Raumentwicklungspolitik nach dem Prinzip Zufall

Die Binnenmigration war 2016 auf dem höchsten Stand seit 1991

Bukarest zieht wegen der guten Geschäftsmöglichkeiten viele Menschen an, andere kehren der Stadt jedoch genervt den Rücken. Der dichte Verkehr, der nicht einmal nachts zur Ruhe kommt, ist ein Grund unter mehreren dafür.
Foto: Christian Binder

Es gärte kürzlich in den sozialen Medien, auf Facebook, aber auch in den Gesprächsforen mancher Publikationen, vor allem jener, die einen Internet-Artikel von „Press One“ übernommen haben, sodass die Analyse des „Press One“-Journalisten Barbu Mateescu ausgiebig diskutiert werden konnte. Dieser hatte Daten des Nationalen Instituts für Statistik ausgewertet und schlussfolgert, dass 31 von insgesamt 41 Landkreisen sowie die Hauptstadt Bukarest ausbluten, weil 2016 knapp 400.000 Bürger ihren Wohnsitz verlegt haben, so viele wie noch nie seit 1989. Dies hänge mit der falschen Entwicklungspolitik der Regierungen Rumäniens zusammen sowie mit der starken Konzentration wirtschaftlich erfolgreicher Unternehmer in ein paar Großstädten sowie im Westen des Landes. Beängstigend auch die Tatsache, dass die Zahl der angemeldeten Bukarester im Sinken begriffen sei, viele Bewohner der Hauptstadt würden dieser den Rücken kehren und in das Umland zielen.

Der „Press One“-Statistik ist ferner zu entnehmen, dass in all den vergangenen 26 Jahren die Kreise Arad, Hermannstadt/Sibiu und Temesch/Timiş eine positive Bilanz verzeichnet haben, ähnlich positiv sei die Entwicklung auch in den Kreisen Bihor, Ilfov, Konstanza/Constanţa, Klausenburg/Cluj, Kronstadt/Braşov, Giurgiu und Jassy/Iaşi verlaufen. Für Ilfov und Giurgiu hängen die Zahlen selbstverständlich mit der Stadtflucht der Bukarester zusammen, die Städte Jassy, Klausenburg, Großwardein/Oradea, Konstanza und Kronstadt hätten sich vor allem nach dem EU-Beitritt Rumäniens stark entwickelt und dadurch auch Binnenmigranten angezogen. In Temeswar/Timişoara, Arad und Hermannstadt habe sich die Wirtschaft sehr schnell nach 1989 erholen können, alle drei Städte haben in den vergangenen knapp drei Jahrzehnten ihre Attraktivität behalten und somit zur positiven Bilanz ihrer Kreise beigetragen.

Alle anderen Landkreise verzeichnen einen kontinuierlichen Bevölkerungsrückgang, die Bürger würden nicht nur ins Ausland ziehen, sondern auch in wohlhabendere Regionen innerhalb Rumäniens. Am meisten verloren haben die Kreise Galatz/Galaţi, Brăila, Vaslui und Teleorman, seit neun Jahren verlegen auch Bukarester ihren Wohnsitz.

Dieses sind also die Zahlen des Nationalen Instituts für Statistik. Im Grunde genommen nichts Neues, Demografen und Wirtschaftsexperten schlagen seit mehreren Jahren Alarm: Nicht nur, dass das Land sich leert, auch innerhalb Rumäniens finden wahre Wanderungen statt. Die Hauptstadt und die wichtigsten Großstädte Westrumäniens florieren, während das Hinterland verödet. In wenigen Jahren wird es in der Tat in weiten Teilen Süd- und Ostrumäniens, aber auch in einigen weniger entwickelten Kreisen im Banat und in Siebenbürgen zu einem fast vollkommenen Erliegen privatwirtschaftlicher Aktivitäten kommen, Rentner, Staatsbedienstete und die wenigen Kinder der noch nicht Weggezogenen werden dann den Großteil der Bevölkerung im Schiltal/Valea Jiului, im Banater Bergland, zwischen Galatz und Vaslui oder in der südrumänischen Tiefebene ausmachen.

Die Entwicklung ist empirisch auf die einfachste Weise zu beobachten: Wer durch Neubauviertel am Rande von Temeswar oder Klausenburg fährt, der dürfte mehr Bürger aus Hunedoara, Karasch-Severin/Caraş-Severin, Mehedinţi oder Gorj (im Falle von Temeswar) oder aus Bistritz-Nassod/Bistriţa-Năsăud, Sălaj, Alba oder Maramureş (im Falle von Klausenburg) als waschechte Temeswarer oder Klausenburger treffen. Wer sich die regionale Herkunft der Angestellten einer beliebigen IT-Firma in Temeswar anschaut, der stellt fest, dass so mancher vor Kurzem aus Galatz oder Suceava in das Banat gekommen ist. An Supermarktkassen hört man fast nur noch die südrumänische, schnelle Sprechweise der Oltenier. Für das Banat ein Zeichen der historischen Normalität, denn seit 1920 haben sich viele Generationen von Bürgern aus anderen Landesteilen in Temeswar niedergelassen, eine starke Binnenwanderung hat es schon in der Zwischenkriegszeit gegeben. Während des Kommunismus war sie staatlich geregelt, eingeplant und gefördert, doch die sozialistischen Planer wussten, dass sie nicht nur in die Entwicklung der Großstädte investieren müssen, sondern auch andere, kleinere Orte aufzupäppeln haben. Dies war mit ein Grund, warum 1968 wieder die Kreise eingeführt wurden, damit so mancher Kleinstadt Entwicklungsmöglichkeiten gegeben werden und die Landflucht der Millionen von Bauern in die von den Kommunisten für richtig gehaltenen Bahnen gelenkt werden kann.

Ob richtig oder falsch, die damalige Raumentwicklungspolitik war wenigstens sich selbst treu und somit, nach eigenen Maßstäben zumindest, kohärent. Nach 1989 kümmerte sich selbstverständlich keiner mehr um die Binnenmigration, der freie Markt regelte alles. Nach dem Prinzip Zufall, denn, so traurig die Feststellung für manchen Neoliberalen auch sein wird, der freie Markt versagt immer wieder und die Folgen sind bitter. Zunächst gingen viele zurück in ihre Heimatregionen: Nur wenige der in den 1980er Jahren ins Banat gekommenen Moldauer blieben in Temeswar, Anfang der 1990er Jahre zog es viele zurück nach Ostrumänien. Nach 2000 setzte die große Welle der Auswanderung nach Westeuropa ein und nachdem sich die traditionellen Wirtschaftsstandorte in Siebenbürgen und im Banat erholen konnten, änderte sich die Richtung der Binnenmigration wieder. Ein gutes Beispiel stellt die Stadt Klausenburg dar: 23 Jahre lang kamen mehr Bürger nach Klausenburg als von dort welche wegzogen, allein in drei Jahren (2001, 2002, 2003) sind mehr Klausenburger weggezogen als neue Bürger hinzugekommen. Das waren auch die letzten Jahre mit dem irren Nationalisten Gheorghe Funar als Bürgermeister, Mitte 2004 wurde er abgewählt und durch Emil Boc ersetzt.

Fast fünfzig Jahre nach der letzten Verwaltungsreform und nach drei Jahrzehnten eines dramatischen und weiterhin andauernden Bevölkerungsrückgangs, der ganze Landesteile ausbluten lässt, ist es höchste Zeit, dass der Staat Maßnahmen ergreift, die auf eine ausgewogenere Entwicklung der Regionen, der Kreise und der Städte abzielen und zumindest das retten, was noch zu retten ist. Kein Bukarester, kein Temeswarer, kein Klausenburger wird morgen nach Alexandria, Reschitza/Reşiţa oder Zillenmarkt/Zalău ziehen, kein Jassyer nach Bârlad, aber auch den Bürgern dort muss die Chance auf einen Neuanfang geboten werden. Genauso wie dem ländlichen Raum durch entsprechende Investitionen, vor allem in Bildung und Infrastruktur, die Gewissheit gegeben werden muss, dass das eine oder andere Dorf auch von Bukarest aus auf der Landkarte gefunden werden kann.
Dafür aber müssten sich vor allem die Parteien mit dem Thema der Raumentwicklungspolitik und der Demografie ernsthaft auseinandersetzen. Wegen seiner Langfristigkeit ist es aber dem Wahlvolk nur schwer vermittelbar, den Politikern fehlen einfach die Mittel, auch die intellektuellen, um Lösungsansätze für dieses Problem zu finden und diese den Bürgern zu erklären. Damit kann man nur schwer Wahlen gewinnen, das steht fest. Und wenn man sich auch noch die Art und Weise anschaut, in der die Bürger selbst das Ganze besprechen, beziehungsweise sich als Banater, Siebenbürger, Oltenier, Bukarester, Moldauer gegenseitig bekriegen, dann verspürt man gleich den Wunsch, sofort nach Reschitza zu fahren. Nach Alexandria und Vaslui, nach Tulcea und Botoşani. So lebendig wie jetzt werden diese Orte nie mehr sein.