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Zur Berliner Diskussionsrunde um den Fall Eginald Schlattner

Eginald Schlattner als „Kronzeuge“ im Schriftstellerprozess 1959

Vor Kurzem sind in einem Leipziger Verlag Josef Haltrichs „Siebenbürgische Märchen“ in einer Neuauflage erschienen. Dem Bannkreis der Brüder Grimm recht nahe stehend, begegnen wir auch in der siebenbürgischen Märchenüberlieferung immer wieder dem Motiv des Bauern mit seinen zwei Söhnen, die durch Geburt oder Erziehung ganz verschieden um das väterliche Erbe oder sogar um die Königstochter erlesene Mühsal und Plage auf sich nehmen müssen. Meistens bekommt der Einfältigere Schaf und Kuh, ja sogar die holde Maid. Am 3. Mai schlug die Berliner Deutsch-Rumänische Gesellschaft e.V. bei ihrem gut besuchten Jour Fixe kein Märchenbuch, sondern Securitateakten auf. Weit zurück, fast schon im Reich der Legende, liegt auch der Ursprung dieser rumänischen Geheimdienstgeschichten, in deren tiefen Brunnen zwei kompetente Forscher und Sammler Licht brachten. Die Literaturwissenschaftlerin und exzellente Kennerin der rumäniendeutschen Poetenblüten und Dornen, Dr. Michaela Nowotnick, sowie der unbestechliche Durchstöberer der Securitatepapiere, William Totok, rollten in Wort und Bild einen spannenden Film über die Kronstädter Geschehnisse vor bald sechzig Jahren ab. Eingehend auf den bekannten (oder vergessenen) „Schriftstellerprozess von 1959“ konzentrierten sich die beiden Referenten auf die Wahrheitssuche um den „Fall Schlattner“. Alle Zuhörer, die da dachten „schon wieder“, nahmen neue Erkenntnisse mit sich, endlich. Michaela Nowotnick und William Totok verstanden es überzeugend, aus besagtem Brunnen der Vergangenheit klares Wasser zu schöpfen.

Es war so oft vergiftet, dass es sich erübrigt, hier noch einmal die Eimer auszuschütten. Nachweisbar ist, um den berühmten „Kronzeugen“ in jenem Schauprozess, Eginald Schlattner, wurden Akten manipuliert und Übersetzungen verfälscht. Michaela Nowotnick: „Es konnten Mechanismen ausfindig gemacht werden, die Gerüchte zu Wahrheiten werden lassen“. Die zwei Brüder aus der sich immer mehr selbstständig machenden siebenbürgischen Sage um den Schriftstellerprozess haben jeder auf seine Art die Königstochter erobert. Hans Bergel thront in seiner Kirchenburg neben München, Eginald Schlattner in seiner Weltstadt Rothberg neben Hermannstadt. Und alles andere muss sich dem Lauf der Geschichte fügen. Verhaftungen, Gefängnis und Verbannung waren und sind für die Betroffenen gelebte Tragödien, für die sich heute im Volkstanz Drehenden aber oftmals nur unheimliche Gerüchte. Genaue Nachrichten gab es in jenen frühen kommunistischen Jahren sowieso nicht, Tatsachen mussten als Getuschel, als Mitteilung unter der Hand, als Vermutung, eben als Gerücht eingefangen werden. Von den verhafteten Schriftstellern in Kronstadt gab es nur heimliche Gespräche.

Voller Selbstverständlichkeit war man gegen das aufgezwungene Staatssystem, hielt sich mehr oder weniger aus der Tageslüge heraus, hörte mit achtungsvoller Anteilnahme von den eingesperrten Zeitgenossen, fügte sich aber auch ins Schweigen. Gegen die unsichtbare, aber überall spürbare Macht der Securitate begehrten die wenigsten auf. Das Landgefängnis Rumänien lag dunkel über dem Tagesgeschehen, das jedoch gegen die Liebesnacht, das Lied, das gute Buch, den Wein und den Frühling überhaupt auch machtlos war. Die Schriftsteller hinter Schloss und Riegel interessierten weniger als Künstler oder Dichter – was ist das schon in Siebenbürgen – sie geisterten mehr als allgemeines Leid und Verbrechen durch das aufgescheuchte Sachsenvölkchen. Die bittere Wahrheit ist, ihr Schicksal wird heute viele Jahre nach Prozess und Kerker wie eine Rechtfertigung vor der Diktatur zerredet. Damals mussten sie gegen ihre elitäre Unbekanntheit kämpfen, Aichelburg wurde kolportiert, weil er extravagant und homosexuell war, aber nicht seiner Gedichte wegen, Andreas Birkner hatte sein bestes Buch „Die Tatarenpredigt“ noch nicht geschrieben, und Harald Siegmund war weniger bekannt als sein Vater, der sehr gefragte Uhrmacher in Kronstadt. Tatsache ist, drei Namen waren den Siebenbürger Sachsen in Sachen Literatur geläufig: Michael Albert, wohlverwahrt auf dem Schäßburger Friedhof, Wittstock und Meschendörfer, beide lebendig vorhanden und in vaterländischer Freiheit weiter schreibend, von niemandem abgeklopft auf ihre völkischen Sprüche von ein paar Jahren zuvor.

Lebten wir in jenen tristen Jahren vielleicht zu blauäugig und zu abgehoben von der gefährlichen Wirklichkeit? Ließen wir uns zu widerstandslos auf ein sächsisches Abstellgleis schieben, um uns ja nicht im Dampf der roten Lokomotiven zu verbrennen? Und die unter die Räder Gekommenen, warum wurden sie nur im stillen Gebet und nicht in der Kanzelpredigt beim Namen genannt? Heute ist Information alles. Meinungsbildung wird über alles angepriesen. Von 1946 an lebten wir ohne Information. Die Meinungsbildung war handgestrickt und Zufälligkeiten unterworfen. Eine Wahrheit wurde uns aufgetischt, die aus einer maßgeschneiderten, pervertierten Lüge entstanden war. Einige konnten sehr gut damit leben, andere zerbrachen an ihr. Nichts wissen und trotzdem hoffen, man habe etwas erfahren, etwas erhascht, was auch ein in die Irre führendes Signal sein konnte. Ein aufgebürdetes Geheimnis durfte oder konnte man nicht loswerden, ohne sich und andere zu gefährden. Dies alles gehörte zum böswilligen Zeitvertreib in jenen Jahren. Wir lernten zwischen den Zeilen lesen, stellten auch den einfachsten Aussagesatz in Frage, waren überzeugt, auf Papier werden nur Lügen geschrieben, jeder Lautsprecher verbreitet nur Unwahrheiten. Heute müssen wir Überlebenden aus diesem Wirrwarr von Lug- und Truggeschichten zur Kenntnis nehmen, dass jenen Spezialisten des Betruges und der Wortverdrehung, der verhassten Securitate ein gnädiges Ohr geschenkt wird. Die Securitate als Berichterstatter und Zeuge unseres gelebten Lebens. Den Triumph sollen wir ihr nicht gönnen. Schlagen wir nach in unserem Tagebuch, nicht in dem der Securitate.

Eginald Schlattner hat uns mit seinem Roman „Rote Handschuhe“ einen literarischen Wegweiser in das menschliche Dickicht jener Jahre mitgegeben. Michaela Nowotnick und William Totok breiteten beim Berliner Jour Fixe die Landkarte der reellen und falsch eingezeichnetenen Wege und Irrwege nach. Richard Wagner sagt es im Spiegelinterview: „Bei dieser ganzen Securitate-Diskussion geht es zu allerletzt um Bücher.“ Mircea Dinescu rät zur Vorsicht bei der unkontrollierten Aktenschau der Securitate. Es entscheide jeder, ob der Geheimschrift eines Securitateoffiziers mehr Hoheitsrechte über die Vergangenheit eines Menschenlebens eingeräumt werden als den bekannten Schriftzeichen dieses Lebens.