Sehnsucht nach Wurmloch

Michael Weber: „Hier geboren, hier aufgewachsen, hier getraut“ – und zurückgekehrt

Das Kronenfest in Wurmloch gehört zu seinen schönsten Erinnerungen.

Diese Weinflasche – heute im Museum – hat Michael Weber noch als Bursche zum Kronenfest vom Baum geholt.

Die Kornkammern waren zu Michael Webers Kindheit noch intakt.

Die Kirchenburg – heute UNESCO-Welterbe
Fotos: George Dumitriu

„Siebenbürgen, süße Heimat“ prangt gestickt auf weißem Grund. Darunter sieben bunte Wappen. Der Haussegen tut seine Wirkung noch heute, jedenfalls für Michael Weber. Täglich geht er daran vorbei. Täglich erinnert ihn das kostbare Leinen, das heute das kleine Heimatmuseum der Kirchenburg von Wurmloch ziert, obwohl nur noch zwei Sachsen dort leben, wo er sich wirklich zuhause fühlt. Wie ihm mag es vielen nach Deutschland ausgewanderten Landsleuten gehen. Doch nicht jeder hat den Mut, in der alten Heimat einen Neubeginn zu wagen. Und nicht immer findet man vor, was man dort verlassen und schmerzlich vermisst hat...

Wir halten bei strahlendem Sonnenschein vor der Kirchenburg von Wurmloch/Valea Viilor, die zum Welterbe der UNESCO gehört.  Gewaltig und trutzig erhebt sich die Wehrmauer, auf der so unkokett das Alter steht – 709 stolze Jahre immerhin – gegen einen blauen Wattewölkchenhimmel. Wie auf Bestellung trödelt pittoresk ein Pferdewagen vorbei. Perfekt fürs Foto! Knipsend verschwindet mein Gatte im Gemäuer und ich sehe mich erst mal um. Ein kleines Heimatmuseum – ach, wie nett! An den Wänden Fotos, gestickte Haussegen, Taschen und Schlaufen mit Aufschriften in Kreuzstich: „Zahnbürsten“, „Löffel“ oder „Nudelwalker“. Und ein Sachse, der noch etwas erzählen kann! „Hier geboren, hier aufgewachsen, hier getraut“, stellt sich Michael Weber erfreut als echter Wurmlocher vor. Seit fünf Jahren lebt er wieder dauerhaft hier, seit 1993 zumindest sporadisch. „In Deutschland hab ich keine Ruhe gefunden“, lächelt er tiefgründig auf meine Frage. Und fügt an: „Hier bin ich Mädchen für alles!“ Burghüter, Fremdenführer, Gärtner, Verwalter - und  natürlich freiwillig. „Früher, als noch Sachsen da waren, da hätte man einen Kurator gewählt ...“ Ab nächstem Jahr, wenn er in Rente geht, will er seine Rinder verkaufen, um sich ganz um die Burg zu kümmern. „Immerhin, diesen August waren etwa 400 Besucher da.“
Nur keine Schande machen!

Seit 1200 soll es Sachsen in Wurmloch gegeben haben, etwa 300 bis 400 Mann hätten die Kirchenburg gebaut, erzählt Michael Weber stolz. Schmunzelnd fügt er an: „Aber ein Besucher, ein Arzt aus Berlin, hat mir vorgerechnet, dass darunter höchstens 150 arbeitsfähige Männer waren ...“ An Bruderschaften kann er sich nicht mehr erinnern. „Die wurden nach der Verschleppung der Deutschen nach Russland aufgelöst. „Aber Nachbarschaften hab ich noch erlebt! Theaterspielen, Fasching, Dummheiten und alles - da war ich immer der Anstifter!“ Seine Äuglein sprühen auf einmal vor Schalk. „Dienstag vor Aschermittwoch war unser Richt- und Schlichttag. Da sind alle Männer nach dem Gottesdienst ins Nachbarschaftshaus gegangen...“ erzählt er vergnügt weiter. Bestraft wurde, wer in der Kirche gefehlt hat, oder wer zum Begräbnis eines Mitglieds der eigenen Nachbarschaft nicht erschienen ist. „Aber es kam ja nicht auf die Strafe an, diese paar Lei... Die Schande war viel größer!“ 

Schande, das war ein ständiges Thema in der sächsischen Gesellschaft. Kleine Streiche wurden verziehen, doch man dachte stets daran, die Eltern nicht zur Schande zu machen, erklärt Weber und lacht auf: „Ich war ein schlimmer Bub, ich musste in der Schule immer die Hand hinhalten für Prügel... aber es hat geholfen! ‘Der braucht halt ein bissl Nachhilfe’, meinten meine Eltern dazu, ‘doch Hauptsache, er macht uns nicht zur Schande!’“. Auch an den Speckturm kann er sich noch gut erinnern: „Einmal die Woche war ‘Tag der offenen Tür’, dann durfte man sich vom Speck etwas abschneiden“. Danach wurde die Schnittfläche mit einem hölzernen Stempel mit den Initialen des Besitzers versiegelt. „Man hat aber nie gehört, dass geklaut wurde, denn das wär ja auch eine Schande gewesen! Das hat uns Deutsche so aufrichtig und korrekt bewahren können“, erklärt der Burghüter. Speckdiebstahl – unvorstellbar. Doch als die Kinder über eine  Weinrebe herfielen, bevor die Besitzer überhaupt von den Trauben gekostet hatten - „wir haben alle weggefressen“ - gab es bloß Handschläge, erinnert er sich kichernd.

Mir ging es immer gut

„Mir ging es hier immer gut“, sagt der Rückkehrer, der heute von Rinder- und Schafzucht lebt und auf dem rückerstatteten Boden eine experimentelle Elefantengras-Kultur angelegt hat, eine energetische Pflanze, die in der Schweiz zu Brennstoffpellets verarbeitet werden soll. „Ich hatte einen guten Job, zu essen und zu trinken, Pferde, ein Auto, Freiheit – was braucht man mehr?“ Zuerst arbeitete er als Dreher in Kleinkopisch, dann in Wurmloch in der Kolchose, „auch dort als Mädchen für alles“, lacht Weber und bekräftigt: „Wir haben immer alles gehabt!“ Die Frau war Schneiderin und konnte zuhause arbeiten, als die Kinder noch klein waren. Danach schafften sie sich eine Sprudelmaschine an und belieferten Hochzeiten und Dorfläden mit den kleinen Fläschchen. „Später machten wir Sicola - ein Cola, auch so braun. Man musste es nur durch die Maschine laufen lassen und den Sirup dazutun.“
Warum dann Deutschland? „Das habe ich auch immer gesagt“, fällt mir Michael Weber ins Wort. Doch die Eltern waren 1985 ausgewandert, die Schwiegereltern ebenso, und Freunde drängten: „Bist du blöd? Wieso willst du nicht?“ Da stellte er halbherzig den Antrag, „weil es eben alle taten“. Und weil man damals sagte: „Was soll aus den Kindern werden? Wer weiß, was noch kommt?“ Der Junge war neun, die Tochter elf. „Aber wenn die Kinder hiergeblieben wären, wär es besser gewesen...“ sagt er plötzlich und bricht mitten im Satz ab.

Auf einmal ging für Familie Weber alles schneller als gewollt: „Andere haben 15 Jahre gewartet, bei uns kamen die Papiere schon nach zweieinhalb Jahren“, seufzt der Familievater. Argwöhnisch fragten die Nachbarn: „Habt ihr was bezahlt?“ Dabei hatte er gehofft, es würde noch ewig dauern...
1988 ging es dann nach Landshut: Mietwohnung im sechsten Stock, Arbeit in der Fabrik. „Du bist heimgekommen - und was machst du?“ erinnert sich Michael Weber düster. „Fernsehen! Mir hat ja nichts gehört. Auch heute noch, wenn ich an den Feiertagen heimkomme, gehe ich nicht aus dem Haus. Wohin auch? Ich hab ja kein Ziel.“ Weil ihm die Fabrikarbeit auch zu langweilig wurde, sattelte er auf  Fernfahrer um. Nach der Wende, 1993, hat sich Michael Weber schließlich in Rumänien wieder einbürgern lassen. Er bekam den Grund zurückerstattet und kaufte sich ein Haus. Nur die Ehefrau will von Wurmloch nichts mehr wissen, obwohl sie gar keine schlechten Erinnerungen hat, bedauert er.  „Doch die Kinder kommen gern zu Besuch!“
Ab nächstem Jahr erhält er sogar eine kleine Rente aus Deutschland. Dann will er zumindest die Kühe verkaufen und nur noch um die 60 Schafe halten. „Man lebt hier nicht schlecht“, resümiert der Rückkehrer. „Man darf sich nur nicht in die Politik einmischen und den Fernseher nicht aufdrehen, denn wenn man hört, der und der wurde schon wieder eingesperrt, dann steigt einem die Wut hoch!“

Das schönste Fest der Jugend

Ob es ihm leid tut, dass die Sachsen nicht hiergeblieben sind? „Oh, das wäre ein großes Problem gewesen!“ ruft er spontan aus. „Denn dann hätte jeder seinen Grund zurück gewollt - der Rumäne auch, denn der hat ja den sächsischen Grund gekriegt.“
Nachdenklich fügt er an: „Und wer weiß, ob der sächsische Zusammenhalt überhaupt so wie früher geblieben wäre... Wenn ich mir anschaue, auch bei den Rumänen funktioniert das jetzt nicht mehr. Früher haben wir alle zusammengehalten, Sachsen und Rumänen. Aber heute? Ich hätte nie gedacht, dass das zwischen den Rumänen auch nicht mehr so klappt.“ Dann, leise: „Der Konsum macht die Menschen kaputt. Wohlstand! Wenn du aus Deutschland kommst und hast die Taschen voll, dann hast du heutzutage Freunde. Sonst nicht.“

Wir schlendern durch das kleine Museum. Wehmütig bleibt er vor dem Foto vom Kronenfest stehen. Wenn er den deutschen Besuchern erzählt, das dies das schönste Jugendfest war, dann muss er schon manchmal eine Träne hinunterschlucken.  „Man freute sich auf das Fest!“ erinnert er sich, wohl zum 400sten Mal in diesem Monat. „Es hat schon einen Tag vorher, am Samstag, damit angefangen, dass wir Burschen mit den Mädchen mit Wagen und Pferden auf die Weide rausgefahren sind. Ein bisschen was zu trinken, man musste ja lustig sein!“ Dort pflückten die Mädchen Wiesenblumen zum Schmücken der Krone und für den Strauß, während  die Burschen schlanke Bäumchen fällten, die man rund um den Tanzplatz als Schattenspender für die Blasmusikkapelle und die alten Frauen aufstellte. „Früher waren die Wiesen voll Blumen, was für ein Reichtum das war!“, schildert er mit leuchtenden Augen. Am Festtag durfte dann der dafür vorgesehene Bursche, „der sich am kräftigsten fühlte und bald heiraten wollte“ den 13 Meter hohen Stamm hinaufklettern, einen Schluck aus der Weinpulle nehmen und den aufgehängten Blumenstrauß für seine Liebste mit hinunter nehmen. „Dann wusste die ganze Gemeinde: die beiden werden bald heiraten!“ Doch es kam auch vor – wie in seinem Fall – dass ein Rivale, der um dasselbe Mädchen buhlte, den Kletterer hinunterzuziehen versuchte, um selbst den Stamm zu erklimmen. Spaß oder Ernst? „Jaaa“, sagt Michael Weber gedehnt, „wenn der vor mir raufgekommen wäre – der hätte mich doch zur Schande gemacht! Vielleicht hätte meine Frau dann den anderen genommen, wer weiß?“ Entschlossen fügt er an: „Aber wenn ich etwas anpackte, habe ich es immer geschafft.“

Heute gibt es wieder Kronenfeste – in Rumänien, aber auch in Deutschland, veranstaltet von der dortigen Landsmannschaft. „Doch es ist nicht mehr dasselbe“, meint er leise.
Wir schlendern über den Burghof. Das Wetter hat umgeschlagen, so plötzlich, wie es das Schicksal manchmal tut: 38 Jahre war Michael Weber jung, als er sein Heimatdorf verließ. Donner grollt aus dunklen Wolken, erste Regentropen fallen. Blumen wiegen sich im aufkommenden Wind. „Die hat eine Familie gepflanzt, die in den Ferien hier ein bisschen geholfen und dafür in der frisch renovierten Burghüterwohnung umsonst gewohnt hat“, erklärt er und fügt an, auch für den nächsten Sommer wieder Freiwillige zu suchen, die in der Kirche, im Hof oder bei den Führungen ein wenig helfen.
Die Sitzplätze in der Kirche - er kennt sie noch ganz genau. „Und hier, wo der blumenbemalte Knauf die Bank ziert, das war der Platz der Pfarrersfrau.“ Ich setze mich, den Blick zum prachtvollen Altar gewandt, bereit für eine Zeitreise in Gedanken. Ein Kameraklick von hinten holt mich ins eigene Leben zurück.