Touristentreff, keine Warteschlangen, Mahnwache

Rund um das Hermannstädter Rathausgebäude

Das Bild der Nordwestseite des Hermannstädter Großen Rings bestimmen das Gebäude des Bürgermeisteramtes im Jugendstil und die römisch-katholische Stadtpfarrkirche.

Im Bürgermeisteramt führt der Weg nach oben an einem gläsernen Farbkaleidoskop vorbei.
Fotos: der Verfasser

„Ein Mensch, zu kriegen einen Stempel,/Begibt sich zum Beamten-Tempel/Und stellt sich, vorerst noch mit kalter/Geduld, zum Volke an den Schalter.“ Die Reime des Münchners Eugen Roth (1895-1976) treffen den Nagel sauber auf den Kopf, wenn man als Otto Normalbürger auf der Suche nach frappierenden Beschreibungen der Sackgassen des Alltags in jenen Gedichtsammlungen nach Antworten stöbert, die sich wie eine bestellte Fortsetzung der Buchstabenkunst eines Wilhelm Busch (1832-1908) lesen lassen. „Zur Warnung“ lautet die Überschrift des zitierten Eugen-Roth-Gedichtes. Wovor muss man in Hermannstadt, dem Ort des EU-Gipfels am Donnerstag, dem 9. Mai 2019, warnen? Vor den Grundbedürfnissen der erwarteten Menschenmassen, die sämtliche städtische Unterkunftskapazitäten bis auf das letzte verfügbare Kopfkissen und den letzten Wasserhahn komplett ausgebucht haben? Oder nicht etwa doch vor den Eigenheiten des Rathausgebäudes am Großen Ring/Piața Mare, dessen drin Beschäftigte sich am Tag des EU-Gipfels die Etikette eines international gefragten Gastgeberteams bestätigen lassen können? Eine simple Angelegenheit, wäre das Hermannstädter Bürgermeisteramt alleiniger Nutznießer der 1906 im Jugendstil erbauten Immobilie.

Gut zwei Drittel des Gebäudes werden vom Bürgermeisteramt belegt, dessen sechs Eingangspforten die Sonnenseite der Fassade zieren. Auf der von Architekt Hermann Fabini am 30. Dezember 1999 im Maßstab 1:2880 fertiggestellten und Januar 2000 herausgegebenen Straßenkarte „Hermannstadt. Plan der Altstadt“ ist der unregelmäßig polygonale Grundriss des Nachbargebäudes der römisch-katholischen Stadtpfarrkirche deutlich zu erkennen. Die Rathauseingänge sind nach den Buchstaben A bis F benannt und öffentlich zugänglich. Es werden weder Eintrittsgebühren erhoben noch mahnende Zurückweisungen ausgesprochen. Stadtbewohnern, die an den Schaltern des halbdunkel ausgeleuchteten Erdgeschosses oder auf den breiten Fluren der Etagen rings um den überdachten Innenhof einen Behördengang zu absolvieren haben, sieht man die augenblickliche Befindlichkeit an, die sich in allen erdenklichen Gesichtszügen von gelöster Zufriedenheit bis zur ungeduldigen Nervosität widerspiegelt.

Im Rathaus ist das Schlangestehen kaum anzutreffen, sobald man einen Vergleich mit dem Postamt in der zentralen Fleischergasse/Mitropoliei oder gar der Riesenimmobilie auf der Jungen-Wald-Straße/Calea Dumbrăvii, dem regionalen Sitz der Steuerbehörde (Agenția Națională de Administrare Fiscală, ANAF), anstellt. Läuft das Prozedere nicht wie gewünscht, wird an den Schaltern beider Behördenfilialen gerne geschubst, geschimpft und gestritten. Aber mal ganz ehrlich: Ist es nicht wirklich zum Aus-der-Haut-Fahren, wenn man einer nach zig Dienstjahren abgestumpften Beamtin beim Hantieren unzähliger Papiervorlagen zuschauen muss, ehe man seine Unterschrift in einen winzigen Freiraum eines Formulars kritzeln darf und die finale Geduldsprobe beim Abholen eines Einschreibens heroisch bestanden ist? Für ihr steinzeitliches Management sollte sich die rumänische Post in Grund und Boden schämen!

Dabei hat das digitale Zeitalter eine Fülle an Optionen auf Lager, die den Saftladen im Handumdrehen in eine kundenfreundliche Behörde verwandeln könnten. Aber nein doch, bitte nicht träumen, sondern sich stattdessen an den „Passierschein A38“ erinnern, der die gallischen Comic-Helden der Autoren René Goscinny und Albert Uderzo im Zeichentrickfilm „Asterix erobert Rom“ zur Weißglut bringt. Seit 1976 treibt der bunte Streifen, auf dessen Lachgarantie Kinder und erwachsene Fans schwören, sein geliebtes Unwesen auf den Bildschirmen aller Erdteile. Die elf Minuten lange Episode „Das Haus, das Verrückte macht“ ist auf Youtube abrufbar und als Gebrauchsanweisung für Beamten-Tempel wärmstens zu empfehlen.

Kein Standort schwergängigster Verwaltung ist das Hermannstädter Bürgermeisteramt. Klaus Johannis eilt der Ruf nach, in einer vierzehnjährigen Amtszeit ab Sommer 2000 Apparat und Geschäftsordnung des Rathauses auf Vordermann gebracht zu haben. „Mein Verhältnis zu Behörden war nicht immer ungetrübt/Was allein nur daran liegt, dass man nicht kann, was man nicht übt/Heute geh´ ich weltmännisch auf allen Ämtern ein und aus/Schließlich bin ich auf den Dienstwegen so gut schon wie zu Haus“ - ein Gedicht wie den kompletten Text der Pa-rodie „Antrag auf Erteilung eines Antragsformulars“ (1978) von Liedermacher Reinhard Mey kann man sich als Dauerklient des Hermannstädter Bürgermeisteramtes längst als geschmolzenen Schnee von gestern denken. Im Rathaus am Großen Ring wird einem das „Üben“ so viel wie möglich erleichtert. Einen der vordersten Ränge in Sachen Freundlichkeit belegt Hermannstadt im rumänischen Schnitt. Die Folgen hiervon können sich zeigen lassen und haben den Himmel über der Europäischen Kulturhauptstadt des Jahres 2007 zu einem touristischen Anziehungspunkt mit der Kraft eines Dauermagneten geformt.

Vor dreizehn Jahren wurde das gründlich sanierte Gebäude der ehemaligen Bodenkreditanstalt zum Sitz des Bürgermeisteramtes umfunktioniert. Seine Eingänge können zu allen Öffnungszeiten von Einzeltouristen ohne Einschränkung durchschritten werden. Gruppen sind nur in begrenzter Größe sowie ausschließlich auf Voranmeldung willkommen. Informationen und Kontaktdaten bietet die Homepage www.sibiu.ro. An einigen der Eingänge wollen Pförtner in einer Kabine vom Besucher erfahren, wohin die Stippvisite geht. Man darf ihnen freundlich antworten, den mit Glas überdachten Innenhof aus nächster Nähe besichtigen oder einen Blick auf das Buntglasfenster im zentralen Treppenhaus erhaschen zu wollen. Ansonsten ist man als Tourist im Informationszentrum am Eingang F an der Südostseite direkt gegenüber des Glockenturms der römisch-katholischen Stadtpfarrkirche herzlich willkommen.

Ein paar Schritte weiter an der Fassade des Rathausgebäudes tut sich eine Welt auf, die sich von derjenigen der Stadtverwaltung grundlegend unterscheidet. Die Trennlinie ist nicht nur allein im sozialen Gehabe, sondern auch im äußeren Farbanstrich der Immobilie erkennbar. In Fortsetzung der Eingänge E und D des Bürgermeisteramtes befindet sich die Türe einer Zahlstelle der Wasserwerke S.C. Apă Canal S.A., wo sich hin und wieder urbane Szenen abspielen, die eher in die staatlich verrosteten Schubladen von Post und Steuerbehörde statt unter die Richtlinien des menschenfreundlich geführten Rathauses fallen. Unweigerlich schmunzeln muss man über polternde Rentner, die sich ein Wortgefecht mit den geschwätzigen Sekretärinnen hinter der Glaswand liefern, weil angeblich die Rechnung mal wieder nicht stimmt. Der überaus freundliche Sicherheitsangestellte der Zahlstelle und ein an der Wand befestigter Textauszug eines europäischen Wirtschaftsabkommens der 60er-Jahre, der den sparsamen Umgang mit Wasser betont, können der knorrigen Streitsucht einiger Kunden nichts anhaben.

Auf der anderen Seite der Immobilie macht ein kleiner Tante-Emma-Laden mit Regalen voll trockenem Blätterteig, Chips, Emulgatoren und kohlensäurehaltigen Softdrinks das alltägliche Pausenrennen unter den Schülerinnen und Schülern des Samuel-von-Brukenthal-Gymnasiums am Huetplatz und des Kunstgymnasiums in der Pempflingergasse/Alexandru Odobescu. Ein Auge weint wegen des aus der Mode gekommenen Pausenbrotes von daheim, das andere Auge aber versucht ein halbes Lächeln, wenn Minderjährige ihr Taschengeld immerhin für Fastfood statt für Zigaretten ausgeben. Und weil mit Geld nicht nur Fertigpräparate, sondern auch abgesteckte Pauschalreisen in alle Welt bezahlt werden, empfängt das kleine Reisebüro „Transair Agency“ nebenan Gäste, die das Forschen nach billigen All-Inclusive-Zielen an Verkaufsprofis delegieren.

Nach dem Ersten Weltkrieg diente das Rathausgebäude als Quartier einer Filiale des CEC-Kreditinstitutes, auch hatte die Kommunistische Partei Rumäniens zeitweilig ihren Sitz darin. Eine Herausforderung der anderen Art stellt der EU-Gipfel am 9. Mai dieses Jahres dar, werden doch Regierungschefs und Spitzenpolitiker der Europäischen Union sich ein Stelldichein in Hauptkorridoren und nobel hergerichteten Treppenhäusern geben. Der rote Teppich ist ihnen sicher. Sicher ist auch, dass die Mahnwache einer kleinen lokalen Stammgruppe, die seit Dezember 2017 um 12 Uhr täglich eine Viertelstunde lang stumm gegen die von der PSD korrupt geführte Regierung Rumäniens protestiert, an diesem Stichtag ganz besonders beharrlich inszeniert werden wird. Auf der geografischen Schattenseite des Rathausgebäudes hat die Hermannstädter PSD-Kreisfiliale populistische Parolen an ihre Fensterscheiben gepinnt, um den friedlichen Demonstranten von gegenüber das geistige Wasser abzugraben. Am Glas klebt die Floskel „PSD. Indrăznește să crezi în România!“ (Wage es, an Rumänien zu glauben!).

Manchmal halten flanierende Gäste oder Touristen an der Mahnwache „Vă vedem din Sibiu“ (Wir beobachten euch aus Hermannstadt) inne, stellen den Demonstranten Fragen oder schließen sich flugs der tonlosen Kundgebung an. Wie werden sich wohl die ranghohen Damen und Herren der Europäischen Union am 9. Mai 2019 um 12 Uhr in Hermannstadt gegenüber der Schattenseite des gastgebenden Rathausgebäudes verhalten?