„Wir leben ja nie in einer nur fremdbestimmten Welt…“

Gerhard Möckel und die Gründung der Evangelischen Akademie Siebenbürgen

„So dauerte es bis Mitte April, bis wir endlich mit den kirchlichen Gremien so weit waren, dass wir einen Trägerverein gründen konnten. Die Kirche ist einerseits total ausgelastet mit dem Sichern dessen, was durch die Auswanderung der Gemeindemitglieder verloren zu gehen droht, andererseits sind ihre führenden Leute allem Neuen gegenüber unsicher und ängstlich (…) und durch die Gremien muss halt alles und jedes, 850 Jahre Tradition sind nicht einfach zu überspringen, da hilft alles nichts.“ schrieb Gerhard Möckel über die Gründung der Evangelischen Akademie Siebenbürgen in Hermannstadt/Sibiu, in einem Rundbrief vom 9. Mai 1991. 

Der lange Weg zurück in die Heimat

Der in Hermannstadt am 28. November 1924 als zweiter Sohn des damaligen Pfarrers in Großpold/Apoldu de Sus und späteren Kronstädter Stadtpfarrers Dr. Konrad Möckel geborene Gerhard trat zusammen mit seiner Gattin Dorothea Koch-Möckel 1990, gegen den Strom der Auswanderung, seinen Weg zurück nach Rumänien an. 

Da Gerhard Möckel erst am 19. Juli 1944 in Cottbus Soldat geworden war, erlebte er das Kriegsende, durch einen Armschuss verwundet, in einem Lazarett in Bergendorf, eigentlich in Kriegsgefangenschaft. An eine Rückkehr in das heimatliche Siebenbürgen war in dem betreffenden politischen Kontext nicht zu denken. An die Zeit nach dem Krieg erinnerte sich sein jüngerer Bruder, Dr. Andreas Möckel, in einer Danksagung nach dem Tod Gerhards: „(…) und wenige Tage später kam er in einem alten Militärmantel über die grüne Grenze aus der britischen in die sowjetische Besatzungszone und besuchte mich. Er brachte mir einen Rasierapparat mit – der erste in meinem Leben. Es war ein Wiedersehen mit Zuhause sehr weit entfernt von Zuhause. (…) Ich erinnere, dass ich ihn auf der Krankenhaustreppe traf, dass wir stutzten und uns erkannten (das Treffen fand 1947 statt, Anm. d. A.) und dass ich ihm schon nach ein paar Minuten sagte: „Ta rietst esi rechsdetsch“ („Du hast eine reichsdeutsche Aussprache“), was ihn überraschte und belustigte.“   

Mit dem Anfang des Theologiestudiums in Bethel am 1. November 1945 begann Gerhard Möckels Laufbahn in Deutschland. Zwischen 1953 und 1962 war er Pfarrer der Evangelischen Gemeinde deutscher Sprache in Griechenland. 1962 wurde Gerhard Möckel Studienleiter an der Evangelischen Akademie Berlin (West). Zwischen 1967 und 1979 dann Pfarrer der Evangelischen Gemeinde Berlin-Dahlem. Im Jahre 1979 ernannte der Badische Oberkirchenrat Möckel zum Studentenpfarrer an der Universität Heidelberg. In Heidelberg blieb er dann bis zu seiner Pensionierung 1989. Zwischen-durch war er aktives Mitglied bei Aktion Sühnezeichen Friedensdienste, dessen Vorsitzender er zwischen 1972 und 1976 war, wirkte im Hilfskomitee der Siebenbürger Sachsen mit und war Gründungsmitglied des Evangelischen Freun-deskreises Siebenbürgen.  

Ab 1990 fährt das Ehepaar Möckel etliche Male zwischen Deutschland und Rumänien hin und her, um dann 1991 nach Hermannstadt zu übersiedeln. „So kamen wir also munter am Sonntagabend, also genau vor einer Woche, hier an. Das Häuschen war warm und gut eingerichtet (unsere Klobürste z.B. hätten wir gut in Heidelberg lassen können), und Blümchen und Willkommenskarten standen sehr freundlich bereit“ berichten die beiden in einem Brief vom 3. Februar 1991. 

Herausforderungen der Gründerjahre

Neben Einsätzen als Aushilfspfarrer in verschiedenen Gemeinden, der Mitbetreuung von Hilfstransporten und so manch anderer Zeit beanspruchenden Tätigkeit arbeiten Gerhard und Dorothea immer intensiver an dem eigentlichen Vorhaben, der zum Beweggrund ihrer Umsiedlung geworden war: die Gründung der Evangelischen Akademie Siebenbürgen. In einem von Umbruch bestimmten Umfeld, der damit verbundenen Ungewissheit und unklarem gesetzlichen und institutionellen Rahmen, sowohl auf kirchlicher wie auf gesellschaftlich-politischer Ebene, erinnerte ihr Alltag öfters an Don Quijotes Kampf mit den Windmühlen. In dem eingangs zitierten Rundschreiben vom 9. Mai 1991 berichtet Gerhard Möckel: „Wir sind eben für viele hier etwas total Besonderes, um nicht zu sagen, Verrücktes. Da soll nun beim Gericht ein Verein eintragen werden, was hier inzwischen norma-lerweise keine große Sache mehr ist, aber da steht nun im Namen das Wort ‚Evangelisch‘, und da vermutet man eben doch die Kirche oder gar eine dieser stark bemißtrauten Sekten wie die Evangeliumschristen oder ähnliche, und schon ist das eben eine Sache für das Kulte- (=Religions)Mi-nisterium. Also saust man nach Bukarest (4 bis 5 Stunden durch die Karpathen), erreicht gar nichts, weil ein Verein – na logisch! – eben beim örtlichen Gericht einzutragen ist, kriegt diese Auskunft natürlich nur mündlich und da eine schriftliche Behörden-Nachricht von Bukarest nach Hermannstadt eine Woche dauert, weil weder Telex noch Fax dort existieren, platzt auch unser vorsorglich beantragter nächster Termin beim Gericht und so weiter..! (…) Man rät uns zwar, die Leute (sogar die auf dem Kulte-Ministerium!) mit D-Mark und Kaffee zu schmieren, aber das können und wollen wir nicht.“ 

Am 29. Mai 1991 ist es aber soweit und die Evangelische Akademie Siebenbürgen wird im rumänischen Vereinsregister eingetragen. Diese soll laut der Satzung: „(…) ökumenisch, interethnisch und interdisziplinär arbeiten. Damit will sie die Entwicklung von demokratischen Strukturen in diesem Land fördern, eine Gesprächskultur aufbauen und helfen, Lernprozesse in Gang zu bringen“. Dass die Akademie sich keine einfachen Themen zu eigen machen sollte, merkte man schon durch die erste organisierte Tagung, die sich mit der Umweltkatastrophe in Kleinkopisch/Cop{a Mic˛ auseinandersetzte.

Die Akademie, „das Kind“ der Möckels, wuchs schnell, wie es in den rumänischen Märchen heißt, „in einem Jahr wie andere in sieben“, und so stand man bald vor einer neuen Herausforderung: die Akademie brauchte einen eigenen Sitz. Nach misslungenen Versuchen, diese in dem damals leerstehenden Pfarrhaus in Schellenberg/[elimb˛r oder in der Kirchenburg in Großau/Cristian anzusiedeln, entschließt man sich 1996 in Neppendorf/Turni{or, auf einem von der Ortsgemeinde zur Verfügung gestellten Kirchengrundstück, einen neuen Sitz zu bauen. Am 20. November 1997 berichtet Gerhard Möckel in einem weiteren Rundbrief: „Im Juni legten wir in Neppendorf (…) den Grundstein zu dem „Hans Bernd von Haeften-Haus“. Der deutsche Diplomat Hans Bernd von Haeften (siehe Kasten) war während seiner Bukarester Dienstjahre (1938-1940) Verbindungsmann für die deutsche Minderheit und wurde auf diesem Wege zu einem ebenso treuen und kritischen Freund der Evangelischen Kirche A.B. in Rumänien. Er schloss sich dem „Kreisauer Kreis“ des Widerstands gegen Hitler an und wurde nach dem 20. Juli 1944 ermordet. Wir halten diesen Namen für unser Haus und der Zielsetzung unserer Arbeit beson-ders angemessen.“ Es muss erwähnt werden, dass bei der Grundsteinlegung des Tagungszentrums die Gattin Hans Bernd von Haeftens, Barbara, anwesend war. Der Sohn, Dirk von Haeften, unterstützte durch seine diplomatischen Verbindungen entscheidend die Durchführung des Neubaus. 

Der Bau und die einhergehenden finanziellen Schwierigkeiten bestimmen Gerhard und Dorotheas Alltag. Darüber schreibt Dorothea Koch-Möckel in dem jährlichen Rundbrief Ende 1997: „(…) es vollzieht sich in den Gesprächen zugleich ein von uns im Grunde schon lange erwünschter Prozess, nämlich der Übergang der materiellen und finanziellen Verantwortung, die bisher fast ausschließlich von uns beiden getragen werden musste, auf die Mitglieder des Vorstandes. Selbstverständlich wollen auch wir mitverantwortlich dafür bleiben, dass das schöne Werk, das wir so weit gebracht haben, auch im neuen Stadium Bestand hat. (Manchmal träumen wir von einer freundlichen „Erb-Tante“, die unsere Retterin sein könnte, wenn die öffentlichen Institutionen sich versagen müssen).“

In der Gegenwart verankert, für die Zukunft aktiv 

Ab 1999 muss sich Gerhard Möckel gesundheitsbedingt immer mehr aus der Tätigkeit der Evangelischen Akademie Siebenbürgen zurückziehen. Leider sollte es ihm dann 2001, am 30. September, nicht möglich sein, bei der Einweihung des Tagungshauses dabei zu sein. Seine Krankheit wird ihm bis zu seinem Ableben am 13. August 2004 immer weniger die Chance bieten, sich für „seine Akademie“ einzusetzen, obwohl er dafür, auch in den von Krankheit geprägten Jahren, jede zur Verfügung stehende Minute aufwenden sollte. 
In ihrem Rundbrief  Ende 2004 berichtete Dorothea Koch-Möckel über die letzten Stunden im Leben von Gerhard Möckel: „Ich habe in jener Nacht besonders lange bei ihm gesessen, habe ihm unsere Lieblingslieder gesungen, Brahms´ Requiem vorgespielt, gebetet und „mit“ ihm gesprochen. Was er davon noch mitbekommen hat, weiß ich nicht. Als ich dann – nach kurzem Schlaf – um 6 Uhr wieder nach ihm sah, lag er noch genauso da, atmete jedoch nicht mehr. Ich denke, dass er friedlich eingeschlafen ist. „Vater, in deine Hände befehle ich meinen Geist“ (Luk. 23,46) – ich hoffe, dass Gerhard dies noch zuletzt hat beten können.“

Wie rege die Zeit, in der Gerhard Möckel in Siebenbürgen für die Evangelische Akademie Siebenbürgen wirkte, war, kann man der Tatsache entnehmen, dass zwischen der Gründung des Vereins und der Eröffnung des Tagungshauses (also während der ersten zehn Tätigkeitsjahre) insgesamt 95 Veranstaltungen durchgeführt wurden. Gerhard Möckel war ein Mensch, der tief in seiner Zeit verankert war, der aber zugleich derselben visionär voraus eilte. Sein langjähriger Freund, Dr. Paul Philippi, formulierte es trefflich in seiner bei der Bestattung von Gerhard Möckel gehaltenen Predigt: „Dass er damals gegen allen Anschein weiter geblickt, Zukunftsaussichten richtiger eingeschätzt hatte als seine Gegner, war für ihn 1989 kein Anlass, darauf hinzuweisen, dass die Gegner Unrecht behalten hatten, sondern war der Grund für seine wie selbstverständliche Übersiedlung nach Rumänien, wo er zusammen mit seiner zweiten Frau, Dorothea Koch, sein letztes Lebenswerk aufbaute – die Evangelische Akademie Siebenbürgen, in der ansatzweise das Gestalt gewann, was er zwischen Schuld und Sühne angezeigt sah, zwischen der resignierten Kapitulation vor dem scheinbar unausweichlichem Fatum des Untergangs der Siebenbürger Sachsen und ihrer Kirche – und dem Datum einer ihnen von Gott auferlegten Zukunft, die es anzunehmen galt als einen Weg, als Wahrheit und als Leben – im Zeichen dessen, der Weg, Wahrheit und Leben ist.“2024 werden 100 Jahre seit der Geburt Gerhard Möckels vergangen sein. Unabhängig davon, wo ihn sein Leben geografisch hin verschlug, war er ständig mit Siebenbürgen verbunden und für seine Heimat im Einsatz. In einem Vortrag auf dem Siebenbürgisch-sächsischen Landtag in Nürnberg-Langwasser am 4. Juli 1971 sagte Gerhard Möckel: „Wir leben ja nie in einer  nur fremdbestimmten Welt, sondern immer auch in der Welt, die durch uns selbst bestimmt ist. Wenn die Situation selbstkritisch gesehen wird, so werden sich Begriffe finden lassen, die die Gesetzmäßigkeiten in der neuen, politischen, gesellschaftlichen und kulturellen Welt neu formulieren. Nur so kann man der Hoffnungslosigkeit, der Resignation, dem „Es-ist-alles-aus“ fruchtbar entgehen, nur so vermeidet man die entgegengesetzte, bloße unfruchtbare Haltung, das blind-wütige Mit-dem-Kopf-durch-die-Wand-gehen.“ Ein Gedanke der 20 Jahre später durch die Gründung der Evangelischen Akademie Siebenbürgen Wirklichkeit werden sollte - und auch weiterhin bestehen wird. 


Hans Bernd von Haeften wurde am 18. Dezember 1905 in Berlin geboren. 1933 trat er in den Dienst des Auswärtigen Amtes ein. Von Haeften erkannte schon früh die Amoralität Hitlers und die Gefahren des Nationalsozialismus. Er und seine Frau Barbara waren seit 1934 Mitglieder der Bekennenden Kirche. In der Deutschen Gesandtschaft in Bukarest leitete er als Legationsrat (1937-1940) die kulturpolitische Abteilung. Nach seiner Rückkehr nach Berlin trat er in enge Verbindung zu der Oppositionsgruppe um Helmuth James von Moltke, die später unter dem Namen „Kreisauer Kreis“ bekannt wurde. Nach dem missglückten Attentat auf Hitler am 20. Juli 1944 verurteilte ihn der Volksgerichtshof am 15. August 1944 zum Tode. Das Urteil wurde noch am selben Tage vollstreckt.