Wenn zusammenwächst, was nicht unbedingt zusammengehörte

Die Stabilität des Instabilen oder die Bilanz des ersten rumänischen Jahrhunderts

Als 2014 in West- und Mitteleuropa damit begonnen wurde, an den damals vor hundert Jahren begonnenen Großen Krieg zu erinnern, hatte Rumänien andere Sorgen. Das Land stand vor dem Wahlkampf für das Amt des Staatspräsidenten: Oberhaupt der Nation dürfe nur ein Rumäne orthodoxen Glaubens werden, hieß es damals. Dazu ist es bekanntlich nicht mehr gekommen. Ein Siebenbürger Sachse zog in den Cotroceni-Palast ein und eben diesem Siebenbürger Sachsen erwies das rumänische Heer Anfang August 2017 in Mărăşeşti die Ehre. Die Ironie des Geschichte ist manchmal nicht zu überbieten: Im Sommer 1917 konnte Rumäniens angeschlagene Armee nur schwer das deutsche Heer bei Mărăşeşti, Mărăşti und Oituz stoppen, mehr als das halbe Altreich war bereits vom Deutschen Kaiserreich besetzt. Keine drei Jahre später besiegelte der Vertrag von Trianon das Ende des fast tausendjährigen ungarischen Königreichs und die Deutschen in Siebenbürgen und dem Banat sprachen sich für die Vereinigung ihrer Regionen mit Rumänien aus. 100 Jahre nach Ausbruch des Ersten Weltkrieges wählte das rumänische Volk einen Rumäniendeutschen zum Staatspräsidenten, der in Mărăşeşti als Staatschef des seit 1918 vereinten Rumäniens die Feierlichkeiten zum 100. Jahrestag der siegreichen Schlacht eröffnete.

Im kommenden Jahr wird Rumänien also 100 Jahre feiern, seit sich Bessarabien, die Bukowina, Siebenbürgen, die Maramuresch, das Partium und das Banat mit dem Altreich vereinigten. Und es wird viel Tinte fließen, die einen werden den Nationalgeist beschwören, die anderen werden von Abspaltung und Autonomie reden. Wie stark sind noch die Unterschiede zwischen Siebenbürgen und dem Banat einerseits und dem 1859 entstandenen Altreich/Vechiul Regat andererseits? Gibt es Gemeinsamkeiten? Ist zusammengewachsen, was nicht unbedingt zusammengehörte? Lebt die 1918 untergegangene Grenze zwischen dem mitteleuropäischen Habsburgerreich und dem byzantinisch-balkanisch-orientalischen Altreich in den Köpfen fort?

Historiker, Ökonomen, Soziologen, Philosophen, sie alle werden das Wort ergreifen. Und weil der Rumäne sich sowieso bestens auskennt, wird er Historiker, Ökonom, Soziologe und Philosoph gleichzeitig spielen. Rumäniens Politiker werden, wie in Mărăşeşti vor Kurzem, große Worte in den Mund nehmen; die Vergangenheit ist seit eh und je glorreich, vielleicht auch die Zukunft, allein die Gegenwart bereitet Kopfzerbrechen. Andere dagegen, zum Beispiel der Klausenburger Hitzkopf Sabin Gherman, werden zumindest indirekt der Donaumonarchie nachtrauern. Und eine Welle der Entrüstung auslösen, die jedes Mal hochsteigt, wenn das Vaterland kritisiert und an der Unzertrennlichkeit des Volkes und am Nationalcharakter des Staates gerüttelt wird. Kein Zweifel – die 25 langen Jahre nationalistischer Propaganda unter Ceauşescu tragen weiterhin ihre Früchte. Wer Zeit hat, der verfolge ab nun ganz aufmerksam die öffentliche Diskussion um das Jahr 1918 und die Gründung Großrumäniens. Es könnte interessant werden und auf alle Fälle unterhaltsam. Es ist natürlich zu hoffen, dass Regierung und Gesellschaft den angemessenen Ton finden werden, um an das Jahr 1918 würdig zu erinnern. Wenn sie sowieso die Vereinigung von 1918 nicht mehr mit entsprechenden Projekten feiern können, wie zum Beispiel Infrastrukturinvestitionen, die mehr für die Vereinigung in den Köpfen tun könnten als jedwedes Polit-Gelaber mit obligatorischer Kranzniederlegung vor Kriegsdenkmälern.

99 Jahre nach den glücklichen Fügungen des Jahres 1918 ist Rumäniens Bilanz ambivalent. Und relativ. Alles eine Sache des Blickpunkts, des Betrachters. Das rumänische Jahrhundert hat eindeutig Gewinner und Verlierer. Nach dem verlorenen Zweiten Weltkrieg, der kommunistischen Diktatur und der krisenreichen Transformationszeit konnte das Land seine Staatlichkeit behaupten, eine halbwegs funktionierende Marktwirtschaft und eine, zugegeben, manchmal sehr originale Demokratie errichten. Hundert Jahre nachdem rumänische Soldaten bei Mărăşeşti das Land vor dem endgültigen Desaster retten konnten, ist das Land als volles Mitglied der EU und der NATO in der Gemeinschaft der freien Welt fest verankert.

Zu den Verlierern aber dürften die Minderheiten zählen, jene, die in der Zwischenkriegszeit fast ein Drittel der Bevölkerung des Königreichs Rumäniens dargestellten hatten und allmählich verschwunden sind. Die Juden, aber vor allem die Deutschen, deren Zahl in den Wirren des Zweiten Weltkriegs, des Kalten Kriegs, der Ceauşescu-Diktatur und der dramatischen Transformationszeit verschwindend gering geworden ist. Auch die Magyaren zählen zu den Verlierern, das Gefühl des dauerhaften Verlustes werden sie wohl nie überwinden. Sie bleiben Rumäniens größte Minderheit und sie genießen zweifelsohne alle Rechte, die ihnen gebühren. Aber ob sie sich in Rumänien wohl fühlen? Nicht wirklich. Mit Ausnahme jener unter ihnen natürlich, die sich mit dem Bukarester Establishment seit 1989 prächtig arrangiert haben. Es gibt davon einige, dem Durchschnittsungarn zwischen Sathmar/Satu Mare und Sankt Georgen/Sfântu Gheorghe müssten sie zum Hals raushängen, aber er wird sie weiterhin wählen. Als notwendiges Übel sozusagen. Und die Politiker-Kaste an der Dâmboviţa wird sie immer wieder für Gelegenheitsallianzen nutzen und sie entsprechend vorzeigen, als Garanten der Stabilität, der europäischen Verankerung des Landes, des Rechtsschutzes aller Bürger, die den nationalen Minderheiten angehören. Wie dem auch sei, besonders viel wird 2018 von den Minderheiten wohl nicht die Rede sein, obwohl ihr Beitrag zur Entwicklung und zur Vielfalt dieses Landes nicht geleugnet werden kann.

Schaut man sich alle gesellschaftlich und wirtschaftlich relevanten Indikatoren an, geht es Rumänien 99 Jahre seit dem Schicksalsjahr 1918 so gut wie noch nie. Dank der Zugehörigkeit zu der anderswo so verschmähten Europäischen Union und zum NATO-Bündnis, hat das Land eine Entwicklung durchgemacht, die es zwar aus der eindeutig peripheren Position noch nicht losgelöst, aber immerhin die Voraussetzungen dafür geschaffen hat. Dass daraus das Beste gemacht wird, das ist dann natürlich allein die Sache des staatstragenden Volkes. Ob ihm das auch gelingt, ist keineswegs klar. Was kann denn aus Rumänien werden, wenn in den kommenden Jahrzehnten alles gut geht? Wenn die Europäische Union bestehen bleibt, ihre Stagnationsphase überwindet, wenn Russland in Zaum gehalten wird, keine Wirtschaftskrise ausbricht und das stets zarte Pflänzchen der Demokratie weiterhin wächst? Im besten Falle wird Rumänien zu einer Art Italien auf dem Balkan, ein verhältnismäßig wohlhabendes Land, in dem es den Bürgern gut geht, sie aber kein Vertrauen in ihren Staat haben und auch der Staat kein Vertrauen in seine Bürger hegt. Dementsprechend ist auch die Qualität der öffentlichen Dienstleistungen und der Infrastruktur, und – wie heute hierzulande und auch wie in Italien – wird weiterhin die Rede von Korruption sein, die unbedingt bekämpft werden muss. Das kollektive Gejammer wird weitergehen, Selbstmitleid bleibt an der Tagesordnung, aber unterm Strich wird es relativ gemütlich zugehen. Verhältnismäßig komfortabel. Natürlich nicht wie in Dänemark, aber so wie in Mittel- und Süditalien. Oder wie in Portugal. Besser noch: wie in Griechenland, aber Griechenland ist seit der wirtschaftlichen Misere des letzten Jahrzehnts kein Beispiel mehr, das anzustreben wäre.

Mittlerweile aber muss man auf die Gegenwart schauen. Und die Bilanz der letzten 100 Jahre ziehen. Zumindest die wirtschaftliche, denn die kulturell-gesellschaftliche ist heikel, mitunter gefährlich. 2018 wird keine Autobahn von Neumarkt/Târgu Mureş nach Jassy/Iaşi führen, keine von Hermannstadt/Sibiu nach Piteşti oder von Lugosch/Lugoj nach Drobeta-Turnu Severin. Der Zug von Klausenburg/Cluj-Napoca nach Bukarest wird langsamer fahren als in der Zwischenkriegszeit. Der halbe Kreis Mehedinţi wird in Temeswar/Timişoara wohnen, in Klausenburg dürften die Immobilienpreise weiterhin steigen, während im 90 Kilometer entfernten Zillenmarkt/Zalău die Zeit längst stehen geblieben ist. Genauso wie in Reschitza/Reşiţa oder in Vaslui, in Alexandria oder in Hunedoara. Und die Zahl der Auslandsrumänen wird weiterhin wachsen; wenn sie die Vier-Millionen-Marke noch nicht erreicht hat, dann dürfte dies 2018 geschehen. Mehr rumänische Kinder werden im westeuropäischen Ausland auf die Welt kommen als zwischen Altbeba/Beba Veche und Sulina. Und auf einer Autofahrt im August, von Temeswar nach Bukarest zum Beispiel, wird es fast genauso viele italienische, spanische, österreichische und deutsche Kennzeichen wie einheimische geben. Und in den Schulen und Universitäten wird die Verdummung des Durchschnittsschülers und -studenten weitergehen, aber zumindest das ist kein rein rumänisches Problem. Ein schwacher Trost, aber immerhin einer.

Lösungen für alle diese Probleme gibt es kaum, jedenfalls sind sie von der gegenwärtigen politischen Klasse nicht zu erwarten. Auch vor hundert Jahren haben die Politiker des Altreichs so manchen groben Fehler gemacht, aber das Land hatte halt Glück. Viel Glück. Jetzt ist es wohl anders, allein die Lobeshymnen auf die mutigen Soldaten von Mărăşeşti dürften nicht mehr ausreichen. Und auch nicht, dass ab und wann etwas doch fertiggestellt wird, eine Strecke Autobahn, eine instandgesetzte Fernstraße, ein Wasser- und Kanalisationsnetz, eine Grünfläche irgendwo. Klar, man soll das alles nicht herunterspielen, schließlich kann sich ein Land wie Rumänien nur durch kleine Schritte entwickeln, eben auch durch solche.

Aber im Unterschied zu 1917/1918 scheinen Rumäniens Eliten nicht zu wissen, was sie mit dem Land machen sollen. Damals zumindest wussten der König und die tonangebenden Politiker, was sie wollten. Sie wollten Siebenbürgen, sie bekamen Bessarabien, die Bukowina und das Banat dazu. Was nun Rumäniens führende Schicht will, was das Volk will, und, natürlich, wie das Ziel erreicht werden soll, ist mehr als unklar. Am liebsten wohl weitermachen wie bisher. Die Stabilität des Instabilen bleibt ein rumänisches Geheimrezept. Zum erfolgreichen Sich-Durchwursteln.