Was vom Brexit übrig blieb

Entscheidungen im Zeitalter der Verwirrung

Am 23. Juni 2016 wurde bekannt, dass sich 51,9 Prozent der britischen Wähler für den „Brexit“ ausgesprochen haben.

Der englische katholische Konvertit, Journalist und Schriftsteller Gilbert K. Chesterton erwog in seinem Buch „Orthodoxie: Eine Handreichung für die Ungläubigen” den Wunsch, einen Roman zu verfassen, in dem ein englischer Segler wegen eines Fehlers in der Kursberechnung und unerwartet wechselnder Winde von seinem Kurs abkommt und jene Insel entdeckt, von der er ursprünglich losgefahren war. Der Engländer, bis an die Zähne bewaffnet, steht unter dem Eindruck, England wäre eigentlich eine fremdländische Insel in der Südsee, die er erobern müsse, indem er symbolisch den Union Jack auf einen „barbarischen Tempel” aufpflanzt, wobei es sich in diesem Fall in Wirklichkeit um den guten alten Royal Pavilion in Brighton handelt. Wenn ich an diesen „höchst beneidenswerten Irrtum”, wie ihn Chesterton nennt, denke, kommen mir unvermittelt die letzten Erklärungen von Theresa May zum Thema Brexit in den Sinn.
Eine postmoderne britische Odyssee


Man erinnere sich: Am 23. Juni 2016 wurde bekannt, dass sich 51,9 Prozent der britischen Wähler für den Austritt Großbritanniens aus der Europäischen Union („Brexit“) ausgesprochen haben, bei einer Wahlbeteiligung von 72,2 Prozent. Ob die Entscheidung gut oder schlecht war, soll nicht hier besprochen werden, viel mehr aber, was in der Zwischenzeit geschehen ist. Anders gesagt: Wie weit ist man seitens der EU und Großbritanniens in diesen zwei Jahren vorangekommen, und wie steht es um den Brexit heute?


Was jeder mühelos feststellen kann ist, dass nichts feststeht. In der heutigen Zeit scheint auch die ehemals größte Kolonialmacht der Welt unfähig zu sein, ihr eigenes, vor zwei Jahren beschlossenes, außenpolitisches Hauptziel umzusetzen. Nachdem ein Jahr lang die „Remainer“ unzählige Weltuntergangsszenarien beklagt haben, nachdem unzählige neue Volksentscheide verlangt worden sind, nachdem verkündet worden ist, der Wählerwille zähle eigentlich nicht, da das Ergebnis für das Parlament nicht bindend sei, nachdem die betagteren Wähler ihr Fett wegbekommen haben, weil sie eigentlich noch wählen gegangen sind, wo sie doch bereits mit einem Bein im Grabe stehen, nachdem David Cameron, Prämierminister der Tories, Tony Blair, Ex-Labour Premierminister, Nicola Sturgeon, SNP-Präsidentin und First Minister of Scotland, Sadiq Khan, der erste muslimische Bürgermeister Londons, französische Philosophen wie Bernard-Henry Lévy, der Präsident der Europäischen Kommission, Jean-Claude Juncker und Donald – nein, keine Angst, nicht Trump, sondern Tusk, Präsident des Europäischen Rates, Fußballstars wie David Beckham und seine Ehefrau, „Posh Spice“, Sänger wie Elton John,. Autoren wie J. K. Rowling, Geschäftsfrauen wie Gina Miller und nicht zuletzt Sigmar Gabriel und Martin Schulz, auch bekannt als „der Mann mit den Haaren im Gesicht“, alles versucht haben, den Austritt Großbritanniens aus der EU zu vermeiden, verhindern, verzögern oder gar aufzuheben, stehen wir diesbezüglich immer noch vor einer völlig nebulösen Zukunft.


„Brexit heißt Brexit“ – das Tautologische als nichtssagendes Statement


Die meisten unter uns haben mittlerweile nicht nur begriffen, dass nein nein heißt („No means no“), Vergewaltigung Vergewaltigung ist („Rape is rape“), sondern auch, dank Theresa Mays Wortgewandtheit, dass Brexit Brexit bedeutet. Wie aber der Brexit funktionieren soll, weiß niemand, auch nicht Theresa May. Vorbei die Zeiten der großen Debatten, in denen Politiker den Wählern etwas erklären mussten, heute lebt man im Zeitalter der allumfassenden Verwirrung. Es reicht völlig, sinnentleerte Tautologien emphatisch zu äußern und schon sind Politiker bereit, für weitere unbestimmte Zeit behaglich im Dunst der Orientierungslosigkeit zu taumeln. Die Hysterie in der Bevölkerung geht indes unvermindert weiter – so bestätigte 2017 der ehemalige Staatsminister im Department for Exiting the European Union, David Ian Jones, offiziell, dass Großbritannien zwar aus der EU austrete, sich aber nicht „geographisch“ von Europa entferne – und das nur, um die Gemüter der Bürger zu beruhigen, die anscheinend dachten, Großbritannien werde nach dem Brexit aus Europa verschwinden und irgendwo neben der Insel Lummerland wieder auftauchen.


Und überhaupt, wer kann heute noch irgendetwas klar definieren? Gibt es einen Nationalstaat, was ist Identität, was sind die europäischen Werte, was ist legal und was illegal, wer oder was ist Europa, was ist Brexit und wie soll der eigentlich stattfinden? Keine dieser Fragen kann man in der heutigen Zeit noch klar und unzweideutig beantworten, denn alles ist so vermeintlich hochkomplex, sagen uns die „Spezialisten“, untereinander vernetzt, verflochten und verzahnt, dass eben nur die Besten von ihnen wissen, wo der Frosch die Locken hat – das Einzige aber, das die Spezialisten nicht erklären können, ist, wozu man noch als Bürger wählen gehen soll, wenn man ohnehin zu unterbelichtet ist, um solche geheimnisvollen Sachverhalte verstehen zu können? Sind Wahlen dann nicht überflüssig? Und so stellt sich dann heraus, dass viele Journalisten einfach recht hatten: Man solle nie wieder solche Volksentscheide durchführen, das ist viel zu „gefährlich“ und überhaupt „undemokratisch“.


Vom „harten“ Brexit über „kein Brexit“ zum „weichen“ Brexit


Vor Kurzem sind Außenminister Boris Johnson und der Brexit-Minister, David Davies zurückgetreten, da sie mit der Wende Mays vom harten zum weichen Brexit nicht einverstanden waren. Johnson teilte per Brief mit, Großbritannien hätte den Status einer „EU-Kolonie“, würden die aktuellen Pläne Mays umgesetzt werden. Weiter gab Johnson im britischen Parlament an, es wäre noch immer nicht zu spät, „den Brexit zu retten“. Davies begründete seinen Rücktritt mit der Erklärung, dass der aktuelle Brexit-Plan Mays mit seinen politischen Überzeugungen nicht mehr vereinbar wäre. Auch wichtige backbencher, also einfache Abgeordnete im britischen Unterhaus, dem House of Commons, wie Jacob Rees-Mogg haben sich vor Kurzem gegen Theresa Mays weichen Brexit ausgesprochen. Man sagt, dass auch die Drohungen der Wirtschaft Theresa Mays Kehrtwende bewirkt hätten, vor allem die Angst, dass sich Konzerne wie Airbus, BMW oder Jaguar Land Rover zurückziehen würden und somit wichtige Arbeitsplätze in Großbritannien verloren gegangen wären. Ferner sagt man aber auch, dass die Brexit-Hardliner noch lange nicht ihr letztes Wort gesprochen haben, man darf also gespannt sein, ob überhaupt und wenn doch, in welcher Form der Brexit stattfinden wird. Bis zu diesem Zeitpunkt, gilt nach wie vor: Brexit heißt Brexit!