Wie Minderheiten auch die Mehrheit bereichern: Rumänien als Beispiel

ADZ-Gespräch mit Staatssekretärin Enikö Katalin Lacziko, Leiterin des Departements für interethnische Beziehungen der rumänischen Regierung (DRI)

Enikö Katalin Lacziko, Staatsekretärin im DRI: „Anderen Ethnien zu begegnen, hat meine Persönlichkeitsentwicklung enorm bereichert.“

Minderheiten in Rumänien – mehr als nur ein bunter Farbklecks auf der Landkarte des nationalen Kulturerbes.
Fotos: George Dumitriu

Zwanzig offiziell anerkannte Minderheiten leben in Rumänien, pflegen ihre Muttersprache, ihr Brauchtum, haben Fußabdrücke in der Geschichte des Landes hinterlassen, nehmen an unserem politischen Leben teil. Denn obwohl ihre Wurzeln weit über die Landesgrenzen hinausreichen sind auch sie rumänische Bürger mit Brief und Siegel. Menschen, die diesen Flecken Erde Heimat nennen. Was sie von der Mehrheit unterscheidet, ist ihre Sprache, vielleicht eine andere Religion, ihre Sitten und Bräuche – Echos vergangener Zeiten aus ihrem fernen, einstigen Zuhause oder auch späterer Entwicklungen. Lebende Geschichte von anderswo, in unser Land und unsere Zeit transplantiert. Und damit ein schützenswertes Welterbe. Andererseits fragt man sich als moderner Mensch: Wofür lohnt sich das Bewahren althergebrachter Traditionen, das Aufrechterhalten des Unterschieds zur Mehrheitsgesellschaft – gerade jetzt, wo wir uns alle bemühen, zu einem einigen Europa zusammenzuwachsen?

Wäre so betrachtet Minderheitenschutz nicht ein längst überflüssiges Thema? 
Der Wunsch nach gesellschaftlicher Gleichheit, aber auch das Bedürfnis, eine individuelle Identität zu pflegen, verraten, dass zwei Herzen in des Menschen Brust schlagen. Zwar ist nicht für jeden kulturelle Identität ein Thema, doch gerade die Probleme, die Zuwanderungsländer in Europa mit einer multikulturellen Gemeinschaft durchleben, zeigen auf, dass Integration von Einwanderern – egal ob von damals oder heute – nicht auf Assimilation hinauslaufen darf. Über den positiven Aspekt einer kulturellen Vielfalt, das friedliche Miteinander der Ethnien in Rumänien und die Frage, inwiefern Minderheitenschutz nicht nur den Minderheiten selbst, sondern dem ganzen Land zugute kommt, spricht ADZ-Redakteurin Nina May mit der Leiterin des Departements für interethnische Beziehungen der rumänischen Regierung (DRI), Staatssekretärin Enikö Katalin Lacziko.

Frau Lacziko, im letzten Jahr organisierten Sie eine Journalistenreise in die nördliche Dobrudscha. Ziel war die Bestandsaufnahme des multiethnischen Kulturerbes im Rahmen des Donaustrategie-Projektpunktes „Kultur, Tourismus und Kontakte zwischen den Menschen“, um hinsichtlich der Lage der Minderheiten zu sensibilisieren und eine mögliche Einbindung ihres Kulturerbes in den Tourismus aufzuzeigen. Mich haben die Begegnungen auf dieser Reise tief berührt – und mein Interesse verstärkt. Ich war fasziniert, wie friedlich Menschen mit unterschiedlichsten Kulturen und Religionen in diesem Gebiet miteinander leben – unabhängig davon, was in der politischen Welt „da draußen“ passiert: Ukrainer und russische Lipowaner, muslimische Türken und Tataren, Italiener, Juden, Griechen und viele mehr. Wie nimmt das DRI die Aufgabe wahr, diese Minderheiten und ihr Kulturerbe zu schützen?

Es gibt eine Reihe von Gesetzestexten zum Schutz der Minderheiten. Für mich – selbst Angehörige einer Minderheit – ist es das Wichtigste, dass wir die Möglichkeit und das Recht haben, unsere Identität in allen Formen zu bewahren: Sprache, Kultur, Religion. Diese müssen per Gesetz geschützt sein. Minderheitenschutz bedeutet aber auch, dass wir dafür Sorge tragen, dass die Minderheiten erhalten bleiben. Der Gedanke an Assimilation macht uns große Angst. Wir leben in einer genormten Welt, in der es sehr schwer ist, die eigene Sprache zu bewahren. Doch wenn man seine Sprache verliert, verliert man seine Identität. Deswegen gibt es bei uns – neben anderen Rechten in der Verwaltung und im Justizsystem – eine Reihe vom Maßnahmen zur Bewahrung der Muttersprachen der Minderheiten.

Was zum Thema Minderheitenschutz ist spezifisch für Rumänien? Was gibt es auch anderswo?

Es gibt gemeinsame Elemente mit anderen europäischen Ländern auf der Basis des EU-Rahmenübereinkommens zum Schutz nationaler Minderheiten, das vor 20 Jahren implementiert wurde, sowie der europäischen Charta der Regional- und Minderheitensprachen – zwei starke Instrumente, die viele EU-Mitgliedsstaaten ratifiziert haben. Die EU macht sehr klar: Minderheitenschutz ist wichtig, auch weil es eine ganze Reihe Sprachen gibt, die vom Aussterben bedroht sind. Es ist unsere Pflicht, diese Vielfalt zu bewahren. Daneben gibt es spezifische rumänische Elemente in der internen Gesetzgebung.

Sprechen wir über die Situation in Rumänien. Wie sind die Minderheiten zum Beispiel in der Regierung vertreten?

Hierzulande sehr gut. Jede anerkannte Minderheit hat einen eigenen Vertreter im Parlament. Eine Ausnahme bildet die ungarische Minderheit: Weil sie zahlenmäßig vergleichsweise sehr groß ist, gibt es auch eine stärkere Präsenz im Parlament. Basierend auf dieser Wählermasse hat die ungarische Partei mehrere Senatoren und Abgeordnete. Ein weiterer Sonderfall sind die Tschechen und Slowaken, die einen gemeinsamen Abgeordneten haben, weil sich seinerzeit nur eine Organisation gemeldet hat, die beide vertreten wollte. So gibt es also 18 Minderheitenabgeordnete in Rumänien.

Wie sieht die Situation der Minderheiten vor dem Prinzip des Stimmengleichgewichtes im Parlament aus?

Normalerweise kommt ein Abgeordneter auf 70.000 Bürger. Auf die Minderheiten trifft diese Zahl nicht zu. Jeder Vertreter eines Minderheitenverbandes, der Mitglied im nationalen Minderheitenrat ist und einen bestimmten Prozentsatz von Stimmen auf nationaler Ebene bekommt, kann Abgeordneter werden, die Schwelle ist also viel geringer als 70.000. Trotzdem haben Abgeordnete der Minderheiten dieselben Rechte und Pflichten.

Wie wird dies, zum Vergleich, in anderen Ländern gehandhabt?

In Kroatien zum Beispiel wird eine Vielzahl von Minderheiten von nur acht Abgeordneten vertreten. In manchen Ländern haben Minderheitenabgeordnete bloß Stimmrecht zu Belangen, die strikt die Minderheiten betreffen, und ansonsten nur beratende Funktion. Ich finde dies merkwürdig, denn die Minderheiten haben doch die gleichen sozialen und anderen Probleme. Da gefällt mir unser Gesetz besser.

Auf welcher Basis gilt man in Rumänien als Mitglied einer Minderheit? Der Hintergrund meiner Frage ist die merkwürdige Situation, die sich 2012 ergab, als die deutsche Schule den ersten Einschreibetermin laut behördlicher Bestimmungen für die eigene Minderheit reservierte  und Rumänen im Kampf um die begehrten Plätze ihre Herkunft verleugneten, ja sogar notariell beglaubigte „Beweise“ für ihre angebliche deutsche Abstammung vorlegten. Ich denke aber auch an die griechische Tanzgruppe in Sulina, die wir auf der Reise trafen – angeblich waren nur noch drei Mitglieder wirklich Griechen, die übrigen Ukrainer und Lipowaner. Ähnlich sieht es in den deutschen Schulen und Tanzgruppen der Deutschen aus. Oder ich denke an den Mann, den ich auf einer Feier der Bukowinadeutschen traf, der ganz stolz auf seine Abstammung von gleich vier Minderheiten war. Wie viel Sinn macht Minderheitenschutz noch vor diesem Hintergrund?

Ich glaube fest an Selbstbestimmung, was die Zugehörigkeit zu einer Minderheit betrifft. Eine Eigenerklärung ist ausreichend, der Staat verlangt keine Beweise. Warum Minderheiten schützen? Sie sind ein Stück lebende Geschichte, Teil des Kulturerbes dieses Landes – Dinge, die es wert sind, bewahrt zu werden! Denken wir aber auch an die persönliche Bereicherung, und da spreche ich aus eigenem Erleben. Ich bin in einer ungarischen Gemeinschaft aufgewachsen, wo man sehr wenig Rumänisch sprach. In der Schule hörte man kaum von anderen Minderheiten. Erst durch mein Studium in Temeswar und meinen Beruf habe ich meinen Horizont erweitert und kann nur betonen: Anderen Ethnien zu begegnen, hat meine Persönlichkeitsentwicklung enorm bereichert. Es ist interessant, die Unterschiede zum anderen zu sehen, und doch festzustellen, das ist ein Mensch genau wie du.

Wie wichtig das gegenseitige Kennen zur Beseitigung von Vorurteilen ist, wurde mir klar, als ich in einem ungarischen Dorf nahe Bistritz lebte. Im Sommer lud ich einmal ein befreundetes rumänisches Ehepaar ein, um Haus und Hof zu hüten, weil ich verreisen wollte. Das Paar freute sich über den Urlaub, hatte aber Bedenken wegen der bekannten Vorurteile. Nach vier Wochen dann der totale Wandel: „Die Nachbarn in Tonciu sind unglaublich nett!“ schwärmten sie mir vor. Und erkannten erstaunt: „Die Ungarn sind ja genau wie wir!“

Die Mentalität der Vorurteile ändert sich leider schwer. Wenn wir irgendwo Probleme haben, schieben wir die Schuld gerne auf den Unterschied zwischen den Ethnien. Wie in der Geschichte von dem Rumänen, der in einem ungarischen Laden kein Brot bekam, weil er nicht ungarisch sprach. Dabei kommt so etwas wirklich kaum vor. Sich untereinander besser kennenzulernen, trägt viel zur Toleranz bei. Junge Leute im Studentenalter, das erleben wir in unseren Projekten, sind noch offen und bereit, Vorurteile aufzugeben. Da kann man noch etwas ändern, später nicht mehr. Doch leider interessieren sich junge Leute kaum für die Aktivitäten der Minderheiten. Man muss einen Weg finden, wie man diesen Gegenstand für sie attraktiver macht.

Welches Potenzial haben die Minderheiten für unser Land insgesamt?

Ihr kulturelles Erbe ist so reich – und es ist ein Fehler, zu denken, dass Kultur kein Geld bringt. Vieles kann im Tourismus genutzt werden, man muss es vielleicht nur ein bisschen anpassen, freilich unter Bewahrung des Authentischen, Spezifischen. Ein Musterbeispiel sind für mich die Norweger: Wenn auf dem Gebiet der Samen (Anm.: indigenes Volk, auch Lappen genannt) eine Infrastruktur eingeführt werden soll, wird diese Minderheit dazu befragt und nichts geschieht ohne ihre Zustimmung. So müsste man das auch bei uns – zum Beispiel im Donaudelta – machen.

Angela Merkel kam zu dem Schluss, der „Multikulti“-Ansatz für Deutschland sei gescheitert. Ist eine multikulturelle Gesellschaft wirklich unmöglich?  Oder ist das in Rumänien anders?
Ich würde es nicht als unmöglich betrachten, aber es gibt auch hier Probleme. Meiner Meinung nach sollte nicht verboten sein, seine Hymne zu singen oder spezifische Dinge zu pflegen, obwohl es auch da Grenzen des Anstands gibt. Mich stört jedoch die Idee, mit der Kultivierung der eigenen Identität würde man sich von den anderen distanzieren. Man nimmt ihnen doch nichts weg! Wenn ich auf meine Rechte poche, möchte ich die Rechte anderer nicht beschneiden. Mich ärgert aber auch, wenn in manchen politischen Diskussionen über Integration gesprochen wird. Minderheiten müssen nicht integriert werden, sie sind seit jeher Teil der Gesellschaft dieses Landes.

Beim Stichwort Integration drängt sich die Frage nach der Roma-Minderheit auf. Wo sehen Sie hier Chancen, wo Probleme?

Wir versuchen immer wieder, nachhaltige Projekte mit der Roma-Minderheit durchzuführen, aber wegen chronischer Unterfinanzierung sind es wenige. Die meisten Roma-Projekte laufen in anderen Bereichen, Gesundheit oder Soziales. Kultur ist ein Stiefkind. Dabei ist auch ihre Kultur erhaltenswert. Ich war überrascht, wie schön ihre Gedichte klingen, obwohl ich gar nichts verstanden habe. Letztes Jahr hatten wir mit einer NGO zusammen ein Projekt, die verschiedenen Roma-Stämme zu identifizieren und eine Landkarte dazu zu erstellen. Leider wurde es nicht fortgesetzt.
Es gibt sehr viele Institutionen, die sich mit Roma befassen. Wir haben auch Verpflichtungen in Bezug auf die Charta der regionalen Sprachen und im juristischen System, Zivilrecht usw. Aber nicht einmal das Justizministerium verfügt über eine Datenbasis. Wir wissen viel zu wenig über die Roma. Wie können wir da Strategien machen? Das erscheint mir extrem befremdlich.

Wollen die Roma denn ihre Identität bewahren?

Ja, sehr. Wir hatten da ein Projekt mit jungen Uni-Absolventen über ihre Repräsentation in der Gesellschaft. Sie waren sehr offen in der Diskussion. Nur als das Wort „Toleranz“ fiel, verschlossen sich plötzlich ihre Mienen und sie stießen alles zurück was wir sagten. Es dauerte eine Weile für uns, zu begreifen, dass sie den Begriff ganz anders verstehen! Für sie ist Toleranz etwas Negatives, im Sinne von „nur toleriert, nicht akzeptiert“. Wir mussten ihnen den positiven Aspekt erst erklären. Nicht jeder hat es dann verstanden. An diese Art von Problem hatten wir überhaupt nicht gedacht!

Wie könnte man in der Öffentlichkeit das positive Potenzial der Minderheiten in Rumänien stärker betonen?

Die Donauraumstrategie bietet uns hierfür viele Chancen. Chancen, dass wir uns kennenlernen, verstehen lernen, auch über Landesgrenzen hinweg. Da kommt es nicht darauf an, welchen politischen Status eine Minderheit in einem Land hat, sondern auf die Menschen und ihr Kulturerbe.