Theologe, um Dorfpfarrer zu werden

ADZ-Interview mit dem Theologen, Historiker und Politiker Prof. Dr. Dr. h.c. Paul Philippi (II)

Wir setzen heute das Interview fort, das ADZ-Redakteurin HanneloreBaier mit Prof. Dr. Dr. h.c. Paul Philippi anlässlich seines 90. Geburtstags geführt hat. Der erste Teil des Gesprächs erschien in unserer gestrigen Ausgabe.


Für jene vielleicht überraschend, die es nicht wussten, sagten Sie in der Dankesrede, dass Sie siebenbürgischer Dorfpfarrer werden wollten, statt dessen wurden Sie Heidelberger Universitätsprofessor. Im Verständnis von Otto Normalverbraucher ist jedoch eine Karriere als Universitätsprofessor wünschenswerter als jene des Dorfpfarrers.

Ich war nicht Theologe geworden, um Universitätsprofessor zu werden, sondern weil ich Dorfpfarrer werden wollte. Ich hatte auch nicht im Sinn zu promovieren. Ich war nach meinem vierten Semester, als ich in systematischer Theologie ein gutes Referat gehalten hatte, vom Professor aufgefordert worden zu promovieren. Ich ging nach Zürich und schrieb ihm von dort, ich sei nicht abgeneigt, wissenschaftlich weiterzuarbeiten. Er machte ein Dissertationsthema mit mir aus und ich promovierte in Erlangen. Inzwischen war ich da Assistent gewesen, wurde dann aber nach Heidelberg gerufen und habe mich dort habilitiert. Auch das hatte ich eigentlich nicht im Sinn, bin aber dazu aufgefordert worden und bin so schließlich Professor geworden.

Was ich nicht gemacht habe: Ich bin keiner deutschen Landeskirche beigetreten, weil ich mich als Glied der evangelischen Kirche Siebenbürgens angesehen habe und dorthin zurückkehren wollte. Auch da hat man gewusst, dass ich hier Pfarrer werden will. Dechant Schön in Honigberg hatte im Sinn, mich eventuell ins Burzenland als Nachfolger auf seine Pfarre zu holen, oder als Nachfolger von Dechant Paulini nach Petersberg zu rufen. Das aber hat von hier aus nicht geklappt.


Wie vermittelt man Leuten heutzutage, dass es im Leben auch Wichtigeres gibt, als eine bestimmte Position oder Stufe auf einer Karriereleiter zu erreichen?

Das ist schwer zu sagen. Der Individualismus ist heute sehr zum Dogma des Lebens geworden. Das war zu unserer Zeit nicht ganz so. Wir sind wohl auch falschen Idealen nachgelaufen, haben uns aber bestimmten Lebenszielen verpflichtet gefühlt. Das gilt, glaube ich, von unserer ganzen Generation, wiewohl sich nachher viele zum Individualismus bekehrt haben; so könnte man sagen. Nun: Ich habe an bestimmten Werten festgehalten und hatte das Glück, eine Frau zu haben, die bereit war, mit mir hierher zurückzukehren. Dass es, besonders auch für sie, nicht leicht war, dürfte verständlich sein.


Und sind dabei gegen den Strom geraten, der in umgekehrte Richtung wanderte ...

Ja, das ist mir klar. Ich bin mir auch nicht als Vorbild vorgekommen. Auch hab ich mich nie gegen jene ausgesprochen – das sage ich gegen verbreitete Gerüchte – die auswanderten. Ich habe aber gegen die Stellung bezogen, die die Auswanderung zum Dogma erhoben haben, und zwar hauptsächlich vom Westen her: Die hatten bereits im Jahre 1954 an Bischof Müller einen feierlich-pathetischen Brief geschrieben, dass sie alles tun werden, um alle Siebenbürger Sachsen auszusiedeln und ihn, Müller, hatten sie fast bedroht, sich dagegen zu stellen. Die Aussiedlungsparole hatten sie in der deutschen Medienlandschaft als die einzige Möglichkeit der Rettung verkauft. Denen habe ich, zusammen mit anderen, widersprochen und so bin ich mit ihnen in einen innersächsischen Pressekrieg geraten. Aber mit denen, die von hier hinausgedrängt haben, hatte ich keine Konflikte. Es sei denn, sie wären nach ihrer Auswanderung in den dort geführten „Pressekrieg“ mit eingetreten.


Anlässlich Ihres 80. Geburtstages hatte ich nach Ihrem Credo gefragt und da hatten Sie gesagt, „es war zunächst die Überzeugung, dass das kirchliche Leben der siebenbürgischen Heimat, in das ich hineingeboren worden war, eine Gottesgabe darstellte. Der blieb ich dankbar verpflichtet. Einem unserer Auswanderer gegenüber, der mich in den achtziger Jahren fragte, was mich bewogen habe, meine Stellung in Deutschland mit Hermannstadt zu vertauschen, habe ich damals auf seinem Weg zum Bahnhof gesagt: Die Werte, für die wir als Gemeinschaft hier leben oder sterben, erscheinen mir größer als die Werte, für die wir dieses Zuhause als Einzelne (oder als Familien) verlassen.“ Diese Werte, oder dass diese Werte schwerer wiegen, stellt man erst fest, wenn man gegangen ist. Wie kann man vermitteln, welche Werte Leute verlassen, die sich zur Ausreise entscheiden, bevor sie es tun?

Das ist ausgesprochen schwer. Das habe ich selbst an Verwandten gemerkt, mit denen ich damals in Hermannstadt darüber gesprochen habe. Ich denke hier an einen Vetter, der das absolut nicht so sehen wollte wie ich. Auch habe ich aus Einzelschicksalen begriffen, dass es hier für manche Einzelne kaum auszuhalten war. Aber im Großen und Ganzen halte ich das Pathos, mit dem Ausgewanderte heute ihren Entschluss begründen und bekleiden, für falsch. Das gilt vor allem für die Auswanderer der Jahre nach 1990. Vor 1990 gingen die meisten, weil „die anderen“ gegangen waren. Weil „alle“ gehen, muss auch ich gehen. Auswanderer A hat den zunächst zum Bleiben entschlossenen B veranlasst, unsicher zu werden, C wurde durch ihn veranlasst einzureichen und wenn dann auch C, der „eingereicht“ hatte, gegangen war, hat auch der B „eingereicht“. Zirkelschlüsse und Sogwirkung! Auch trifft teilweise zu, was unser Freund Voltaire (Pfarrer Walther Seidner) formuliert hat: Die Skandinavier seien schuld an der Auswanderung: Nor wegen Dene Mark seien viele gegangen.


Als Sie nach einer erfolgreichen Karriere in Deutschland nach Rumänien kamen, war es da nicht verständlich, dass die Leute munkelten, Sie seien gekommen, um hier Bischof zu werden?

Dass der eine oder andere das vermutet hat, mag verständlich sein. Unfair war, dass dies, obwohl ganz aus der Luft gegriffen, öffentlich lanciert wurde. Dr. Oskar Schuster z. B. hat es in die „Siebenbürgische Zeitung“ gesetzt, ausgewanderte Pfarrer haben es im deutschen Fernsehen gesagt und in etwas abgewandelter Weise hat es dann auch ein ehemaliger Vizepräsident des Deutschen Bundestages in Dinkelsbühl verkündet. Dagegen konnte ich mich nicht wehren. Dem Herrn vom Bundestag habe ich wohl einen Brief geschrieben, er hatte es nicht nötig, mir darauf zu antworten.

Warum hätten Sie Bischof nicht werden können?

Weil ich zum Beispiel Untersturmführer der Waffen-SS gewesen bin. Es wäre in jener Zeit für unsere Kirche katastrophal gewesen, wäre durch die westlichen Medien gelaufen, dass ein ehemaliger Untersturmführer der Waffen-SS bei uns Bischof werden kann. Was wäre das für ein Signal für die Öffentlichkeit gewesen? Außerdem muss man, um Bischof zu werden, als Person erst erwünscht sein und gewählt werden. Das konnte ich keinesfalls erwarten.

Gemunkelt wurde – und auch lanciert – dass Ihre Rückkehr ins Land durch eine Verpflichtungserklärung Ihrerseits bei einem rumänischen Sicherheitsdienst ermöglicht wurde.

Auch diese Vermutung kann man begreifen und nicht behindern. Freie Erfindung steht jedem offen. Andere haben das Gegenteil vermutet: Ich sei als westlicher Spion eingeschleust worden. Beides ist unzutreffend. Vielleicht sollten Sie Stefan Sienerth bitten, sich meine Securitate-Akten vorzunehmen, so lang ich noch am Leben bin.

Vorgeworfen wurde Ihnen, mit der deutschen Rente sei es leicht in Rumänien zu leben. Bekamen Sie die deutsche Rente bereits 1983?

Nein. Als ich kam, wurde ich vom baden-württembergischen Ministerpräsidenten Lothar Späth „bis zu meiner Emeritierung ohne Bezüge beurlaubt“. Die evangelische Kirche hat dann allerdings meiner Familie geholfen und ihr eine „Sustentationsbeihilfe“ gezahlt, damit meine Kinder ihren Schul- und Hochschulabschluss machen können. Die Jüngste war damals noch minderjährig, die anderen waren an der Schwelle des Studiums bzw. im Studium drin.

Waren die Kinder einverstanden mit der Familientrennung?

Die Kinder sind da nicht gefragt worden. Aber sie wussten seit Jahren, dass ich die Tendenz hatte, nach Siebenbürgen zu gehen, und haben das geschluckt. Die Jüngste, das hat sich nachträglich herausgestellt, hat unter dem Weggang des Vaters und dann später auch der Mutter gelitten. Wir haben versucht, das in der Familie aufzuarbeiten. Die Kinder hatten aber in dieser Frage kein Stimmrecht – während sie sonst in der Familie durchaus Stimmrecht hatten.

Wie oft konnten Sie in den Jahren bis 1990 Ihre Familie bzw. die Kinder sehen?

Im Prinzip immer. Praktisch sehr selten. Mein großer Vorteil war: Ich hatte den deutschen Pass in der Tasche. Das hat man mir natürlich immer wieder vorgehalten und mich auch beneidet. Zwar hatte ich nie das Ansuchen um die deutsche Staatsbürgerschaft gestellt, bin also formell nie deutscher Staatsbürger geworden, war aber nach dem deutschen Grundgesetz „an Rechten und Pflichten einem Deutschen gleichgestellt“ und hatte somit einen deutschen Pass. Auch das ist oder wäre eine lange Geschichte, denn im Verlauf der Jahre hatte ich drei unterschiedliche Pässe: Im ersten stand bei „Staatsbürgerschaft“: „vormals rumänisch, jetzt ungeklärt“, dann hieß es „Deutscher“, nicht „deutsch“ – und erst in der dritten Phase wurde in den Pass bei Staatsbürgerschaft „deutsch“ eingetragen.

Als ich im Jahre 1982 bei der deutschen Botschaft in Bukarest erschien als einer, dem die rumänische Staatsbürgerschaft wieder anerkannt worden war, da hat man mir gesagt, ‘Ich gratuliere Ihnen, dass Sie die rumänische Staatsbürgerschaft haben, aber ab jetzt können wir sie nicht mehr schützen.’ Ich war also seit 1982 als rumänischer Staatsbürger ohne deutschen Schutz. Und das hat meine Frau auch akzeptiert. Sie hat bei den rumänischen Passämtern manches erlebt, ist aber auch öfter zu den Kindern gefahren als ich.


Dass die evangelische Kirche Sie vor der politischen Wende in kein Gremium aufgenommen hat, ist aus heute nachvollziehbaren Ängsten plausibel. Aber wie ist zu erklären, dass diese Ausgrenzung nach 1989 fortgeführt worden ist?

Ich habe persönlich diesbezüglich nichts zu erklären, es war ja nicht meine Entscheidung. Aber ich bin mit Ihnen der Meinung, dass ich nach der Rückkehr 1979, 1983 selbstverständlich zeigen musste, dass ich bereit war, hier unter den gleichen Bedingungen zu leben, unter denen ein normaler Siebenbürger Sachse zu leben hatte. Das habe ich akzeptiert und mich niemals gewundert. Es hat sich dann so ergeben, dass ich auch nach 1990 nicht mehr die Möglichkeit bekam, in einem Gremium stimmberechtigt mitzuwirken. Das hängt vielleicht damit zusammen, dass ich Gründungsmitglied des Forums war und mich in die Politik stark hineingemischt hatte. Zu der Zeit als Thomas Nägler Vorsitzender war, waren Horst Weber und ich seine unmittelbarsten Mitarbeiter und haben weithin für ihn, den Erkrankten, die Arbeit gemacht.

Ich hatte mich also in die Politik hineingemischt und das war vielleicht ein Grund, weshalb ich kirchlich eher auf Distanz gehalten wurde. Ich erinnere mich, dass ich bei den ersten Wahlen in Rumänien nach 1990 in einer Bezirkskirchenversammlung als Besucher teilnahm und die Leute vorsichtig aufrief, sie sollen zum Wählen gehen und dabei beachten, dass auch unser Forum Kandidaten aufgestellt habe. Da hat mir der damalige Dechant das Wort abgeschnitten und gesagt, das gehört nicht her. Keine Politik! Es ist sogar gesagt worden, das Forum wolle gegenüber der Kirche eine Stellung beziehen, wie es seinerzeit die „Volksgruppe“ des Andreas Schmidt getan hatte. Gewiss: Eine Fehlsicht. Aber als unterschwellige Tendenz bei manchen noch zu spüren.
Vielleicht hatte man diese Tendenz aus den kommunistischen Jahren, als man zu den Vertretern des Rats der Werktätigen deutscher Nationalität auch lieber keinen Kontakt haben wollte, weil man wusste, das ist der verlängerte Arm der Partei.
Erklärlich mag es sein und ich habe niemandem einen Vorwurf nachzutragen. Ich bin deswegen auch niemandem gram.

Sie sind eine der kritischen Stimmen und die spitze Feder des Forums. Was würden Sie anders machen, als es die derzeitige Forumsleitung tut?

Ich habe keine Vorbehalte gegen das, was die Forumsleitung heute tut. Ich gehöre ja mit zum Vorstand. Perspektivisch müssten wir vielleicht in mancher Hinsicht noch weiter nach vorne denken. Das aber habe ich in meinen Vorträgen, „Worten“ und Publikationen im Rahmen des Forums immer wieder ausgedrückt. So habe ich gegen die Forumsrichtung nichts einzuwenden. Im Gegenteil. Wir sind alle gehalten, positiv – und das heißt durchaus: auch kritisch! – mitzudenken.