„Wir werden eine Nummer“ (III)

Rekonstruktion des Deportationsgeschehens im Spiegel von Erinnerungen

Eine weitere Station auf dem Weg zur Übernahme der Interniertenrolle war das Eintauschen des Namens gegen eine Nummer, die die Internierten kurz nach der Ankunft bekamen und bis zu ihrer Entlassung behielten: „Also jetzt wussten wir, dass wir von selbstständigen Menschen zu einer Arbeitsnummer geworden sind.“

Diese Tatsache wurde sehr different erlebt, fand je nach zeitlichem Abstand zum Geschehen aber auch eine unterschiedliche Bewertung. Bei der Durchsicht der Tagebücher fällt auf: Die Nummer wird nur ein einziges Mal und da auch nur sehr lapidar erwähnt. Unter dem 6.2.1945 heißt es bei Inge von Hannenheim: „Wir bekommen die Fabriksnummer.“ Auch in einigen unmittelbar nach der Rückkehr (1947 bzw. 1949) geschriebenen Berichten wird ohne Emotionen, lediglich registrierend von der Zuteilung der Nummer erzählt:

„1005 war meine Arbeitsnummer, meine Erkennungsmarke. Eine runde Blechnummer trugen wir am Hals. Morgens bei Arbeitsanfang wurde die Nummer abgegeben, abends bekamen wir sie zurück.“
Die Nummer diente der Kontrolle; mehr wird hier nicht ausgedrückt. Sie kann sogar unter einem positiven Aspekt erinnert werden. Richard Gündisch verbindet mit ihr ein gutes Erlebnis. Er war Grubenarbeiter und musste sich vor Betreten des Schachts bei der Lampenausgabe melden:
„Dort löse ich sofort die Lampe, nachdem ich meine Nummer angegeben habe. Nie werde ich diese Nummer vergessen: 1107 (odin, odin, nul, sjem), nur russisch ist sie mir geläufig. Das freundliche russische Mädchen bei der Lampenausgabe kennt meine Nummer. Wenn ich die Lampe eingebe, lächelt es und sagt sofort meine Nummer. Wir beide sind gut Freund, obwohl wir nur drei Wörter mitei-nander sprechen, die Nummer, danke, bitte.“

In dem folgenden Zitat aus dem Jahr 1956 hingegen kommt die negative Bewertung des Namentausches zum Ausdruck:

„Wir (...) gaben unsere wichtigsten Personaldaten ab, und als Gegenleistung erhielten wir eine Nummer. Man machte uns aufmerksam, dass wir uns diese Nummer unbedingt merken müssten, da dies nun-mehr unsere sogenannte Arbeitsnummer sei, die in Zukunft unseren bürgerlichen Namen ersetzen wird. So hieß ich z. B. in Zukunft nach meiner Arbeitsnummer einfach: 469.“

Eine andere Internierte hat das Ablegen des Namens als einen tiefen Eingriff in ihre Persönlichkeit empfunden, sie fühlte ihr Menschsein in Frage gestellt, sie hatte nicht eine Nummer, sie war eine Nummer. Deshalb wirkte die Wiedererlangung des Namens kurz vor der Heimfahrt auf sie befreiend und ermutigend:

„Wir brauchen nicht mehr zu arbeiten. Wir werden bei Namen aufgerufen – bei Namen, nicht mehr mit unseren Nummern. Das muss wirklich etwas bedeuten. 848 und 623 – diese beiden Nummern sind die ganzen zwei Jahre mit meiner Person unlöslich verbunden gewesen. Der Außendienst mit der Arbeit auf dem Bau und der Innendienst mit Revier und Hausarbeit werden durch diese Nummern allein gekennzeichnet. Jetzt empfange ich meinen Namen zurück wie ein geraubtes und lange vorenthaltenes Gut.“

Auch von weiteren Demütigungen wie Bestrafungen, z. B. Brotentzug, Zusatzarbeit, Kofferkontrollen und Leibesvisitationen wird berichtet.

Doch ich komme nun zum zweiten Teil meiner Ausführungen:

Das Essen und der Hunger

Die Mahlzeiten wurden in der Regel in einem zum Lager gehörenden Essraum (russ. stolovaja) verabreicht. Daneben befand sich die Küche.

Während der Arbeitszeit gingen die Internierten in eine Werkskantine zum Essen. Die Einrichtung des Essraums in einem Lager in Krivoj Rog z. B. bestand aus rohen Brettern, über Pflöcke gelegt, die in den gestampften Lehmboden gerammt waren, 50 cm breit die Tische, 20 cm breit die Bänke. Ähnliches wird aus Enakievo berichtet:

Im „Speisesaal (...) wurden ungehobelte Tische und Bänke aufgestellt, roh zusammengezimmert. Die russischen Offiziere sind stolz, dass sie sie uns verschaffen konnten, denn in diesem vom Krieg geplünderten Land gehören auch die einfachsten Einrichtungsgegenstände zu den Seltenheiten.“
Oft waren die Räume für die Belegschaft zu klein, deshalb musste in Schichten gegessen werden. Als Essgeschirr dienten eigene Schüsseln oder alte Konservendosen, als Besteck ein mitgebrachter oder im Lager selbst hergestellter Löffel.

Aus dem folgenden Zitat wird erkennbar, was die Deportierten zu essen bekamen:

„Viertel sieben wurde das Brot gefasst, die ganze Tagesration (...). Dazu holte man sich am Küchenschalter mit einem Töpfchen oder Schüsselchen die Krautsuppe (...). Von 8-16 Uhr wurde gearbeitet. Zu Hause angelangt, holte man sich das Mittagessen: Krautsuppe und als zweiten Gang 2 Löffel Kascha (gekochte Gerste) od. gedünstetes Sauerkraut und manchmal kleine Fischchen (Komsá = Sardellen). Am Abend gab es wieder Krautsuppe oder Sauerkraut. Und das jeden Tag, Woche für Woche, Monat für Monat.“

So oder ähnlich spielte es sich in allen Lagern ab. Die Essenszeiten variierten je nachdem, in welchen Schich-ten gearbeitet wurde. Morgens gab es manchmal eine Schale Tee mit etwas Zucker statt der Suppe. In der Regel wurde vor und nach der Arbeit gegessen, dies gilt vor allem für die Schichtarbeiter. Die nur tagsüber Arbeitenden hatten eine Stunde Mittagspause.

Das Essen hatte für die Deportierten eine große, wenn nicht die größte Bedeutung.

Für den Empfang der Mahlzeiten wurden am Monatsbeginn von 1 bis 31 nummerierte Brot- und Essensmarken ausgegeben, die gleichzeitig als Kalender fungierten. Der Küchendienst – deportierte Frauen – sammelte die Marken ein und stellte den Suppentopf auf den Tisch, in einem anderen Lager holte man sich die Suppe „am Küchenschalter“. Detailliert schildert Edith Paly die Essensausgabe in einem Lager in Enakievo:

„Erstmal kam man auch hier schön der Reihe nach zum Schalter eins, da bekam man mit Brotkarte seine tägliche Brotration. (...) Da wurde nun jeden Tag der fällige Bon morgens eingeschnitten u. abends ganz abgeschnitten. Die Karte war für ein Monat gültig. (...) Am zweiten Schalter gab’s die Suppe, etwa ein halbes bis drei Viertel Liter pro Kopf. (...) Schalter drei war für den zweiten Gang.“

Als ‘zweiten Gang’ erhielten die Internierten, wie schon kurz erwähnt, einmal täglich einen oder zwei Löffel Kascha, einen dicken Brei aus Gerste, Hirse oder geschrotetem Korn. Gut war das Essen, wenn die kaša mit einem „Fingerhut“ voll Öl begossen war. Manch-mal wurde der Brei durch einen Eierkuchen, Kartoffelpüree oder Ähnliches ersetzt. Das folgende Zitat ist dem Bericht einer ehemaligen Deportierten entnommen, die in den ersten Wochen nach der Ankunft im Lager Parkomuna als Köchin gearbeitet hat. Sie beschreibt zunächst, wie sie die Nacht hindurch das angelieferte „Fleisch“ – „Füße u. (...) Eingeweide“ – geputzt haben. Dann fährt sie fort:

„In der Früh war nun unsere Suppe fertig. Hinein kamen ein paar saure Krautblätter, grüne Tomaten und Gurken, auch ein paar Hirsekörner. Sonst war sie ganz durchsichtig, so ein trübes Wasser – versalzen. Um 6 in der Früh ging’s los mit dem Servieren. Ein jeder kam mit irgendeinem Essgeschirr, was er von Zuhause hatte, an den Schalter. Kann mich noch so gut erinnern: Zu mir an den Schalter kam ein Mann von meinem Dorf, es war auch ein sehr reicher Bauer. Er sagte: ‘Habt ihr gut gekocht, ihr Köchinnen?’ Ich sah ihn sehr traurig an, gab ihm so einen Schöpflöffel von der Suppe in sein Geschirr, er hatte dabei auch schon seinen Löffel, er stürzte sich gleich darauf u. spuckte es auch gleich aus, denn es war ja ungenießbar. (... Er) ging auch gleich hinter die Baracke und warf den Inhalt weg. Aber er sollte sich sehr getäuscht haben. Es gab lange keine andere Suppe. Ich denke, am fünften Tag brach auch sein Stolz, der Hunger war schon so groß.“