Wie pro-europäisch sind wir noch?

Nach erster EU-Begeisterung äußern sich rumänische Bürger und Medien zunehmend kritisch

Eine Expertenrunde aus Politik, Wirtschaft und Sozialwesen diskutierte vor der Presse die zunehmende EU-Skepsis der Rumänen.
Foto: Nina May

Laut jüngsten Eurobarometer-Umfragen äußern sich Rumänen zunehmend skeptisch in Bezug auf die EU. Eine Reihe von Artikeln mit großer Medienwirkung propagierte diese Vorbehalte in letzter Zeit verstärkt, so Europaminister Leonard Orban in seiner Einleitung zur Podiumsdiskussion „Wie pro-europäisch sind die Rumänen noch“, die am 9. Mai im Gebäude der EU-Vertretung in Bukarest stattfand.

Auch in anderen Mitgliedsstaaten mache sich zunehmendes Nationalbewusstsein und Euroskepsis breit, so der Minister: Griechenland führte er als Beispiel an, sowie Frankreich mit seinen zahlreichen links- oder rechtsextremen Wählern, oder aber Österreich, wo bereits Stimmen fordern, die Grenzkontrollen wieder einzuführen. „Müssen wir uns ob dieser Entwicklung Sorgen machen?“ lautete seine Frage an die Runde, zu der hochkarätige Experten aus Politik, Wirtschaft und Sozialwissenschaften geladen waren.

Für Panik sei kein Grund, äußerte sich als Erstes Wirtschaftsexperte Daniel Dăianu, denn „einen vorgezeichneten Standardweg für Europa gibt es nicht. Was nicht funktioniert, muss eben angepasst werden – „ein ganz normaler Prozess!“ Verständlich, dass es dabei zu Unmut kommt, doch zeichnet die Eurobarometer-Umfrage seiner Meinung nach auch ein falsches Bild.

Man müsse sich in einer profunderen Analyse fragen, wo konkret die Defizite liegen. Er sieht sie im Mangel an Fairness und Vertrauen zwischen den Mitgliedsstaaten, was die Reformen am EU-Mechanismus derzeit erschwert. Besorgt zeigte er sich allerdings über den zunehmenden Nationalismus in Frankreich: „Vive la France - und wo bleibt Europa?“ Auch moniert der Experte das Fehlen eines Europabudgets und die Tatsache, dass alle Entscheidungen des Europaparlaments vorher auf nationaler Ebene fallen.

Auch Florin Pogonaru, Präsident der Vereinigung der Geschäftsleute in Rumänien, hält die  Interpretationen der Eurobarometer-Umfragen und das zwanghafte „Ranking“ nach dem Motto „Wer hat den ersten, wer den letzten Platz“ für zu oberflächlich. Steigende EU-Kritik, meint er, könne auch ein gutes Zeichen sein: Der Bürger befreit sich aus der Zeit des blinden Glaubens an dem „fremden Herrn, der kommt und uns rettet“. Die Rumänen seien reifer geworden. Außerdem seien sie nicht nur EU-skeptisch, sondern in erster Linie Rumänien-skeptisch. „In Ungarn“, bedient  er den Vergleich, „glauben viel weniger Bürger an die EU und an die eigene Regierung als bei uns.“ Außerdem käme hinzu, dass sich die für die Statistik befragten Rumänen im Inland und nicht im EU-Ausland befänden – also unter den eindeutigen Nutznießern der EU.

Ein offener Arbeitsmarkt und Investitionen aus dem Ausland seien positive Wachstumsfaktoren für die rumänische Wirtschaft. Wenn diese nicht funktionieren, hofft man auf EU-Gelder als einzige Rettung. „Dass deren Absorption nicht funktioniert, ist sicher einer der Gründe für den Frust“, meint der Experte.

Auch Universitätsprofessor Vasile Dâncu hält die EU-Skepsis für eine natürliche Entwicklung. „Anfangs dominierte die Einstellung zur EU als Weihnachtsmann: Was geben die uns? Doch sobald man sich an die Vorteile gewöhnt hatte, begann man, sich auf die Defekte zu konzentrieren.“ Er rät, die Lage unseres Landes einmal mit der Republik Moldau, der Ukraine oder Serbien zu vergleichen, wo Reformprozesse ohne EU-Mitgliedschaft ungleich schmerzhafter vor sich gingen.

Chefökonom der Rumänischen Nationalbank, Valentin Lazea, rät ebenfalls zur umfassenderen Betrachtung des Phänomens. „Das Eurobarometer schaut nur auf punktuelle Probleme“, kritisiert er. Die Presse attackiert er harsch, weil sie sich vorwiegend auf nicht abgerufene Gelder als auf Erfolge konzentriert.

Schon vor dem EU-Beitritt hat Rumänien enorm von EU-Geldern profitiert, erinnert der Experte. Bei seiner Analyse nennt er die Schlüsselworte Disziplin, Prestige und Finanzierung. „Über Disziplin berichtet die Presse ständig falsch“. Das Prestige Rumäniens für ausländische Investoren sei jedoch mit dem EU-Beitritt eindeutig gestiegen. Auch müsse man die Skeptiker unterscheiden, setzt er fort.

Ist es eine informationsbasierte oder nur gefühlte Skepsis? „25 Prozent der Umfrageteilnehmer bezeichnen sich selbst als uninformiert“, gibt er dann zu bedenken und fragt gleichzeitig, aus welchen Quellen sich der Rest informiert. „Berichtet das Fernsehen etwa über EU-Fortschritte? Die Öffentlichkeit muss profunder informiert werden – doch wie?“ Ein  kritischer Blick streift durch die Runde der Journalisten: „Wo die meisten Kameraleute schon wieder weg sind...“

Auch Soziologe Dumitru Sandu kritisiert den Aufbau einer Diagnose (EU-Skepsis) auf nur einem Indikator (Umfrage). Wie der Arzt müsse man sich auf der Basis aller vorhandenen Daten ein Bild machen, nicht auf der eines einzigen abnormalen Wertes. Im Frühling 2011, zitiert er die Eurobarometer-Daten, hätten 62 Prozent der befragten Rumänen noch Vertrauen in die EU gehabt, im Herbst sei dieses auf 50 Prozent abgesunken.

Doch im Vergleich zur Gesamtheit der Bürger aller Mitgliedstaaten, von denen nur 34 Prozent Vertrauen in die EU angaben, sei Rumänien regelrecht EU-optimistisch! Andere Statistiken zeigten: Die Mitglieder der meisten übrigen EU-Staaten sind besser informiert. Man müsse auch betrachten, wer in Rumänien sich beklagt – nämlich in erster Linie Bürger aus der gehobenen Schicht, Manager und Politiker, die wohl enttäuscht sind, weil sie dachten, die EU-Gelder kämen ohne Leistung rein. Die Vorteile der EU genießen nicht immer diejenigen mit Geld: 50.000 Studenten aus Rumänien fanden zum Beispiel Zugang zu Universitäten im EU-Ausland. Das sind die Nutznießer. Als allgemeine Frustfaktoren bestätigt auch Sandu die schlechte Absorption der EU-Fonds und die Probleme, mit denen sich Rumänen im Ausland konfrontiert sehen.

Dumitru Borţun, Professor an der Fakultät für Kommunikationswissenschaften der nationalen Schule für Politik und Verwaltung, hält den Zwang zur Modernisierung der Strukturen für den größten Vorteil durch die EU. Veraltete Mechanismen und die schlechte Effizienz Rumäniens bei der Integration sei seiner Meinung nach die Ursache für die Enttäuschung der von Sandu erwähnten Eliten.

Mit harschen Worten regt er an, doch einmal die Werteliste einer modernen Gesellschaft zu betrachten – Werte, an denen es in Rumänien mangeln würde: Er nennt bindende Normen oder Gemeinschaftsdenken anstelle von bäuerlichem Individualismus – also der hierzulande krankhaften Unfähigkeit, etwas gemeinsam zu machen, weil man dem anderen nicht über den Weg traut. Weiters mangele es an Vertragsmoral, Zukunftsorientierung, Standard und Professionalismus, Solidarität und strategischem Denken statt kurzlebigen Improvisationen, an Realismus statt des ewigen Moralisierens, an Aktivismus statt Faulheit, an Interesse am konstruktiven Dialog und an der Motivation der Arbeitnehmer zu Pünktlichkeit, Fleiß, Verantwortung und Effizienz.

Im allgemeinen kranke es an Interesse am gemeinsamen Guten, statt der zu beobachtenden animalischen Gier des Einzelnen, die sich vor allem in den Lokaladministrationen zeigt. Als Probleme auf dem Weg zur Reform führt er auch einen Fatalismus in der Beziehung zum Staat, Ethnozentrismus und fehlendes Bürgerverständnis an. „Wo bleibt die intelligente und patriotische Elite?“ fragt er provokant in die Runde. Dann bedient er ein Zitat von Piaget: Die Antwort käme nicht nach dem Stimulus, sondern schon vorher – und zwar deswegen, weil sie bereits in uns vorhanden ist. Der Stimulus ruft sie nur ab. „Die Frage ist nun“, und wieder schweift sein Blick wirkungsvoll durch die Reihen, „hat die rumänische Gesellschaft die richtige innere Einstellung?“

Eine Lanze für den rumänischen Bürger bricht hingegen der Wirtschafsanalyst Aurelian Docha. Die Leute seien kritischer, weil anspruchsvoller geworden. Die EU vergleicht er mit einem Haus: „Zuerst  träumst du in den schillerndsten Farben davon. Dann wohnst du drin und stellst fest: Das eine Fenster geht nicht auf und in der Ecke ist es feucht. Dann kommt die dritte Phase, die der Implementierung. Doch der rumänische Bürger fühlt sich ohne Einfluss“, kritisiert er und setzt fort, „darin muss man ihm recht geben!“ Er bestätigte die Einschätzung von D²ianu, es gäbe zu wenig EU-Denken, weil die national gewählten Führungspersönlichkeiten der EU stets unter dem Druck stünden, in nationalem Interesse zu handeln.

Hinzu kommt, so Docha, dass Wahlen auf nationalem Niveau die Power der EU extrem beeinflussen können. „Wer weiß denn, ob die starke Allianz zwischen Merkel und Sarkozy unter dem neuen französischen Präsidenten weiter funktioniert?“ gibt er zu bedenken.

Vor einer Überbewertung des Vertrauens der Bürger warnt hingegen ASE-Lektor Aura Sochol. „Das größte Vertrauen genießen in Umfragen stets Institutionen, die das tägliche Leben so wenig wie möglich beeinflussen: die Kirche oder die Armee.“ Vertrauen in die EU müsse man auch so hinterfragen: Mangelt es am Vertrauen in den „Vater EU“ oder in den „Partner EU“?
Zuletzt sieht Andrei Moceanov, Direktor in der Abgeordnetenkammer, den früheren Euroenthusiasmus des rumänischen Bürgers als Reflexreaktion auf die eigene Rumänienskepsis. Nun ändert sich das Gleichgewicht, meint er, weil der Rumäne keine Übung in der Technik des Aufwiegens von Vor- und Nachteilen habe. „Sonst würde er erkennen, dass die Nachteile weitgehend von den Vorteilen kompensiert werden.“

Europaminister Orban gab zum Schluss, trotz seiner zum Ausdruck gebrachten Zufriedenheit mit der Diskussion, eine eher düstere Einschätzung ab. „Populistische Bewegungen könnten sich in Zukunft in einem Maß verstärken, sodass sie direkte Auswirkungen auf die Politik haben“, befürchtet der Politiker.