Sechs Wochen, um ein Jahr zu leben

Aristoteles lancierte den Begriff des „Zoon politikon“ (elegant übersetzt: „gesellschaftliches Wesen“, salopp: „politisches Tier“ – jede Übersetzung hat ihre Berechtigung...). Gern wird's in den letzten Jahrzehnten als „soziales Wesen“ übersetzt. Allerdings sind auch Bienen, Ameisen, Wölfe, Schafe oder Zugvögel soziale Wesen, da sie Gemeinschaften bilden und zum Überleben nutzen. Man spricht von der „Sozialen Eroberung der Erde“ (E.O.Wilson).
Der Mensch hat eine Besonderheit, die schon Aristoteles unterstrich: Er regelt sein soziales Zusammenleben und seine Aktivitäten durch Gesetze, die zu respektieren sind. Er baut Institutionen auf. Die arbeiten Gesetze aus. Sie überwachen deren Einhaltung. Die Stele, auf welcher der Codex Hammurabi („Hammurapi“, 6. König der I. Dynastie von Babylonien, 1792-1750 v. Chr., herrschte als König von Sumer und Akkad) in Keilschrift verewigt wurde, kann als symbolischer Sprung aus dem Tier- ins Mensch-Sein betrachtet werden.
War es ein Zufall, dass die ersten Gesetze der Menschheit wie auf einen warnend gehobenen Riesenzeigefinger, quasi als Droh- und Warngeste, verewigt sind? Gesetze – sie sollten nichts anderes sein als moralische Leitfäden und Grenzsetzungen des Handelns – können respektiert, übertreten, ironisiert, ignoriert, kritisiert oder novelliert werden – immer als Schutzinstrumente des Soziallebens. Vorhanden sind sie, seit Hammurabi, immer. Dass auch die „politischen Tiere“ im Denken der Politiker immer vorhanden sind, bewies bei uns zuletzt Ex-Präsident Iliescu, als er 1990 die Demonstranten auf dem Bukares-ter Universitätsplatz mit „animalule!“ titulierte...

Die „sozialen Wesen“ als „politische Tiere“ haben ein Gruppenleben (man lese beim alten Max Weber nach): Sie organisieren sich in Parteien und entwickeln ein Gruppenbewusstsein, das sie verleitet (meist unter Führung eines Leittiers), eventuelle konjunkturbedingte Machtpositionen zur Änderung oder Beugung von Gesetzen zu nutzen – also gegen deren ursprüngliche Rolle anzutreten. Dazu werden formelle Netzwerke gebildet (Koalitionen) oder es wird informell vorgegangen (unter striktem Ausschluss des Korrektivs Öffentlichkeit), legal, illegal, geheim, transparent, exklusivistisch, bei Nacht und Nebel. Meist wird dabei eine höhere Form des Funktionsmechanismus der Gruppen, die Demokratie, durch Mehrheitsbildung ausgehebelt. Von alldem haben wir seit der Wende in Rumänien etwas erlebt.
Es gibt aber auch Mechanismen des Gegensteuerns, die seit 1849 einen Namen haben: ziviler Ungehorsam. Damals erschien ein Essay des Amerikaners H. D. Thoreau (1817-1862), „Resistance to Civil Government“, später nur „Civil Disobedience“ betitelt, zu Deutsch: „Über die Pflicht zum Ungehorsam gegen den Staat“. Es ist eine „Bibel“ der „Widersetzlichen“ – Mahatma Gandhi und Martin Luther King gehörten zu den von Thoreau Beinflussten, über sie auch Vaclav Havel mit seiner „samtenen Revolution“. Stichwort: „gewaltfreier Widerstand“. Auch die Linken unter den 1968ern hielten große Stücke auf die Leitgedanken Thoreaus über das Verhältnis Bürger - Staat. Der amerikanische Anarchismus (Emma Goldman) ging auch bei Thoreau zur Schule. Allerdings: Thoreau, der durch gesunden Menschenverstand, praktisches Wissen, vor allem durch nicht zu brechenden Widerspruchsgeist auffiel, hat als einer der Ersten konkret das Aussteigerdasein versucht und gelobt (man lese seine reportageartige Erzählung mit Essaypassagen „Walden. Oder das Leben in den Wäldern“), er war grundsätzlich Gesetzen und einem geregelten Leben gegen-über negativ eingestellt.
Während seines zweijährigen autarken – nicht asozialen – Lebens im Wald stellte er fest, dass zum jährlichen Lebensunterhalt schon sechs Wochen Lohnarbeit reichen. Sein Freund, der Lyriker Ralph W. Emerson, schrieb nach dessen Tod: „Noch nie hat ein so wahrer Amerikaner gelebt wie Thoreau.“