Und jedermann ging, dass er sich schätzen ließe…

In Südtirol findet im Herbst die Sprachgruppenerhebung statt – sie ist Grundlage für den Proporz und die Verteilung öffentlicher Geldmittel

Im Rahmen des MIDAS-Netzwerks publiziert die ADZ regelmäig geteilte Beiträge anderer Partnermedien. Die Europäische Vereinigung von Tageszeitungen in Minderheiten- und Regionalsprachen (MIDAS) wurde 2001 auf Vorschlag der Chefredakteure von Tageszeitungen gegründet, die in Minderheiten- oder Regionalsprachen erscheinen. Ziel war es, ihre Strategien zu koordinieren und die Zusammenarbeit in den Bereichen Informationsaustausch, Druck und Marketing zu fördern. Inzwischen haben sich 27 Zeitungen aus 12 verschiedenen Ländern MIDAS angeschlossen. Die derzeitige Präsidentin ist Edita Slezáková.

In Südtirol sind nicht nur zweisprachige Ortsschilder möglich – auch dreisprachige Ortsschilder gehören zum Alltag.

Auch Das Naturmuseum verfügt über eine dreisprachige Beschriftung. Fotos: der Verfasser

Im Herbst wird in Südtirol die Sprachgruppenerhebung durchgeführt. Sie ist ein Grundpfeiler des Proporzes, der wiederum die Basis der Südtirol-Autonomie bildet. Das Ganze ist ein komplexes Thema und für viele Minderheiten, für die es – aus historischen oder anderen Gründen – unvorstellbar wäre, gezählt zu werden, sicher eine höchst ungewöhnliche Regelung.

Für viele Angehörige von ethnischen oder nationalen Minderheiten wäre es inakzeptabel, auf irgendeine Weise erfasst zu werden. Nicht ohne Grund lautet Artikel 3 des Rahmenübereinkommens über den Schutz nationaler Minderheiten wie folgt: „Jede Person, die einer nationalen Minderheit angehört, hat das Recht, frei zu entscheiden, ob sie als solche behandelt werden möchte oder nicht; aus dieser Entscheidung oder der Ausübung der mit dieser Entscheidung verbundenen Rechte dürfen ihr keine Nachteile erwachsen.“
Südtirol geht einen völlig anderen Weg, aus historischen Gründen. Die Basis des Autonomiestatuts wurden be-kanntlich mit dem Gruber-Degasperi-Abkommen 1946 gelegt, und seine Wurzeln reichen zurück in die Zeit des habsburgischen Vielvölkerreichs. Mit dem Zweiten Autonomiestatut wurde der ethnische Proporz als Regelung für die Verteilung der Ressourcen unter den Sprachgruppen eingeführt. Bekanntlich gibt es in Südtirol drei Sprachgruppen. Bei der letzten Volkszählung mit gleichzeitiger Sprachgruppenerhebung im Jahr 2011 erklärten sich 69,41 Prozent der deutschen Sprachgruppe zugehörig, 26,06 der italienischen und 4,53 der ladinischen; sie ist mit rund 17.000 Angehörigen die kleinste Minderheit in Südtirol und spricht eine romanische Sprache.

Heuer im Herbst findet die Sprachgruppenerhebung nicht mehr als Teil der allgemeinen Volkszählung statt, weil die Volkszählung in eine Dauerzählung umgewandelt wurde, bei der jedes Jahr Stichproben erhoben werden.

Bei der Sprachgruppenerhebung wird festgestellt, welchen Anteil die jeweilige Sprachgruppe an der Südtiroler Gesamtbevölkerung hat. Die im Lande ansässigen Bürger, die die italienische Staatsbürgerschaft besitzen, müssen also angeben, ob sie der deutschen, der ladinischen Sprachgruppe oder der italienischen angehören. Es gibt allerdings auch die Möglichkeit, „Andere“ anzugeben, für all jene, die sich keiner oder nicht nur einer der drei Sprachgruppen zugehörig erklären wollen.

Diese Erhebung hat sehr konkrete Folgen, denn ihre Ergebnisse sind die Grundlage für den ethnischen Proporz. So werden die Geldmittel der öffentlichen Hand für die Schulen und Schulgebäude – in Südtirol wird muttersprachlicher Unterricht garantiert; es gibt also Schulen mit deutscher und mit italienischer Unterrichtssprache – gemäß dem Anteil der jeweiligen Sprachgruppe an der Bevölkerung verteilt. Auch die personelle Besetzung der regionalen, Landes-  und kommunalen Körperschaften folgt dieser Logik. Je nach Ergebnis der Sprachgruppenerhebung erhält jede Sprachgruppe einen entsprechenden Anteil an Stellen im öffentlichen Dienst, also im Gesundheitswesen, in Schule und Landesverwaltung, Gemeinden und staatlichen Behörden, die sich in Südtirol befinden. 

Um die Verteilung der Stellen im öffentlichen Dienst organisieren zu können, braucht es eine weitere Erklärung, eine rechtlich verbindliche, individuelle Sprachgruppenzugehörigkeitserklärung: Jeder in Südtirol Lebende muss zumindest einmal in seinem Leben – meist beim Erreichen der Volljährigkeit – die Zugehörigkeit zu einer Sprachgruppe erklären und beim Landesgericht in Bozen deponieren. Nur gegen das Vorweisen dieser Erklärung kann er eine öffentliche Stelle antreten oder gewisse Leistungen in Anspruch nehmen, etwa eine Sozialwohnung beantragen.

Die Sprachgruppenerhebung wird im Herbst stattfinden. Sie ist Pflicht für alle in Südtirol ansässigen Menschen mit italienischer Staatsbürgerschaft und findet erstmals auch online statt. Die Erhebung ist einzigartig in Italien. Zwar wird auch im Trentino, das mit dem Südtirol in einer Region vereint ist, die Stärke der Sprachgruppen erhoben, aber mit einem völlig anderen System und ohne ethnischen Proporz. Außerhalb der Region wird nirgendwo sonst auf italienischem Staatsgebiet die Stärke von Minderheiten erhoben.

Besondere Bedeutung hat die Erhebung für die kleinste Sprachgruppe, die Ladiner. 20.548 Bürger (das waren 5,43 Prozent der Südtiroler Bevölkerung) erklärten sich 2011 als Ladiner. Der Proporz garantiert, dass auch sie bei der Mittelverteilung nicht unter die Räder kommen und genügend Mittel für die öffentliche Dreisprachigkeit (Deutsch, Italienisch und Ladinisch in den acht ladinischen Gemeinden in Südtirol) vorhanden sind. Nicht verschwiegen werden soll, dass der Proporz in gewissen Bereichen ein (zu) enges Korsett für die Ladiner ist, denn angesichts der geringen Zahl stehen ihnen zum Beispiel im Gesundheitswesen nur wenige qualifizierte Stellen zu. 

Der Proporz hat sich trotz aller Kritik an gewissen Details als Garantie für das friedliche Zusammenleben in Südtirol erwiesen. Denn vor dem Inkrafttreten des Zweiten Autonomiestatuts im Jahre 1972 hatten deutschsprachige Südtiroler nur äußerst wenige Stellen in der öffentlichen Verwaltung; auch der geförderte Wohnbau ging an ihnen vorbei. Das hat sich in den Jahrzehnten danach geändert.

In Südtirol gibt es ein weiteres Instrument des ethnischen Proporzes, der mit der Sprachgruppenerhebung aber nichts zu tun hat: Es geht um den Proporz in der Politik. So werden die Posten in der Landesregierung, im Stadtrat und im Gemeindeausschuss gemäß dem jeweiligen Wahlergebnis bestimmt. 

Ein Beispiel: Gehören 70 Prozent der Landtagsabgeordneten der deutschen Sprachgruppe an, muss auch der Anteil der Deutschsprachigen in der Landesregierung 70 Prozent betragen. Zugleich ist auch die Vertretung der Italiener und – allerdings als Kann-Bestimmung – der Ladiner in der Landesregierung sichergestellt. Diese Bestimmung wird noch heuer relevant werden, denn am 22. Oktober finden in Südtirol Landtagswahlen statt.


Die „Dolomiten“ sind die älteste und meistgelesene deutschsprachige Tageszeitung in Südtirol. Sie gehen zurück auf die 1882 gegründete Zeitschrift „Der Tiroler“. Ihren Namen tragen die „Dolomiten“ seit dem Jahr 1923, als die Zeitung auf Druck der Faschisten umbenannt werden musste. Von den Nazis wurden die „Dolomiten“ 1943 verboten. Nach Kriegsende 1945 konnten sie wieder erscheinen. Der weiteste Leserkreis beträgt über 200.000 Leser.