„Wie ein Möbelstück war mein Kind“

Therapiemöglichkeiten für Kinder mit Autismus sind in Rumänien kaum vorhanden

20 Stunden pro Woche verbringt Vlăduţ in Casa Soarelui.

ABA-Therapeuten benutzen visuelle Hilfsmittel bei der Arbeit mit den Kindern
Fotos:Helpautism

Nach zweieinhalb Jahren wurde Alexandrus Therapie unterbrochen. Mit den Auswirkungen dieser Entscheidung muss Lili sich ihr ganzes Leben lang zurechtzufinden.

Daniela Bololoi, die Gründerin des Vereins Helpautism
Fotos: die Verfasserin

Am kleinen Tisch sitzt ein Fünfjähriger, den Blick nach unten gerichtet. Er spitzt fleißig und konzentriert Buntstifte. Später ordnet er Karten, damit diese perfekt nebeneinander liegen. Es ist ein grauer Wintervormittag in Bukarest. Ramona sitzt neben ihm und versucht, seine Aufmerksamkeit zu erheischen: „Jetzt pass auf, schau mich an, bitte. Mich! So, Kleiner, toll. Vlad, sag mir, wer ist Ella?“ „Ich“, antwortet der Bub.

„Du kannst das besser, wer ist Ella?“ wiederholt die Dame befehlend und sanft zugleich. „Die Mutter“, antwortet er. Sie üben das, bevor eine neue Frage auftaucht: „Wer ist Bogdan?“ Der kleine Vlad erwidert mit einem kurzen „La“. Die Therapeutin bleibt beharrlich: „Ich möchte, dass du aufpasst. Klatsche in die Hände! Zeig auf deine Nase! Sehr gut, gut gemacht, jetzt: Wer ist Bogdan?“, und Vlăduţ gibt die richtige Antwort - das ist sein Vater. Das wiederholen sie auch drei Mal. „Super, das war eine sehr schöne Antwort. Wer ist Bianca?“ fragt Ramona weiter. „Ich“, antwortet das Kind. „Das kannst du besser, wer ist Bianca? Deine Sch...“, beginnt sie. „...wester“, setzt das Kind fort. „Sehr gut, jetzt noch mal... "

Nur 200 von 15.000 Kindern therapiert

Seit einem halben Jahr, vier Stunden täglich, wiederholen und imitieren. Durch solche Programme lernt Vl²du] im Bukarester Autismus-Zentrum namens Casa Soarelui die Welt kennen und zu benennen. Therapeutin Ramona dirigiert seinen Blick ständig auf die Übungen oder auf sich selbst, wenn er abgelenkt ist. Am Ende der Runde mit den sozialen Fragen darf sich Vlad ein Spiel auswählen, denn er hat alles gut gemacht. Positive Verstärkung und Belohnung sind Schlüsselbegriffe in der angewandten Verhaltensanalyse (ABA - Applied Behavior Analysis), einer der nützlichsten Methoden für Kinder mit Autismus-Spektrum-Störungen (ASS). Das Ziel von Ramona ist es, die störenden Verhaltensweisen des Jungen zu reduzieren, sodass er in eine normale Schule integriert werden kann. Der Junge hat große Fortschritte gemacht: als er ins Zentrum kam, sprach er überhaupt nicht. Die Therapeutin erklärt sich zufrieden mit seiner Entwicklung: „Wir haben noch viel im Bereich Logopädie zu tun. Er gibt sich viel Mühe, wiederholt alles, ist aufnahmefähig und hat nur Momente, wenn er nicht aufmerksam ist“, meint sie.

Vlăduţ kommt aus Botoşani und ist eines der ungefähr 15.000 Kinder mit Autismus hierzulande. Er ist ein glücklicher Fall und gehört zu den 200 Kindern, die im Rahmen der Projekte vom Verein Helpautism kostenlos therapiert werden. Die Therapie ist ansonsten extrem teuer, denn es gibt sehr wenige Experten mit den notwendigen Fertigkeiten. Autismus ist wenig bekannt in Rumänien. Inländische Spezialisten wurden in den vorigen Jahren entweder im Ausland geschult oder haben sich von ausländischen Experten trainieren lassen – manche sogar auf Initiative und Kosten verzweifelter Eltern, die ihren Kindern helfen wollten. Der Bedarf an ABA-Experten ist riesig.

Leben und Job dem Kind geopfert

„Die Ärzte sagten, ich muss noch warten – das hat mich am meisten genervt. Je länger man wartet, desto kleiner sind die Besserungschancen für das Kind. Man muss jetzt alles Mögliche machen. Ich gebe mir jetzt Mühe, da ich nicht will, dass er sein ganzes Leben lang einen Begleiter braucht. Ich habe sehr viel geopfert und mein Leben verändert, damit mein Kind es schafft“, erklärt Monica, eine alleinerziehende Mutter aus Jassy/Iaşi, deren Kind Fabian gerade mit einer anderen Therapeutin in Casa Soarelui arbeitet.

Bei dem zweieinhalbjährigen Fabian wurde Monica erst nach seinem ersten Epilepsie-Anfall auf autistische Verhaltensstörungen aufmerksam: „Er schaute Leute nicht mehr an und isolierte sich, dann wurde er hyperaktiv. Sein autoaggressives Verhalten tauchte unter verschiedenen Formen auf - er ohrfeigte sich selbst, stieß mit dem Kopf gegen die Wand oder zog sich selbst am Ohr“, erinnert sich die Mutter. Niemand hat ihr gesagt, es gäbe Therapieoptionen und sie dachte ursprünglich, dass man dagegen nichts tun könne.

Ihren Job und ihr ganzes Leben in Jassy hat sie aufgegeben, damit ihr Kind bei Helpautism einer Therapie unterzogen wird und eine Chance auf ein besseres Leben bekommt. Davor hat sie auch versucht, selbst mit dem Kind zu üben. „Es ist schwer, sein eigenes Kind zu therapieren, das sollten die Fachkräfte machen und nicht die Eltern. Eltern können das psychisch und physisch nicht schaffen“, meint sie. Übrigens hätte sie es auch nicht geschafft, die Therapiekosten aufzubringen. Fabian hat jetzt Fortschritte gemacht und die couragierte Mutter hofft, dass auch er eine Regelschule besuchen können wird.

Irreversible Folgen bei Therapieabbruch

Nicht alle haben diese Chance. Das älteste Kind in Casa Soarelui ist der elfjährige Alexandru. Der erste Arzt hat Sprachverzögerung diagnostiziert und lange Zeit wurde Alexandru hierzu medikamentös behandelt. „Mit zweieinhalb Jahren konnte er nachts nicht schlafen, wachte um zwei Uhr morgens auf und rannte durch das ganze Haus. Wir gingen alle drei Monate zum Arzt. Ich habe darauf bestanden, dass wir einen anderen Arzt suchen“, erzählt Lili, eine weitere Mutter, die gerade ihr Kind zur Therapie gebracht hat. Nachdem eine Ärztin vom Bukarester Obregia-Krankenhaus bestätigt hatte, dass Alexandru Autismus hat, gab es kaum jemanden, der ABA anwenden konnte. Sie fand einen Psychologen, dem gerade von einem britischen Experten ABA beigebracht wurde. Er kannte sich noch nicht so gut aus, aber Lili hat diese Chance wahrgenommen: „Mein Kind war eine Versuchsperson. Es war finanziell sehr schwierig für uns“, meint sie. Mehrere Kredite wurden beantragt - und tatsächlich gab es positive Resultate. „Wie ein Möbelstück war mein Kind am Anfang. Danach konnte er alleine auf die Toilette gehen, essen und mehr oder weniger Laute von sich geben“, e lärt Lili. Nach zweieinhalb Jahren konnten sich die Eltern jedoch eine Fortsetzung der Therapie nicht mehr leisten. Die Unterbrechung dauerte fast drei Jahre lang.

Erst mit acht Jahren hat Alexandru mit Hilfe von Helpautism die Therapie wieder aufgenommen. Heute kann er Sätze mit drei-vier Wörtern bilden, kann um etwas bitten, wenn er etwas haben will. Er zieht sich allein an und wäscht sich. Die Therapie dauerte insgesamt sechs Jahre, aber sie war nicht kontinuierlich: „Er macht jetzt Fortschritte, wir sind uns aber bewusst, dass wir die Pause von sechs Jahren nicht mehr aufholen können, egal wie willensstark wir sind. In seinem Alter ist das nicht mehr möglich“, meint die Mutter.

Ungewisse Zukunftsperspektive

Alexandru hat einen Kindergarten für Kinder mit speziellen Bedürfnissen besucht und jetzt ist er in der fünften Klasse in einer ebensolchen Schule, kann rechnen und schreiben. „Wir konnten ihn nicht auf eine Regelschule bringen, da wir die Therapie unterbrochen haben“, erklärt Lili. Die Mutter musste auf ihre Arbeitsstelle verzichten, denn der Junge muss rund um die Uhr überwacht werden. Ein Versehen kann in solchen Fällen einen hohen Preis haben: Einmal hat er als kleines Kind die Kaffeemaschine umgekippt und sich die Brust verbrüht. Als Assistentin ihres Kindes bekommt Lili 600 Lei im Monat  als Unterstützung vom Staat.

Alexandru wird die Schule bis zur achten Klasse besuchen. Was danach passiert, weiß seine Mutter nicht. Lili beschwert sich über den Religionsunterricht: „Da wird nichts gemacht, es ist eine Stunde, in der er etwas Nützliches machen könnte. Vielleicht hat er eine Fähigkeit, die wir noch nicht entdeckt haben. Aber wenn er nichts macht, können wir das nicht wissen“, meint die Mutter, die die Hoffnung hegt, dass ihr Junge zukünftig irgendeinen Beruf ausüben kann, um seinen Lebensunterhalt zu bestreiten.

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Was ist Autismus?

Zu den Symptomen des Autismus zählen gestörte soziale Interaktion und Kommunikation und auffällige Verhaltensmuster. Es gibt allerdings eine sehr große Anzahl von Variationen und Stufen dieser Entwicklungsstörung mit noch unerklärten Ursachen. Nicht selten werden Autismus-Spektrum-Störungen (ASS) von anderen Erkrankungen begleitet. Autismus heißt, dass die Kinder andere Wahrnehmungs-, Denk- und Verhaltensformen haben als die üblichen. Kinder mit ASS müssen möglichst früh gefördert werden: Je eher eine dem Kind angepasste Therapie beginnt, desto besser, denn das Gehirn ist im frühen Alter noch wandlungsfähiger. Autismus kann zurzeit nicht geheilt werden, nur behandelt. Die Therapieansätze sind für jedes Kind spezifisch und verschieden.


Über Helpautism

Der Verein Helpautism wurde vor fünf Jahren von Daniela Bololoi gegründet. Sie erkannte schnell, dass sie nicht über das notwendige Geld verfügt, ihrem Kind die Therapie zu sichern und hat begonnen, von ihren damaligen Arbeitskollegen die zwei Prozent der Steuerverpflichtungen, die statt an den Staat auch an andere Einrichtungen gespendet werden können, zu sammeln. Da sie mehr Geld bekam, als sie brauchte, hat sie sich entschieden, sich auch für andere Kinder zu engagieren.

Der Verein bietet kostenlose Therapie für Kinder mit autistischen Verhaltensstörungen in mehreren Zentren für Frühdiagnose und Intervention an - in Pipera und in Casa Soarelui in der Hauptstadt, sowie in Suceava. Jedes Kind kann hier kostenlos diagnostiziert und psychologisch beurteilt werden. Die Organisation kann jeder durch Abgabe der erwähnten zwei Prozent der Steuerverpflichtungen unterstützen. Nähere Informationen sind unter www.helpautism.ro/ erhältlich.