgeht, weil sie zwischen den Blättern der „Scânteia” versteckt ist, und sie die alberne Zeitung nicht anrühren; ein weinender, fluchender Vater, der seinem Sohn kein Sandwich für die Schule zubereiten kann, weil die Alimentaras leer sind, und den Jungen dann mit in Zucker getränktem Brot in die Schule schicken muss; Kinder, die 1985 glauben, dass Mandarinen Bälle zum Spielen sind und das mit Mühe und Not herbeigeschaffte Obst nicht essen wollen.

Viele Erzählungen erinnern an die kafkaeske Absurdität des Regimes: die Arbeit der Schüler und Studenten auf den Feldern oder auf verschiedenen Baustellen, die endlosen Parteisitzungen in den Betrieben, der allgemeine  Diebstahl in den Fabriken, die Parallelwährungen Zigaretten, Kaffee oder Schokolade, das lange Schlangestehen, die Rationalisierung der Lebensmittel oder die Unmöglichkeit, bei der „repartiţie”, der zentral durchgeführten Verteilung der Hochschulabsolventen auf Arbeits-stellen im ganzen Land, den gewünschten Job zu bekommen, weil jenen Kommilitonen, die politisch engagiert waren, 0,50 Punkte zur Durchschnittsnote addiert wurden.
Nicht unerwähnt bleibt das unermessliche Leid, das rumänischen Frauen widerfahren ist: durch das Abtreibungsverbot und seine strenge Einhaltung in den Krankenhäusern. Und dann wird von Rentnern erzählt, die Tag ein, Tag aus, mit Tüten eingedeckt, durch die Stadt spazieren, die Enkelkinder an der Hand, in der Hoffnung, dass irgendwo irgendwas verkauft wird, ob Fleisch, Wurst oder Käse, ob Toilettenpapier oder Haarwaschmittel. Ein kranker alter Mann, dessen einzige sinnstiftende Beschäftigung jene ist, ein Mal pro Monat eine sogenannte „Casa de Comenzi”, ein Versandhaus, anzurufen, um dort ein paar Lebensmittel zu bestellen, die seiner Familie dann am darauffolgenden Tag geliefert werden. Sein Sohn errechnet, dass der Vater an einem einzigen Tag 700 mal angerufen hat, bis er dann zwei Kilogramm Schafkäse bestellen konnte.

Gegliedert ist der Band in Bereiche des alltäglichen Lebens im real existierenden Sozialismus. Es geht um das Wohnen und die dazugehö-rende Kälte, es geht um die Beschaffung von Essen und verschiedenen Konsumgütern. Es geht natürlich auch um Bildung oder Arbeit, um Behördengänge, das Reisen, die Freizeit, die Gesundheit, die Liebe. Ioana Pârvulescu erzählt selbst auch. Andere sind Professoren, Ärzte, Journalisten, Übersetzer, Schauspieler, Architekten, Mathematiker, Ingenieure. Es sind Menschen, die in den 1970ern noch jung waren, die damals ihr Berufsleben als Arzt oder Lehrer anfangen mussten: in abgelegenen Dörfern oder in Kleinstädten, wo sie unter kaum zumutbaren Bedingungen wohnen mussten und dabei die Armut der Menschen und die Skurrilität des Regimes hautnah erleben durften.
Aber zu Wort kommen auch Ältere, die sich an die späten 1940er erinnern oder an den Anfang der 1950er, an den Terror des Stalinismus, an die Verhaftungen, an jene, die 1964 aus dem Gefängnis entlassen und die von Kindern oder Ehefrauen nicht mehr erkannt werden. Oder an den Großvater, der im Ersten Weltkrieg mutig gekämpft hat und entsprechend hochdekoriert wurde, und nun, in den 1950er-Jahren, Kartonschachteln für eine Genossenschaft zusammenbastelt, die ihm, dem einzigen Versorger der Familie, ein paar Lei pro Schachtel zahlt. Eine andere Arbeit findet er nicht, schließlich brachte er es vor 1944 zu weit, ein Klassenfeind eben.

Ein anderer Opa fährt mit seinem Ochsenkarren an einer Stalin-Statue mehrmals vorbei. Er bleibt immer stehen, atmet tief ein, trinkt einen Schluck Wein und spricht dann in aller Ruhe die Statue an: Josef, Josef (Iosâve, Iosâve...), warum lässt du mich nicht in Ruhe? Warum willst du mir meinen Acker wegnehmen, warum zwingst du mich, dem Kollektiv beizutreten? Ich, Josef, werde ihm nicht beitreten, so lange ich lebe...
Wer das knapp 400 Seiten dicke Buch aufmerksam liest, der ist aufgeklärt, er braucht keinen zusätzlichen Unterricht in der Geschichte des rumänischen Kommunismus. Denn jeder aufrichtige Leser, auch jener, der die damaligen Zeiten selbst erlebt hat, aber auch jener, der damals entweder zu jung war oder noch gar nicht geboren, versteht, dass es alles andere als gut war. In der Tat, so mancher war jünger, kräftiger, gesünder als heute, das wissen auch die Erzähler in Ioana Pârvulescus Band, sie geben es zu. Aber keiner wünscht sich den real existierenden Sozialismus zurück. Dem Übel ist nicht nachzutrauern, aber an das Übel ist zu erinnern. 95 Menschen mit ihren verschiedenen Lebensläufen tun es auf 400 Seiten besser als so mancher Historiker. Ihr Gemeinschaftsprodukt, konzipiert und herausgegeben von Ioana Pârvulescu, bringt einen zum Weinen und zum Lachen, regt auf eindrucksvolle Art zum Denken an. Es stärkt die Erinnerung, es empfiehlt sich den Vergesslichen. So lautet die Eigenwerbung des Verlags. Aber es empfiehlt sich auch den Unwissenden, den Ahnungslosen, den leicht Manipulierbaren. Der Jugend vor allem. Dass das Buch in so mancher Buchhandlung oder auch in einigen Online-Shops vergriffen ist, ist ein gutes Zeichen.