„Wenn wir das Donaudelta verlieren, wird Rumänien erst wirklich arm sein“

Naturschützer schlagen Alarm – nur 10 Prozent des Biosphäre-Reservats sind tatsächlich streng geschützt

Umweltrebell Liviu Mihaiu (Mitte) verstand es, die Zuschauer in dem überquellenden Kinosaal des Französischen Kulturinstituts in den Bann zu ziehen. Links von ihm der Gouverneur des Reservats Biosphäre Donaudelta, Edward Bratfanof, rechts Fotograf Iliuţă Goian mit Ivan Patzaichin.
Foto: George Dumitriu

In 10.000 Jahren ist es entstanden, das größte Schilfrohrgebiet der Erde, Europas gewaltigstes Feuchtbiotop und drittreichstes Biotop der Erde, mit über 4700 bekannten Spezies – Insekten gar nicht mitgezählt. Mit der Donau schob sich unermüdlich fruchtbarer Schlamm aus dem Kontinent in die Lagune von Tulcea, verschluckte die Insel Caraorman, eroberte den Golf von Halmyris und drang in die Lagune von Razim bis nach Histria vor, gebar auf dem Weg Seen, Kanäle und Inseln. „Das Delta ist wie ein gigantischer, lebender Organismus“, sagt Naturschützer Liviu Mihaiu voller Ehrfurcht. Dann fügt er zynisch hinzu: „Nur dass heute bereits 30 Prozent tot sind.“

In nur 40 Jahren Kommunismus sei es gelungen, das biologische Gleichgewicht nachhaltig aus dem Gleis zu werfen, so der bekannte Umweltrebell: durch Konservenfabriken, Quarzsandabbau, Dämme und Trockenlegungen für die Ausdehnung der Landwirtschaft um jeden Preis. Selbst den Braunen Sichler (Ţigănuş), eine im Delta häufige Ibisart, wollte Ceauşescu eindosen und ans Volk verfüttern lassen – ein Experiment, das gottlob misslang. Doch wer meint, dies alles sei längst graue Geschichte, irrt gewaltig.  

Naturschutzzone versus kommerzielle Interessen

Denn immer noch sind 306.000 von insgesamt 550.000 Hektar, also weit über die Hälfte des Deltas, wirtschaftliche Nutzfläche. Ein Terminus, der in einem Biosphäre-Naturreservat, als einziges Delta Teil des UNESCO Welterbes, absolut nichts zu suchen hat, empört sich der engagierte Naturschützer in seinem anlässlich des Internationalen Tags der Feuchtgebiete ausgestrahlten Film „Das Donaudelta – ein fast verlorenes Paradies“. Tatsächlich zählen nur 50.600 Hektar zur strikt geschützten Fläche – das sind gerade mal 10 Prozent! „Obwohl es  seit langem als prioritäre Zone für die ökologische Wiederherstellung gilt, als Teil eines Managementplans zur Erhaltung der Biodiversität, wurden bis heute nur 15.000 Hektar renaturalisiert“, wettert Mihaiu weiter. Bei unzähligen Gelegenheiten versicherten die Behörden zwar die ökologische Rekonstruktion der einst trockengelegten Flächen, doch sei bis heute nicht viel passiert. „Die wirtschaftlichen Interessen sind immer noch hoch“, bekennt der Naturschützer. Er warnt: „Der Druck zur Erweiterung landwirtschaftlicher Flächen gehört lange nicht der Vergangenheit an!“

Brutales Elektrofischen und rüpelhafter Wasserverkehr

Zu den alten kommen Probleme moderner Natur hinzu. Ausflugsboote mit starken Motoren, die ungebremst durch alle Kanäle preschen. Ihre Bugwellen zerstören die Ufer, die Schiffsschraube zerhäckselt gnadenlos alles, was sich ihr in den Weg stellt. Viorica Bîscă, ehemalige Gouverneurin des Reservats Biosphäre, setzt sich schon lange für eine Reglementierung des Verkehrs im Delta ein. Ein entsprechendes Gesetzesprojekt liegt dem Parlament vor. Neben Geschwindigkeitsbegrenzungen je nach Kanal und Reglementierungen der Zufahrt größerer Boote in bestimmte Zonen plädiert sie vor allem für ein Nachtfahrverbot. Eine Maßnahme, die bei der Bekämpfung von Schwarzfischerei im großangelegten  Stil von Vorteil wäre. Ohnehin sei es schwierig genug, diesen mafiaähnlichen Strukturen beizukommen, die mit illegalen Methoden –  vor allem dem Elektrofischen, wo sämtliches Leben im Umkreis der todbringenden Elektroden auf brutalste Weise hingemetzelt wird – größte Umweltschäden anrichten, die bis zur Ausrottung ganzer Spezies gehen.

Auch der aktuelle Gouverneur, Edward Bratfanof, beklagt viel zu wenig Personal zur Überwachung und Pflege des riesigen Areals der Biosphäre. Welch nachhaltigen Schaden Wilderer anrichten können, demonstriert eine Anekdote des Umweltforschers Alexandru Dorosencu vom Nationalen Institut für Erforschung und Entwicklung des Donaudeltas: In der Nähe der Festung Histria gab es einmal einen kolossalen Brutplatz für Wildgänse. 1996 drangen Wilderer eines nachts mit Motorbooten ein und erschossen die schlafenden Gänse in Massen. Seither hatte sich dort nie wieder ein gleichermaßen großer Schwarm an Wildgänsen niedergelassen. Für Großvögel ist es ein Problem, wenn Nistplätze im Delta wegfallen, denn sie finden nur sehr schwer Ersatz. Auch Ornithologe Eugen Petrescu betont, das Donaudelta sei einer der  weltweit bedeutendsten  Nistplätze für migrierende Wasservögel. „Man denkt, wenn man durch die Kanäle fährt, viele Arten hier seien gewöhnlich“, verweist er auf die unzähligen Ibisse, Sichler oder Reiher im Film, „doch gewöhnlich sind sie nur hier!“ Biodiversität sei kein Luxus, betont auch Mihaiu immer wieder. Die Störpopulation, im Delta noch vorhanden, nimmt weltweit drastisch ab. Doch nicht für den Touristen, der auch mal was Großes an der Angel haben möchte, brauchen wir die Riesenfische, sondern für die Erhaltung des biologischen Gleichgewichts. „Wenn selbst allgemeine Spezies wie Frösche oder  Mücken bereits Probleme haben“, bemerkt Dorosencu, „dann haben wir ein ernsthaftes Problem.“

Tödlicher Algenschlick und Abbrand in Wildwestmanier

Druck auf solche Spezies kommt indirekt vor allem von der Landwirtschaft. Wo Dünger zu einer Übersättigung an Nährstoffen im Wasser führt, bilden sich schnell Algen, die wiederum anderen Lebewesen den Sauerstoff wegatmen. So schnell können sich natürliche Freßfeinde gar nicht bilden, und wenn, dann nähmen sie ungesund überhand. Das Gleichgewicht stören aber auch Fischer, die unkontrolliert Schilfbestände abbrennen, damit die Fische freier zirkulieren können. In gewissem Rahmen ein natürlicher Prozess, meint Dorosencu, solange er kontrolliert wird. Alle fünf Jahre mache ein begrenzter Abbrand in rotierenden Zonen Sinn, doch heute herrscht das reinste Desaster. Jeder macht, was er will. Unkontrollierte Feuer breiten sich aus und machen auch vor geschützten Regionen nicht halt. Abhilfe würde geschaffen, läge die Genehmigung für gezielten Abbrand und deren Überwachung in Händen der Verwaltung der Reservation Biosphäre.

Doch dort herrscht akuter Personalmangel, wird Druck ausgeübt von Seiten diverser Interessenträger. Zudem wird etwa alle zwei Jahre der Gouverneur ausgewechselt. „Wer sind die Wilderer eigentlich?“, will einer der Zuschauer in der auf den Film folgenden Diskussion wissen. Die Natürschützer grinsen betreten. Die Antwort fällt einstimmig aus. Man kann sie beinahe überall finden, in allen Strukturen und Behörden. Gemeint ist jedenfalls nicht der lokale Fischer, der seine Angel ohne Schein ins Wasser hängt. „Das Delta wurde den Menschen genommen“, klagt auch Ivan Patzaichin, der Ruderchampion, der aus Mila 23 stammt. Er versucht damit, den Mangel an lokaler Initiative zu erklären. Resignation, soziale Probleme, Abwanderung und eine Überalterung der Region sind die Folgen. Das Delta ist eine vielfach gemolkene Kuh. Doch füttern will sie keiner. Ein langfristiges Konzept, wie es weitergehen soll, hat niemand in diesem Land, kritisiert auch Liviu Mihaiu.

Tirolerhäuser und Wellblech – ist Tourismus wirklich die Rettung?

Statt dessen sprießen die Villen Neureicher, die Tirolerhäuser und bunten Gästepaläste aus dem Boden, mit kleinen Privathäfen voller Motoryachten und anderer potenter Flitzer. Restriktionen zum Bau gibt es zwar längst, nur beachtet sie keiner. Das schlechte Beispiel macht Schule. Statt Schilfdächern und den typischen, blitzblau gestrichenen Fensterläden möchten nun auch die Einheimischen Wellblech und Plastikjalousien. Nur wenige erkennen den falschen Trend, wenn Touristen nicht mehr kommen. „Ich hätte auch gerne Thermopanfenster“, erzählt die Besitzerin eines schmucken Fischerhäuschens vor der Kamera, „doch die Holländer, die immer bei uns Urlaub machen, meinten, dann kommt sicher keiner mehr zu euch!“

Ist Tourismus die Rettung für das Donaudelta? Ein mit lärmenden Bikininixen vorbeiziehendes Motorboot beantwortet die Frage von selbst. Klatschen und Pfeifen, damit die Vögel auffliegen, mit dem Speedboot durch winzige Kanäle zischen, leider gibt es dies alles. Sehr zivilisiert hingegen verhält sich meist der ausländische Rucksacktourist, der in der freien Natur campieren und Tiere beobachten will, bemerkt Dorosenco. Doch für diesen gibt es kaum öffentlich ausgewiesene Plätze, er ist praktisch gezwungen zum illegalen Zelten.

Tourismus und Naturschutz vereint Ornithologe Petrescu mit seinen Vogelbeobachtercamps. Die Teilnehmer lernen dort nicht nur, wie man sich im Delta korrekt verhält, sondern entwickeln eine nachhaltige Liebe zur Natur. Viele kommen immer wieder, helfen den Forschern, die Fülle an Arten zu protokollieren, zu beobachten und neue Naturfreunde anzuleiten. Auch Patzaichin leistet mit seiner Kampagne Rowmania einen Beitrag zum gesunden Tourismus (die ADZ hat mehrfach berichtet). Vom ersten Ruderzentrum aus, das 2012 in Crişan eröffnete, kann man nun in leicht zu steuernden, traditionellen Holzbooten interessant zusammengestellten Wasserrouten folgen, ohne Fauna und Flora groß zu stören.

Einstimmig fordern die Naturschützer Aufklärung und Erziehung der jungen Generation, vor allem aber der Kinder des Deltas. Sie sollen zumindest erkennen, welchen einzigartigen Schatz sie in ihren Händen halten. Auf breiter Front hingegen versteht sich der Film als Aufschrei. Es ist nicht alles so rosig, wie einzelne Projekte und Diskussionen glauben machen könnten. Lösungen existieren zwar, doch lassen sie oft lange auf sich warten. Vor allem aber braucht man Geld. Allein von 10 Millionen Euro spricht der Gouverneur für ein dringend nötiges Überwachungssystem des Wasserverkehrs, bei dem Boote mit Sensoren ausgestattet werden sollen. „Damit sähe man sofort, wenn einer irgendwo einen Kanister Öl ins Wasser kippt“.  

Immer noch werden jedes Jahr neue Spezies aus dem Delta gemeldet. Ein unerschöpflicher Schatz, den zu verlieren wir uns nicht leisten können, denn dann erst wird Rumänien wirklich arm sein, warnt Liviu Mihaiu. Einig sind sich die Naturschützer: Wenn der Raubbau ungebremst so weitergeht, wird es das Delta, das wir heute kennen, vielleicht schon in den nächsten fünf Jahren nicht mehr geben. Schon einmal haben wir Menschen das Paradies verloren. Können wir es ein zweites Mal riskieren?

„Delta Dunării - paradisul aproape pierdut“, ein Film zur Informationskampagne der NGO Salvaţi Delta şi Dunărea in Kooperation mit der Verwaltung Reservation Biosphäre Donaudelta; in Kürze auch auf Youtube, www.salvatidelta.ro und www.rezervatiadelta-dunarii.ro .