Umzugspläne ins Banat gestoppt

Multi-buntes Klein-Deutschland vor der Haustür

Plötzlich hat es mich im vergangenen Winter erwischt: „Ich will zurück ins Banat, wieder die heißen Sommer genießen, die kontinental geprägten Winter und den fast brutal wirkenden Übergang vom Frühjahr zum Sommer und den frühen Herbst, wenn die Blätter nach einem Frost im September von den Bäumen fallen. Warum sollte ich nicht das ozeanisch geprägte schwüle Wetter in Westdeutschland hinter mir lassen, wo ich seit 37 Jahren immer wieder den Eindruck hatte, weder einen richtigen Sommer zu erleben noch einen ausgeprägten Winter?
Und dann komme ich doch zum Schluss, du musst hier bleiben, hier im Rheinland. Jetzt, wo ich umgezogen bin aus einem Dorf nach B., in die Stadt. Wenn ich von meinem Balkon hinabsehe, liegt vor mir Klein-Deutschland, Deutschland im Kleinformat 2017. Kurz gesagt: multi-bunt. Fast so habe ich mir das Land meiner aus Deutschland ausgewanderten Vorfahren schon immer vorgestellt oder auch gewünscht. Was? Sie wollen mir das nicht abnehmen?

Mir ist die wohl einzigartige Stimmung im Banat ins Bewusstsein zurückgekehrt: das Miteinander der Nationalitäten; ich habe bis 14 gezählt, aber wahrscheinlich waren es auch mehr Völker, die dort am Rande der Pannonischen Tiefebene nebeneinander gelebt und sich auf den ersten Blick in Ruhe gelassen haben. Von Integration hat keiner gesprochen, wahrscheinlich weil wir integriert waren. Unsere Vorfahren haben bei Weitem nicht alle das Ungarische beherrscht, und unsere Großeltern, die in Österreich-Ungarn erwachsen geworden sind, haben auch das Rumänische nicht richtig beherrscht. Unsere nach dem Ersten Weltkrieg geborenen Eltern haben sich schon in der Landessprache verständigen können. Wir haben die Staatssprache schon gut gesprochen, perfekt noch lange nicht. Wir haben pünktlich unsere Steuern bezahlt, sind meistens nicht aufgefallen.

Und trotzdem waren die Staatsvölker unzufrieden mit uns: Die Ungarn sagten uns und den anderen Völkern in ihrem Reich, sie äßen ungarisches Brot. Die Rumänen waren nicht besser und meinten, wir hätten rumänisches Brot auf dem Tisch; sie fügten noch hinzu, wir sollten uns zu Hitler scheren. Wir wären gerne gegangen, doch sie gaben uns keinen Pass. Das hatten die Ungarn noch nicht anbieten können, denn unter ihrer Herrschaft gab es den Diktator noch nicht. Es ging ihnen allen zu langsam, sie wollten uns rasch assimilieren. Unsere Vorfahren sollten Ungarn werden, wir aber Rumänen, und unsere unter jugoslawische Herrschaft geratenen banat-schwäbischen Landsleute sollten im Serbentum aufgehen. Diese Vorhaben sind misslungen. Das wollte ich schon immer dem einen oder anderen Gesprächspartner in Deutschland vermitteln. Vergebens.

Ich war 1980 kaum einige Wochen in Deutschland, und mir wurde schon gesagt, die hier lebenden Türken wären Deutsche. Vergebens versuchte ich, den Gesprächspartnern klar zu machen, dass das keine Deutschen seien, sondern lediglich deutsche Staatsbürger. Auch dieses Argument hat keinen interessiert: Meine Familie, aber auch die anderen Deutschen im Südosten wollten keine Ungarn, Rumänen oder Serben werden. Doch auch dieses Argument hat jeder belächelt. Unsere Türken sind Deutsche. Basta. Wir pfeifen auf die jahrhundertealten Erfahrungen dieser neuen Eindringlinge, die sich als Deutsche ausgeben.
Selbst ein türkischer Kollege wollte mir einmal, es ist Jahrzehnte her, beweisen, was ein richtiger Deutscher ist. „Ich bin Deutscher“, sagte er mir, „du auf keinen Fall.“ Darauf habe ich lediglich gefragt: „Wo bist du Deutscher, auf dem Papier oder hier“, wobei ich auf mein Herz gezeigt habe. Darauf hat er mir nicht geantwortet. Ich habe aber noch diese Frage nachgeschoben: Warum er denn nicht bei der Bundeswehr Dienst getan hat, sondern in der türkischen Armee. Auch darauf Schweigen.

Nach dem Fall des Eisernen Vorhangs hat ein Kollege, ein stellvertretender Ressortleiter, einen meiner mitgebrachten Artikel gelesen, in dem auch von Ungarn die Rede war. Ohne sich um meine Meinung zu kümmern, hat er mir ganz einfach mitgeteilt: „In Rumänien gibt es keine Ungarn, ich habe amerikanische Soziologie studiert“. Bei so viel Wissen habe ich mich in Schweigen gehüllt. Am liebsten hätte ich ihm gesagt, das sollte er einmal vor einem Szekler behaupten...
Nun lebe ich seit einigen Monaten in B., wo es mir immer besser gefällt, sodass ich den Gedanken an die Rückkehr ins Banat allmählich abgeschrieben habe. Ich bleibe hier, nicht nur, weil meine Enkel in der Nähe wohnen, auch weil das Vieleck, das von sieben Wohnblocks, sechs und vier Stockwerke hoch, einer mit zehn Etagen, einen großen Spielplatz umgeben. Er präsentiert sich als Kleindeutschland 2017, das ich von meinem Balkon gut überblicken kann. Und dieses Deutschland in Miniatur gefällt mir von Tag zu Tag besser. Hier läuft, spielt und schreit Deutschlands Zukunft. Hier sind mehr Nationen als im Banat versammelt.

Ich habe hier noch kein Wort Russisch gehört. Warum diese Nation hier zum Unterschied von anderen Stadtteilen nicht vertreten ist, kann ich nicht sagen. Traurig bin ich deswegen nicht. In den vergangenen 19 Jahren hatte ich erlebt, wie nach eigenen Angaben Verfolgte des Sowjetregimes, die sich als Deutsche und als Nachfahren von Deutschen und Polen ausgeben, von morgens bis abends die Sprache ihrer angeblich verhassten Unterdrücker gesprochen haben. Es geht um eine Familie, in der Mutter und Sohn ein fast akzentfreies Deutsch sprechen können, wenn sie wollen, der Mann oder Vater aber nur gebrochen, weil sein Vater angeblich Pole war. Es ist durchwegs nicht schlimm, wenn andere sich fremder Sprachen bedienen. Auch wir haben es getan. Doch: Wenn sie sich so sicher wähnen, dass andere diese Sprache nicht oder nur zum Teil verstehen, lassen sie ihren Gefühlen freien Lauf. Sie sprechen so laut, dass auch der sechste Nachbar sie versteht. Also Russisch, die schönste Sprache der Welt, vermisse ich schon.
Aber dafür werde ich entschädigt, manchmal könnte ich meinen, Klein-Banat sei hier versammelt. Was ich da höre, lässt mein Herz höher schlagen. Ich vermisse das Banat überhaupt nicht mehr. Von einem Balkon im Erdgeschoss gegenüber höre ich vertraute Laute. Hundertprozentig kann ich das Slawisch nicht einordnen, denn ich kenne die zwei Prozent Wörter nicht, die den Unterschied zwischen Kroatisch und Serbisch ausmachen. Dann sehe ich die kroatische Fahne auf dem Balkon und bin voll im Bilde. Auch unsere kroatischen Freunde meinen, keiner verstünde sie, und sind entsprechend laut, besonders wenn sie Besuch haben.

Im selben Block, aber rechts oben, telefoniert auf dem Balkon sitzend ein Mann. Auch er ist sich sicher, dass keiner sein Rumänisch versteht. Über mir ist oft Pisti zu Besuch, ob er aus Ungarn kommt oder aus den nach dem Ersten Weltkrieg von Ungarn getrennten Gebieten, weiß ich nicht. Pisti habe ich noch nicht magyarisch sprechen hören. Dafür dringen immer wieder vom riesigen Spielplatz, den ich als Spielplatz der Nationen bezeichnen möchte, ungarische Wörter zu mir. Dorthin kommt fast täglich ein junger Mann mit langem zusammengebundenem blondem Haar mit seiner schlanken Frau und einem kleinen Jungen. Auch sie halten sich keineswegs mit ihrem Ungarisch zurück. An einem Tag hatten sie aber massive Konkurrenz bekommen. Gleich drei Familien mit Kindern haben das Ungarisch mit ihrem Rumänisch übertönt. Daneben auf der Schaukel sitzt der kleine Junge mit seiner Mutter, deren bis zum Hintern reichender Zopf und die typische Kleidung die Frau aus den Anden verrät. Ihr Spanisch klingt ebenfalls über den ganzen Platz. Sie fühlt sich auch unverstanden. Kopftücher tragende Frauen unterscheiden sich voneinander durch ihre sonstigen Kleider.
Auf dem Spielplatz tummeln sich Kinder, auch farbige in Begleitung blonder Mütter, sie sprechen Deutsch. Mittelasiaten mit ihren Töchtern und Söhnen bedienen sich ihrer Sprachen, die ich nicht einordnen kann. Afrikaner kommen mit ihren Söhnen.

Und dann sind daneben Asiaten aus dem fernen Osten. Filipinos, Chinesen oder Vietnamesen. Auch sie wollen, dass sich ihre Kinder an der Luft bewegen und teilhaben an den Schaukeln und Rutschen unter dem Dutzend alter Bäumen, die auf dem Spielplatz verteilt sind. Besonders beeindruckend ist die riesige Robinie, die im Frühjahr ihren Duft und einen Hauch von Banat verbreitet. Dann die sechs riesigen Ahornbäume und der Mammutbaum.
In unserem Treppenhaus sieht es nicht viel anders aus. Unten Filipinos, ihnen gegen-über wohnen Asiaten, es sind Inder, Pakistani oder Afghanen. Wer will es wissen. Eine Etage höher ist eine Blondine mittleren Alters zu Hause, ein Berg von einem Weib. Sie ist zusammen mit einem Schwarzafrikaner, Gardemaß, dessen Vorname eindeutig islamisch ist. Sie speisen, wenn es das Wetter zulässt, stets auf dem Balkon. Stundenlange Gespräche auf Englisch folgen, immer wieder sind Gäste dabei, dann wird auch Deutsch gesprochen. Telefoniert der Mann mit Leuten in Äquator-Nähe, lässt auch er seiner Stimme freien Lauf. Gegenüber im Block wohnt eine junge Frau mit markanten „Schwimmringen“, auch sie ist mit einem Schwarzafrikaner beisammen; sie haben ein gemeinsames Kind.
Es ist ein buntes Treiben, das einem das Herz höher schlagen lässt. Nein, bei diesem Nebeneinander brauche ich nicht zurück ins Banat. Hier in B. wollte ich, hätte ich eine geschulte Stimme, die Ode „An die Freude“ anstimmen: „Seid umschlungen Millionen, diesen Kuss der ganzen Welt“.