„Wir werden eine Nummer“ (V)

Rekonstruktion des Deportationsgeschehens im Spiegel von Erinnerungen

Die Talons, die übrigens nicht nur an die Deportierten, sondern ebenso an sowjetische Arbeiter unter den genannten Bedingungen ausgegeben wurden, lassen sich als eine Art innerbetriebliche Währung bezeichnen. Sie waren nicht auf einen Namen oder eine Nummer ausgestellt, so konnte man sie verkaufen, verschenken oder auch stehlen; letzteres war besonders schmerzlich. Inge von Hannenheim vermerkt im Tagebuch einige Male, sie habe einen Talon geschenkt bekommen, z. B. „vom alten Mula“, einem Aufseher, der sie damit trösten wollte (11.7.1945), oder „vom Bürofräulein“, die ihr auf diese Weise den Einkauf für ein Geburtstagsessen ermöglichte.

In den beiden letzten Jahren 1948 und 1949 verbesserte sich die Verpflegung bedeutend, auch das Angebot auf dem Basar stieg, und die Internierten erhielten genügend Lohn, um dieses Angebot wahrzunehmen. Plötzlich stand Brot „in Hülle und Fülle“ zur Verfügung. In der Erinnerung hat diese Zeit „einen Schleier über die vergangenen schlechten Zeiten gezogen, was Hunger betrifft“, heißt es in einem Interview. Was hier der Begriff Hunger meint, ist nicht das Gefühl, das man empfindet, wenn eine Mahlzeit ausfällt. Gemeint ist der Hunger, der eintritt, „wenn der Körper keine Reserven mehr hat, (..., der) Hunger, der am stärksten ist, wenn man eben gegessen hat, der einen in der Nacht nicht schlafen lässt.“ Dieser „Hunger ist wirklich etwas Großes“. Entsprechende Bedeutung hatte das Essen:

„Die Gedanken kreisen immer um etwas Essbares. Das bohrende Hungergefühl verlässt uns nie.“ Während die meisten Menschen heute essen, um zu genießen, aßen die Deportierten, um satt zu werden; doch auch dafür reichte es nicht. „Von satt keine Rede, doch nicht mehr so hungrig“, heißt es im Tagebuch von Gerda Schuster am 11.4.1945, nachdem sie gegessen hatte. Mit dem Hunger begann ein Teufelskreis:

„Hunger wiederum schwächte, und die Schwächung führte dazu, dass wir die Norm nicht erfüllen konnten, und weil wir die Norm nicht erfüllten, kriegten wir wenig Zusätzliches.“

Hunger hat die Kraft, den Menschen zu verändern, ganz allmählich. Er macht das Skelett des Menschen sichtbar, das körperliche und das seelische. Und wenn Jahrzehnte später abgewogen wurde, was in der Zeit der Deportation am schwersten zu ertragen war, dann heißt es unmissverständlich: „(...) nicht Sklavenarbeit, nicht Kälte, nicht Stacheldraht waren für uns die beherrschende Qual, sondern der Hunger.“ Hungernde fühlen, denken und handeln anders als Satte, und Satte haben kein Recht, über das Handeln von Hungernden zu urteilen.

Ein Aspekt des Hungers ist das Fantasieessen. Konnte man sich in der Realität nicht satt essen, so stand dem in der Fantasie kein Hindernis im Wege. Nachts träumte man vom Essen; tagsüber setzten sich diese Träume in Gesprächen fort. Auf der Fahrt in die Sowjetunion und auch in der ersten Zeit im Lager war die Palette der Gesprächsthemen noch breit. Je mehr der Hunger Einzug hielt, desto stärker trat das Essen ins Zentrum der Gespräche, bis es ausschließlich darum ging. Das Essen war Gesprächsthema Nr. 1: bei der Arbeit, in der freien Zeit. Das gilt für Frauen und Männer gleichermaßen. Dabei spielte das Heimweh eine große Rolle, das besonders an hohen Festtagen an Stärke zunahm, wie das folgende Zitat von 1949 verdeutlicht:

„Palmsonntag in Russland. (...) 11 Uhr saßen wir beim Essen und gedachten der Lieben daheim, die zur Zeit in der Kirche sitzen und wahrscheinlich für uns beten. Auch erzählten wir uns, was wir am Palmsonntag im vorigen Jahr gegessen haben. Lammfleisch, Leberfüllung im Netz, mit Kartoffelsalat und Zichorie, irgendwie Kompott, ja, vorher noch eine Reissuppe mit gequirltem Ei. Das Wasser läuft uns im Mund zusammen, wenn wir dran denken, und stattdessen begierig unsere Bohnensuppe mit Kartoffeln und Kraut löffeln.“

Die Internierten lernten den Hunger als eine Grenzsituation zu begreifen. Er setzt traditionelle Normen und bürgerlich-repressive Verhaltensschemata außer Kraft. Sie geben diesem Phänomen auf unterschiedliche Weise Ausdruck: „Unsere Sprache passte sich mehr und mehr den äußeren Umständen an.“ Man „denkt in Zeiteinheiten wie von einem Essen zum nächsten“. Vor allem aber wurde es mit der Zunahme von Hunger und Not immer schwerer, „sich menschlich-moralisch zu behaupten (...); wenn der Druck nur groß genug ist, gerät jeder an die Grenze.“ Oder: „Der Mensch wird zum Tier, wenn er längere Zeit zu wenig Nahrung zu sich nimmt.“ Oder: „Die Maske ist abgefallen, und das Tier ‘Mensch’ grinst unverhüllt aus den entblößten Zügen.“ Und schließlich: „Am meisten Angst habe ich vor den Menschen, die ich so nackt und maskenfrei im Lager erlebe, dass mir ein Zusammenleben manchmal unmöglich erscheint.“

Der Hunger entsolidarisierte, entlarvte brutal bis dahin nicht geglaubte Möglichkeiten menschlichen Verhaltens. Durch die erschreckende Erfahrung wurden Gemeinschaften auseinanderdividiert: „Neid und Missgunst scheinen manchmal unsere kleine Gemeinschaft böse zu bedrängen“. Eifersüchteleien kamen auf, wenn einer „mal etwas mehr Brot oder eine Grütze mehr“ hatte. Das klingt noch recht harmlos; anderen Äußerungen zufolge trafen Ungeduld und Neid sehr viel tiefer. Man wurde „bitter“ – eine „Krankheit, die uns alle befallen hat“. Es herrschte „furchtbares Misstrauen und Schlechtdenken unter den Leuten“ (19.6.46). Und zu handfestem Streit konnte es beim Kochen im Lagerhof kommen; jeder versuchte, sein Töpfchen zuerst auf das Feuer zu bringen. Dabei kam sogar das halbfertige Essen abhanden: „Nach einer Weile will ich nach dem Feuer und der (aufgestellten Zucker-) Rübe schaun, sie ist nicht mehr da.“

Einem Mitgefangenen etwas von seinem Essen wegzunehmen, gehörte zu den schlimmsten Vergehen im Lager. Es ist ein Unterschied, ob einem etwas gestohlen wird, was man irgendwann sich wieder beschaffen kann, oder ob – wie hier – die nackte Existenz auf dem Spiel steht, und zwar für den Dieb und den Bestohlenen. Wem z. B. die Brotkarte gestohlen wurde, oder wer sie verlor, der „war verloren, das war der sichere Hungertod“. Von daher kann man die Freude ermessen, als sich die gestohlene „Brotmarke findet (...), die Räuberei aus unserer Gruppe (...) aufgedeckt (wird)“ (5.9.45). Es wird von einem Vater berichtet, der seiner Tochter das Brot wegaß, und von einem anderen Deportierten, „zu Hause Bankdirektor“, der seinem Kameraden Brot wegnahm. Zur Rede gestellt, warum er dies getan habe, soll letzterer geantwortet haben: „weil ich hungrig war“. Dass der andere ebenso hungrig sein könnte wie er selbst, lag bereits außerhalb seines moralischen Horizonts.

Diese Episode veranschaulicht die Beobachtung: Der Hunger setzte bisher gültige Normen und Werte außer Kraft. Das dürfte auch für einen Mann gelten, der „mit einem Messer drohend in die Küche „kam) u. (Brot) forderte“, was Inge von Hannenheim im November 1946 festhielt. Manchmal schritt die Gruppe, in der ein Kameradendiebstahl aufgedeckt worden war, zur Selbstjustiz; es wurde ein „Lagergericht“ gebildet, das den Dieb zu „25 Stockstreichen“ verurteilte, die sofort vollstreckt wurden. In diesem Zusammenhang sei an die kurze Erzählung „Das Brot“ von Wolfgang Borchert erinnert, die der zersetzenden Kraft des Hungers unter Eheleuten prägnanten literarischen Ausdruck verleiht.

Anders versuchte Johann Hamrich mit dem Hunger fertig zu werden: Er habe sich vorzustellen versucht, schreibt er in seinen Lebenserinnerungen 1986, was ihm zu Hause weniger oder gar nicht geschmeckt hätte, und dabei habe für ihn das Gleichnis vom verlorenen Sohn eine besondere Bedeutung erlangt:
„‘Und er begehrte seinen Bauch zu füllen mit Trebern, die die Säue aßen, und niemand gab sie ihm.’ Bei meinen Eltern bekamen die Säue (...) nicht Treber, sondern gekochte Kartoffeln mit Mehl und Kleie. Jeder von uns wäre glücklich gewesen, hätte er das Schweinefutter eines siebenbürgisch-sächsischen Bauern bekommen.“

Hunger und Verzweiflung waren für einige wenige so unerträglich, dass sie ihrem Leben selbst ein Ende setzten. Von einem solchen berichtet Hermann Rehner 1993:

„(...) ein wilder Aufschrei aus dem Treppenhaus. Mitten unter die, die da standen, war ein Mensch von oben, vom Dachbodengeländer, herabgestürzt. (...) ein junger Mann von kaum 20 Jahren. (...) Er lebte noch und wurde ins Krankenhaus geschafft. In seiner Tasche fand man einen Fetzen Papier. Darauf stand: ‘Hunger und Heimweh! Wer kann so leben?’ Er hätte einen Menschen gebraucht, der ihm Halt gibt.“

Ich komme zum Schluss:
Die Auswirkungen der Hungererfahrungen Ende 1946/47 waren sehr viel dramatischer als die des Schocks in den Wochen nach der Ankunft im Lager. Deshalb möchte ich Ihnen zum Schluss ein Faksimile aus dem Tagebuch Inge von Hannenheims vom Juni 1945 zeigen. Sie war mit ihrer Schwester Trudi und der Freundin Anneliese Barthmes in Enakiewo, wo sie 1947 starb. Ihre Schwester konnte das Tagebuch herausschmuggeln. Die Musikerin Anneliese Barthmes, die einigen von Ihnen sicher noch ein Begriff ist, schrieb im Lager die Noten eines Flötenmenuetts von Mozart aus dem Gedächtnis auf. Danach wurde auf den mitgebrachten Instrumenten musiziert.

Tagebuch von Inge von Hannenheim (Auszug)
„Freitag 8.6.45
Zu unserer großen Freude holt uns der Brigadier wieder zu (unserem Arbeitsplatz) Parokatelnia zurück, u. wir arbeiten mit Freude u. Eifer. ... Zu Mittag bekommen wir Talons u. essen abends wieder gemütlich auf der Bank im Park. Pischki u. Eiweißzwieback! Die Offiziere sind über unser Flöten(spiel) erfreut. Sonntag soll Kino sein. …“