Steiniger Weg in die Schwerelosigkeit

Rumänisches Studententeam konzipiert Raketenexperiment für die ESA

Claudiu Cherciu designt am Computer eine Platine, die der Apparat im Hintergrund automatisch fertigt.

Besuch beim DLR in Oberpfaffenhofen (v. li.): Ion Ciobanu, Sorina Lupu, Camil Mureşan, Ioana Ciucă, Laura Manoliu, Claudiu Cherciu

„So müsst ihr die Drähte löten, damit beim Start nicht alles auseinanderfliegt“, instruiert ESA-Mentor Koen de Beule das Team.
Fotos: die Verfasserin (2), privat (1)

Noordwijk - Oberpfaffenhofen - Peking - Kiruna: Kofferpacken ist längst Routine für die sechs Studenten, die sich als erstes rumänisches Team im Raketenprogramm REXUS der Europäischen Raumfahrtagentur (ESA) bewarben und unter Hunderten Konkurrenten einen der wenigen, heißbegehrten Plätze für ihr Experiment gewannen. ADZ-Leser kennen sie noch aus dem letzten Jahr, als Teilnehmer eines NASA-Wettbewerbs (ADZ 23.3.2012: „Ein Mondroboter ‚Made in Romania‘“). Doch diesmal geht es um mehr als nur die Ehre einer guten Platzierung.

Es ist ein echter wissenschaftlicher Versuch, in einer unbemannten Rakete montiert, der im März 2014 von der Startbasis im schwedischen Kiruna in den Weltraum geschossen wird. Erforscht werden soll das mikroskopische Schmelzverhalten der in der Raumfahrt verwendeten Metalle Titan, Vanadium und Aluminium durch einen Laser unter Bedingungen der Schwerelosigkeit. Mögliche Anwendungen der Erkenntnisse reichen von der Vor-Ort-Reparatur von Weltraumstationen über das Schweißen von Satelliten im All bis zu verschiedenen Bereichen in der Grundlagenforschung. Wenn das ehrgeizige Experiment gelingt, dürfen die fünf Studenten des Bukarester Polytechnikums – Teamleiterin Sorina Lupu, Laura Manoliu (beide im zweiten Studienjahr an der Fakultät für Elektronik und Informatik), Camil Mureşan (im zweiten Jahr an der Fakultät für Aeronautik), Claudiu Cherciu (im vierten Jahr an der Fakultät für Automatik und Computertechnik) und Ion Ciobanu (Doktorand an der Fakultät für Automatisierung und Computertechnik) – zusammen mit Ioana Ciucă, die in Durham, England, im ersten Jahr Astrophysik studiert, ihre Ergebnisse 2014 auf der internationalen Astronautenkonferenz präsentieren.

Sehnsucht nach Herausforderungen

Die Idee zur Teilnahme an dem Studentenforschungsprojekt war den Mädchen im Herbst 2012 in den Sinn gekommen, als sie nach dem NASA-Wettbewerb das Internet auf neue Herausforderungen durchforsteten. Schnell fanden sich begeisterte Mitstreiter unter den schon bewährten Kollegen. Nachdem sich die jungen Leute selbstständig ein Forschungsthema ausgesucht und einen Versuchsaufbau ertüftelt hatten, reichten sie ihren Vorschlag bei der ESA ein. Nach dem Auswahlverfahren wurden sie zusammen mit fünf weiteren Gruppen zur Endausscheidung nach Noordwijk ins European Space Research and Technology Center (ESTEC) der ESA eingeladen. Ein Monat später dann die Überraschung: Versuchsaufbau und Präsentation von „Low-Gravity“ – so der selbstgewählte Teamname – hatten die Jury überzeugt! Der Raketenplatz war ihnen sicher –  vorausgesetzt es würde gelingen, das theoretische Konzept bis dahin technisch „weltraumtauglich“ umzusetzen.

Im Frühjahr 2013 erfolgte hierfür eine intensive Trainingswoche am Deutschen Raumfahrtzentrum DLR in Oberpfaffenhofen. Dann im Juni das von unabhängigen Experten am DLR vorgenommene Preliminary Design Review, das „Low-Gravity“ mit Bravour bestand. Nun steht ihnen noch das Vergleichsexperiment unter irdischen Bedingungen bevor, dessen Ergebnis die Studenten auf der „International Astronautical Conference“ vom 20. - 24. September in Peking, China, präsentieren dürfen. Und – wenn alles wie geplant klappt – im nächsten Jahr das Ergebnis aus dem Weltraum zum Vergleich.

Es zum Funktionieren zu bringen ist leicht – den Start muss es überstehen

„Die Chancen stehen gut, dass das Experiment gelingt und uns wertvolle Erkenntnisse einbringen wird“, meint ihr Mentor von der ESA, Koen De Beule, Design-Ingenieur und unterstützender technischer Experte für das Studentenprogramm. Zusammen mit Ylva Houltz von der Swedish Space Corporation (SSC) war er in Bukarest eingetroffen, um mit dem Team die letzten technischen Probleme für den Einbau in die Rakete zu erörtern. 

Gespannt stehen Laura Manoliu, Claudiu Cherciu, Ion Ciobanu und Camil Mureşan (Sorina Lupu und Ioana Ciucă fehlen) im Halbkreis um die Besucher. Es ist brütend heiß im Experimentierraum, den ihnen das Institut für Atomphysik in Măgurele für ihre Arbeiten zur Verfügung gestellt hat, obwohl die Klimaanlage auf Volltouren läuft. De Beule kritzelt mit Marker Schlangenlinien an die Tafel: „So müsst ihr den Draht festlöten, denn sonst lauft ihr Gefahr, dass euch beim Start alles auseinanderfliegt!“ Claudiu macht ein Foto von der Tafel, während Nelu mit einer Platine in der Hand auf eine freie Minute des Mentors wartet. Ylva Houltz beugt sich über die Metallkiste, in der die Bauteile montiert werden sollen.

So wenig Schrauben wie möglich, rät sie, denn durch die Löcher kann Luft ins Vakuum entweichen. Begierig saugen die jungen Leute die Tipps der Experten auf: Kabelstränge verzwirbeln ... mit Superkleber befestigen ... nichts darf mehr als acht Millimeter Bewegungsfreiheit haben. Und die fertige Platine versiegeln.... „Mit Speziallack bepinseln und ausbacken?“ schlägt Ion Ciobanu als Lösung vor. „Das könnte gehen“, nickt de Beule. „Alle Lötstellen müsst ihr auf Defekte prüfen“, fährt er fort. „Mit dem Mikroskop?“ „Nein, nicht nur von außen, denn wenn sich innen eine Blase gebildet hat, explodiert sie im luftleeren Raum und die Lötstelle ist hinüber!“ „Röntgendiffraktion“, schlägt Claudiu als Lösung vor. Der Holländer nickt. Mit müden Augen wird mitgekritzelt. Die Sitzung am Vortag hatte bis zwei Uhr nachts gedauert, denn die kostbare Zeit der Mentoren ist knapp. „Es zum funktionieren zu bringen, ist leicht“, schnoddert de Beule. „Dass es den Start übersteht – das ist die Herausforderung!“

Unschätzbarer Wert für rumänische Raumforschung

Nach anfänglichen Höhenflügen, einer kritiklosen Akzeptanz des Versuchsaufbaus, dem Bestehen des Technical Design Reviews mit Bravour im Vergleich zu den anderen Gruppen stehen die Studenten nun doch ein wenig mutlos da. Denn ihr Mentor hatte soeben vorgeschlagen, den an sich fehlerfreien Aufbau noch einmal neu zu konzipieren – um weitere 700 Gramm einzusparen! Also die ganze mühselige Arbeit nochmal von vorne: Angebote zu Bauteilen einholen, testen, stecken, löten... und die Zeituhr tickt.

Mugurel Bălan schmunzelt. Der Mitarbeiter des rumänischen Raumfahrtinstitutes ISS (Institut de ştiinţe Spaţiale), der als Konstrukteur des ersten rumänischen Nanosatelliten selbst über Raketenerfahrung verfügt, unterstützt das Studententeam mit Rat und Tat, vor allem aber durch Zugänge zu den Geräten und Experimentieranlagen seiner Kollegen. Die Erfahrungen, die die jungen Leute in der Zusammenarbeit mit der ESA sammeln, kämen vor allem der rumänischen Forschung zugute, erklärt der Experte. Denn in der Raumfahrt könne man höchstens ganze Satelliten, nicht aber Teillösungen zur Entwicklung derselben kaufen. Die Prozeduren, Tricks und Kniffe, die das Studententeam jetzt lernt, sei auf viele Bereiche anwendbar und damit Gold wert für das ISS. „Wir haben keine andere Möglichkeit, an derartiges Know-How zu gelangen“, präzisiert er und fügt stolz hinzu: „Claudiu ist seit einem Monat fest bei uns angestellt!“

Sein Vorteil vor anderen Studienabsolventen: Er beherrscht nicht nur die komplizierte Fachsprache mit den spezifischen Akronymen, sondern ist auch mit den dahinterstehenden Prozeduren vertraut. Hinzu kommt die Routine der täglichen technischen E-Mail-Kommunikation mit der ESA auf Englisch. „Die Ausbildung eines neuen Angestellten ist langwierig und kostet Geld. Claudiu hat mit dem Geld anderer gelernt - und wir profitieren davon“, freut sich Bălan. Längst ist zwischen den Mitgliedern von „Low-Gravity“ und dem heimischen Mentor eine herzliche Freundschaft entstanden.

„Wir würden uns mehr Teilnehmer an internationalen Projekten wünschen“, erklärt dieser. Denn die Studenten lernen nicht nur technisches Know-How, sondern auch Offenheit und Teamfähigkeit und werden in ihrem Enthusiasmus bestärkt.

Fit für die moderne Wissenschafts-Community: Teamwork statt Mauern

Auch Koen de Beule hatte der Leitung der Politehnica-Universität erklärt, er hoffe von nun an in jedem Jahr auf eine Teilnehmergruppe aus Rumänien, zumindest für die Vorausscheidung. Dass die ESA durch Studentenwettbewerbe insgeheim auf die Abwerbung der besten Köpfe ziele, sei ein Mythos, der sich hartnäckig in der Presse hält, stellt der Holländer richtig. Wichtig sei jedoch, dass der in der internationalen Wissenschaftlergemeinschaft so wichtige Teamgeist überall-hin vordringe. Denn nicht der Traum vom eigenen Nobelpreis und das geheimniskrämerische Hüten erworbener Fähigkeiten führe zum Erfolg, sondern das Teilen von Fachwissen. „Nur gemeinsam sind wir stark“, erklärt de Beule und setzt, zu den Studenten gewandt, hinzu: „Ylva und ich haben uns gestern zum ersten Mal getroffen – doch keiner von uns schaut, welche Fehler der andere macht, denn wir haben hier ein gemeinsames Ziel.“ Dann, mit Nachdruck: „ESA ist ein Team!“

Leider wird die Teilnahme an Studentenforschungsprojekten an rumänischen Unis viel zu wenig ermutigt, beklagt Mugurel Bălan. Auch im Inland würden staatliche Fördergelder an Professoren nicht für Studentenprojekte, sondern nur für „seriöse Forschung“ vergeben – die völlig falsche Strategie! So führt bisher nur Eigeninitiative und Begeisterung rumänische Studenten zur Teilnahme an solchen Programmen. Eigenschaften, auf die allerdings auch das ISS bei der Einstellung von neuen Mitarbeitern setzt – denn nur diese treiben zu Höchstleistungen an!

Seit ihrer Bewerbung bei der ESA sind die sechs Studenten längst zu einem funktionierenden Team zusammengewachsen, die nicht nur ihr Projekt, sondern auch Freundschaft verbindet. „Was habt ihr seit Beginn des Projekts gelernt, außer Fachwissen“, frage ich sie, während sich die ESA-Leute zur abschließenden Bewertung zurückzogen. „Die richtigen Fragen zu stellen“, meint Camil Mureşan spontan, „Fragen, die tatsächlich relevant sind.“ „Geduld“, bekennt Ion Ciobanu, „denn was theoretisch einfach ist, erreicht man in der Praxis oft nur durch immer wieder neue Annäherung“. „Aufgaben zu teilen und dadurch schneller voranzukommen“, wirft Laura Manoliu ein. „Breadbording“, flachst Claudiu Cherciu und meint damit das ständige, flexible Umkonzipieren eines elektronischen Schaltbretts – so, wie man auf dem Brotbrett Häppchen hin- und herschiebt. Hinzu kommt der Mut und die Offenheit, sich auf internationalem Parkett zu orientieren und zu bewegen. Laura hat gerade einen Monat Hamburg hinter sich – im Rahmen des DAAD-Austauschprogramms hatte sie dort einen Deutschlehrgang absolviert. Ion Ciobanu wird demnächst im Rahmen eines Stipendiums sogar nach Japan reisen.

Aber auch die Präsentation ihrer Arbeiten, die Kommunikation mit Firmen auf der Suche nach passenden Bauteilen, Pressearbeit und das Werben um Sponsoren mussten die jungen Leute lernen. Die Regeln der ESA sehen vor, dass die Gruppe – mit Ausnahme von Reisen zu Ausscheidungen und Vorbereitungskursen – alle Mittel für ihr Experiment, so wie die Flüge zum Raketenstart nach Kiruna, selbst aufbringt. Keine leichte Aufgabe im krisengeschüttelten Rumänien. „Wir hoffen dennoch weiterhin auf Sponsoren“, erklärt Laura Manoliu, zu deren Aufgabe es gehört, potenzielle Geldgeber zu werben. Der Topf sei mit der China-Reise vorerst leer, doch die Mentoren hätten ihnen trotzdem geraten, als gesamtes Team an der Konferenz teilzunehmen. Und das Studium? Die jungen Leute rollen mit den Augen. Ach ja, Prüfungen stehen ja auch bald wieder an...