Was ist „Evangelisch in Rumänien“ heute?

Umfragen zeigen Zusammenhänge zwischen „Evangelisch-Sein“ und Verhalten in Rumänien

Die Schwarze Kirche heißt am 30. September 2017, zum großen Kirchentag des Reformationsjubiläums, liebe Gäste aus Nah und Fern willkommen. Der Kirchentag ist Gelegenheit zu Festlichkeit und Gedenken – aber auch zum Nachdenken. Welche Überzeugungen haben wir von der Reformation überhaupt unverändert ererbt; welchen haben wir eine neue Richtung gegeben? Und was ist das „Evangelische“, das wir an zukünftige Generationen weitergeben möchten? Kurzum: Was ist „evangelische Identität“ im heutigen Rumänien?
In Vorbereitung des Kirchentags möchten wir diese Frage anhand einer lockeren Kleinserie anregender Essays zur Debatte stellen. Die Verfasser sind bekannte Vertreter ihrer Fachdisziplinen und nicht immer Mitglieder der evangelischen Gemeinschaft. So nähern wir uns dem Thema aus unterschiedlichen Perspektiven und begegnen auch dem analytischen „Blick von außen“. Den ersten Beitrag verdanken wir Dr. Petre Datculescu, Sozialpsychologe und Leiter des Markt- und Meinungsforschungsinstituts IRSOP GmbH in Bukarest. Die Beobachtungen zu Konstanz und Wandel in unserer Gemeinschaft sind allerseits spannend – und für manchen wohl überraschend. (Stadtpfarrer Christian Plajer und Pfarrerin Adriana Florea, Evangelische Kirche A.B. Kronstadt)

Eine relativ kleine evangelische Gemeinde lebt in einem Land mit zahlreichen Glaubensausrichtungen und einer zu 80 Prozent orthodoxen Bevölkerung. Viel stärker als die Unterschiede sind aber die Gemeinsamkeiten. Nicht etwa, weil sich die Kirchen darum bemühen, sondern weil die Mitglieder einzelner Konfessionen unabhängig voneinander zum selben Schluss kommen: Das Land braucht mehr Wohlstand, weniger Korruption, bessere Lebensqualität, mehr Europa. Die Hoffnung auf eine bessere Zukunft bewirkt gesellschaftliche Solidarität. Der Staatspräsident kommt aus einer ethnischen Minderheit. Seine Vertrauensquote liegt bei über 50 Prozent. Damit ist sie höher als die Wahlbeteiligung bei den letzten Parlamentswahlen. Aber ich vermute, dass es auch viele Unterschiede zwischen den Mitgliedern der verschiedenen Kirchen gibt. Konfession fällt oft mit Ethnie zusammen. In manchen Regionen Rumäniens ist ein evangelisch Bekennender oder Protestant meist Mitglied einer ethnischen Minderheit.

Aber es ist nicht immer so. Die evangelische Bevölkerungsgruppe ist multiethnisch. Ethnische Merkmale, Kultur, Lebensweise, demografische Entwicklungen, ökonomische Verhältnisse und natürlich Religion erklären, warum sich vielleicht evangelische Kirchengänger in gewissem Maße von anderen Gläubigen abgrenzen. Den Einfluss des religiösen Glaubens klar herauszuarbeiten ist allerdings nicht einfach. Der Soziologe Andrew Greeley hat in einer umfangreichen Studie katholische und evangelische Gläubige aus fünf ethnischen Gruppen in Amerika verglichen: Iren, Deutsche, Italiener, Franzosen und Polen. Er fand interessante Unterschiede in vielen Bereichen wie Wohlstand, Berufswahl, politische Neigung, Religiositätsausprägung, Kirchenbindung, aber auch bei sozialen Einstellungen wie Rassismus, Ethnozentrismus, Anomie, Antisemitismus u. a. In Rumänien versuchte 1941 der Klausenburger Psychologe Anatol Chircev, den Einfluss des orthodoxen Glaubens auf den rumänischen Charakter empirisch aufzudecken.

Ich kenne keine vergleichenden Untersuchungen oder Dissertationen zu typischen Wertorientierungen, Einstellungen und Verhaltensweisen der ethnischen Minderheiten in Rumänien. Wir verfügen aber über zwei neuere soziologische Befragungen der evangelischen Gemeinschaft. Beide wurden von der Evangelischen Kirche A.B. in Auftrag gegeben. Eine Studie stammt von der IRSOP GmbH und untersucht das heutige Verhältnis von Kirche und Gemeinde im deutschsprachigen evangelischen Raum. Die zweite Studie von Dr. Stefan Cosoroab² basiert auf einer Online-Befragung und beschreibt das Selbstverständnis der ausgesiedelten Siebenbürger Sachsen in Deutschland. Zumindest vier wichtige typische Merkmale der evangelischen Gemeinde kommen in den zwei Studien deutlich zum Vorschein. Erstens: die demografische Struktur. Im Schnitt ist die erwachsene deutschsprachige evangelische Gemeinde älter als die Mehrheitsbevölkerung. Das Geschlechterverhältnis ist zugunsten der Frauen verschoben. Aber das Bildungsniveau ist höher als in der Gesamtgesellschaft. Diese demografischen Verschiebungen haben Auswirkungen. Ältere Menschen sind hilfsbedürftiger als junge Leute. Sie sparen auch weniger und verbrauchen einen größeren Teil ihres Einkommens. Durch die Mehrheit verfügen ältere Personen über größeren Einfluss auf Kirchenentscheidungen oder auf die Aufteilung der kirchlichen Finanzmittel. Das Bedürfnis nach Sicherheit und die Sehnsucht nach gestern sind stärker bei älteren Menschen. Sie bedingen meist konservative Haltungen und geringe Freude an Veränderungen in der kirchlichen Umwelt.

Zweitens: Weder die auseinandergerissene ethnische Gemeinde, noch die Aussiedlung nach Deutschland haben Identitätsstörungen verursacht. Die evangelischen Gemeindeglieder fühlen sich in ihrer Identität nicht bedroht und suchen auch nicht nach einer neuen Identität. Der Grund: Die Gemeinsamkeiten blieben erhalten und die Mitglieder fühlen sich weiter gemeinschaftlich verbunden. Gemeinschaftsgefühl verhindert Resignation. Mehr als 80 Prozent der Befragten glauben an das Fortbestehen der evangelischen sächsischen Gemeinde, auch wenn sie zahlenmäßig kleiner geworden ist. Das dritte Merkmal ist die starke Kirchenbindung. Über 80 Prozent sind mit der Evangelischen Kirche A.B. in Rumänien zufrieden, sowohl insgesamt als auch mit wichtigen Leistungsparametern wie Gottesdienst, Pfarrer, religiöse Feiern, Nähe zu den Menschen, Kirchenpflege, Bewahrung der sächsischen Tradition oder Diakonie. Auch 97 Prozent der Siebenbürger Sachsen in Deutschland schätzen die evangelische Kirche der neuen Heimat hoch ein. Fast zwei Drittel bewundern die Sozialarbeit der Kirche, aber nur knapp über 50 Prozent fühlen sich in der neuen Kirche zuhause. Interessant ist auch, dass die emotionalen Bindungen an die siebenbürgische evangelische Kirche weiter erhalten bleiben. Etwa 60 Prozent fühlen sich auch heute noch mit ihr verbunden, 79 Prozent bewahren eine gute Erinnerung an die Pfarrer und 73 Prozent sind überzeugt, dass die Kirche ihr Leben bestimmt hat.

Ein viertes und vielleicht wichtigstes Merkmal ist eine eindeutige Weltoffenheit der evangelischen Gemeindeglieder in Rumänien. Mischehen, transkulturelle Freundschaftskreise und Partnerschaften, ein großes Interesse an Fremdsprachen, an Auslandsstudien und beruflichen Karieren in anderen Ländern sind weit verbreitet bei jungen Leuten. Ein reger Verkehr entwickelt sich zwischen Siebenbürger Sachsen aus Deutschland und sächsischen oder rumänischen Verwandten, Freunden und Geschäftspartnern, die in Rumänien leben. Die ethnische und kulturelle Heterogenität im eigenen Land und auf globaler Ebene wird nicht nur akzeptiert, sondern als ein neues Zuhause empfunden. Mehr als 70 Prozent der evangelischen Gemeindeglieder aus Rumänien und ebenso viele unter den Siebenbürger Sachsen in Deutschland befürworten die Öffnung der Evangelischen Kirche für Mitglieder aus dem rumänischen Umfeld. Nicht nur die Kirche: Zwischen 88 und 93 Prozent unterstützen den uneingeschränkten Zugang aller Gesellschaftsmitglieder zu kulturellen, diakonischen oder Bildungseinrichtungen der evangelischen Gemeinschaften. Natürlich ist das Bedürfnis nach ethnischer und kirchlicher Gemeinschaft noch immer lebendig. Aber es ist nicht mehr der Wunsch nach Fortbestehen der ursprünglichen homogenen Gemeinde. Evangelisch-Sein übernimmt Formen der Anpassung an eine veränderte Welt. Eine Welt, in der nicht Trennung von Sprache, Kultur oder Religion das Leben bestimmen, sondern Buntheit, Heterogenität, Toleranz und Anerkennung fremder Lebenspositionen. Und Anpassung heißt lernen, diese Welt mitzugestalten.

Dr. Petre Datculescu, Leiter des Markt- und Meinungsforschungsinstituts IRSOP GmbH