„Wir wollen Veränderung spüren!“

Jugendparlament: Hautnah miterleben, was Demokratie bedeutet

Engagiert und dank Social Media bestens informiert

Eröffnung durch Cristian Pîrvulescu (APD) und Ciprian Petcu (HSS), den Abgeordneten Claudia Boghicevici (PNL), Daniel Gheorghe (PNL), Simona Oprescu (PSD), Anca Agachi (UN-Jugenddelegierte), Codru Vrabie (NGO Funky Citizens).

Die Studentinnen Diana Trăncuţă (21, Geschichte), Emanuela Manolache (21, Politik), Tania Panaite (21, Jura), Laura Cămăruţ (20, Politik), und Florina Enciu (20, Kunst; nicht im Bild) als Presseteam.

IT-Student Ionuţ Poptelecan (20) als Pressefotograf des Teams

Zum Klang der Nationalhymne erhebt sich der Saal.
Fotos: voceatinerilorparlamentari, HSS (2), die Verfasserin (2)

Junge Männer und Frauen, die meisten in Anzug und Kostüm, nehmen Platz in den ausladenden Doppelpulten, verstauen ihre Taschen und Mappen, begutachten die Sprechanlage oder unterhalten sich gedämpft. Erste Fotografen huschen herum auf der Suche nach dem besten Winkel. Mikrofonprobe, dann gehen die Bildschirme an. Ein Nachzügler zieht einen Rollenkoffer über den flauschigweichen Teppichboden. Das Bild ist seltsam vertraut - und doch ist etwas anders: Den Sitzungssaal unter der imposanten Glaskuppel im rumänischen Parlament kennen wir aus dem Fernsehen. Nur die Gesichter sind alle neu...

6. November 2015. Auf dem Universitätsplatz skandieren Demonstranten. Wut und Frust brechen sich Bahn. Die jungen Leute haben die Nase voll von der aktuellen Politikerklasse in Rumänien. Nicht jeder der Protestierer weiß genau, was er will - dafür ist man sich einig, was man nicht mehr will:  Korruption, Seilschaften, Nepotismus. Gefühle kochen hoch und so mancher fühlt sich in der brodelnden Menge ein wenig an die Revolution erinnert... 

Es ist derselbe Morgen. Teilweise sind es sogar dieselben Leute, die an den Straßenprotesten der letzten Tage teilnahmen und jetzt in den Ledersesseln der Parlamentarier probesitzen. Dort werden sie die nächsten drei Tage verbringen, um zu lernen, was es bedeutet, eine Meinung als konkreten Vorschlag zu formulieren, mit anderen bis zum Konsens zu debattieren und einen Gesetzesvorschlag auf den Weg zu bringen.

„Womit befassen sich Parlamentarier, wenn sie gerade nicht abstimmen?“ oder „Wieso diskutieren die Abgeordneten so lange über Themen, die man mit gesundem Menschenverstand in 20 Minuten abhaken kann?“ - diese und ähnliche Fragen haben über 200 Jugendliche bewogen, sich für das von der Agen]ia ProDemocratia (APD) und der Hanns Seidel Stiftung (HSS) Bukarest organisierte Jugendparlament vom 6.-8. November 2015 zu bewerben. Zugelassen sind Schüler und Studenten in Rumänien zwischen 18 und 26 Jahren. 100 bis 150 werden schließlich auf der Basis eines einzureichenden Gesetzesvorschlags ausgewählt. Erstmals sind heuer auch 15 Jugendliche aus der Republik Moldau dabei.

Parlamentarischen Konsens lernen

Cristian Pîrvulescu, Politologe, Universitätsprofessor und Ehrenvorsitzender der APD ist einer der Gründerväter der bereits zum siebten Mal stattfindenden Veranstaltung. Man will den Geist des parlamentarischen Konsens lehren und das Image des Parlaments verbessern, das in Rumänien denkbar schlecht ist, erklärt er. „Dies ist wichtig, wenn man verfolgt, was derzeit auf der Straße geschieht. Einige der jungen Leute hier nehmen auch an den Straßenprotesten teil, stehen aber den Ideen des Parlaments sehr offen gegenüber.“

Vordergründig wird simuliert, wie Gesetze entstehen: Drei Tage stehen den Jugendlichen für die Debatte von 22 Gesetzesvorschlägen zur Verfügung. Ein gigantisches Pensum, bei dessen Bewältigung man an vielerlei Grenzen stößt: rechtliche, zeitliche, persönliche, gruppendynamische. „Obwohl sie willkürlich in Fraktionen eingeteilt werden, identifizieren sie sich sehr schnell mit ihrer Gruppe und kämpfen für die Gruppenziele“, beobachtet Projektmanagerin Nicol Grama von der HSS. Auch gehen viele davon aus, andere mit Argumenten leicht überzeugen zu können. Oft ist dies aber nicht der Fall - und die Diskussionen entgleisen ins Persönliche.

Augen überall: das Presseteam

Neben den vier parlamentarischen Ausschüssen zu den Themen „Land-, Waldwirtschaft und Lebensmittelindustrie“, „Menschenrechte, Kulte und Minderheiten“, „Außenpolitik“ und „Arbeit und Soziales“ gibt es auch ein Presseteam, das alle Diskussionen beobachtet und die Zeitschrift „Stimme des Jugendparlaments“ herausgibt. Ihr Ziel ist, über die in den separaten Ausschüssen stattfindenden Ereignisse zu informieren. Schnell haben die Teilnehmer so erkannt, wie viel man vom allgemeinen Geschehen verpasst, während man in seiner Gruppe diskutiert. „Hinter verschlossenen Türen wird gearbeitet, auf dem Gang verhandelt“, lautet ein Untertitel der Jugendparlaments-Journalistin  und Politikstudentin Emma Manolache (21).

Auch Fettnäpfchen und Komisches werden gnadenlos  festgehalten: „Während die einen arbeiten, zeugen die anderen Kinder“, tönte ein Abgeordneter der ALDE, während ein UNPR-Vertreter rügt: „Herr Vizepräsident, blasen Sie nicht in das Mikrofon, das hört man unangenehm. Das sage ich Ihnen schon zum zweiten Mal!“

Was die Jugendlichen motiviert, fasst Diana Trăncuţă(21) zusammen: der spürbare Wunsch, Veränderungen zu sehen - eine Reform der Gesellschaft auf allen Niveaus, doch transparent und korrekt! Und: nicht die Fehler zu wiederholen, die man an jetzigen Parlamentariern beobachtet.

Nichts geht im Alleingang

Die Themen der Gesetzesvorschläge sind vielfältig, häufig betreffen sie jedoch typische Probleme der Jugend. Die Abgeordnete Claudia Boghicevici (PNL), die das Jugendparlament als Mentorin beobachtet, inspiriert sich gelegentlich daraus. Im letzten Jahr hatte sie die Idee übernommen, sich für Kulturvouchers für Jugendliche einzusetzen, die jedoch in der Realität keine parlamentarische Mehrheit erzielte. Auch Pîrvulescu bedauert, dass bisher noch kein vom Jugendparlament „verabschiedetes“ Gesetz übernommen wurde. Doch geht es in erster Linie um Lernprozesse als um die Umsetzung konkreter Vorschläge.

„Die Kommission für Außenpolitik hat festgestellt, wie viel man über internationales Recht wissen muss“, schreibt Emma Manolache. Tatsächlich erfahren die meisten, dass ihre Vorschläge daran scheitern, dass sie bestehenden Gesetzen widersprechen oder nicht verfassungskonform sind. Einige Projekte wurden umfassend revidiert, andere total demoliert. Viele mussten erkennen, dass ein Abgeordneter, egal wie gut er vorbereitet ist, nicht alle Themen abdecken kann und alleine kaum Einfluss hat. Auch der Zeitdruck stellte vor Herausforderungen: Im Ausschuß für Außenpolitik war es ein Problem, die Redezeit von fünf Minuten einzuhalten.

Viel Substanz hatten die Diskussionen in der Menschenrechtskommission,  beobachtet Jurastudentin Tania Panaite (21). Bei der Debatte über den gesetzesvorschlag, Bettelei zu verbieten, erntet Julia Niţa (PSD) Beifall: „Man kann doch Mitleid nicht bestrafen!“ Der ALDE-Vertreter hingegen hält es bloß für nutzlos: kein Bettler würde sich daran halten. Ein Fraktionskollege meint, „es würde der Entwicklung Rumäniens förderlich sein“. Der PNL-Abgeordnete beendet schließlich die Diskussion: „Bettler machen dem Land zwar  keine Ehre ... aber das Gesetz wäre nicht verfassungskonform.“

Eine Gesetzesinitiative, die allgemein befürwortet wurde, ist die des Jurastudenten Cristian Mihai Lazăr aus Klausenburg/Cluj-Napoca zur Bekämpfung der Jugendarbeitslosigkeit. 24,7 Prozent der Jugendlichen sind arbeitslos, begründet der Student die Initiative, Ursache sei die Diskrepanz zwischen Ausbildung und Anforderungen der Arbeitswelt. Als Lösung schlägt er ein nationales Programm zur Berufsausbildung vor, für jeden Absolventen einer Bildungseinrichtung, der innerhalb von 60 Tagen keinen seiner Ausbildung entsprechenden Arbeitsplatz gefunden hat. In neun Monaten sollen sie in einem Unternehmen gratis auf den geforderten Standard gebracht werden. 

Arbeitslosengeld  erhält nur, wer teilnimmt, außerdem gibt es ein Bewertungssystem. Wichtig: 70 Prozent der Ausbildung soll aus praktischen  Tätigkeit bestehen. Bei anschließender Einstellung durch das auszubildende Unternehmen soll dieses dafür im ersten Jahr weniger Sozialabgaben zahlen.

Was bleibt hängen?

„Nur fünf Prozent der  bisherigen Teilnehmer gingen tatsächlich den Weg in die Politik“,  erklärt Pîrvulescu. Bisher ist keiner darunter, der eine bedeutende Position erreicht hätte. Dennoch sind sich alle einig, viel gelernt zu haben. Etwa zehn Prozent nehmen zweimal teil, die anderen berichten ihren Freunden oder auf Social Media und sorgen so für Verbreitung.

Wenn man die heutigen Teilnehmer mit denen früherer Veranstaltungen vergleicht, fällt auf, dass erstere dank Social Media deutlich informierter sind, beobachtet Nicol Grama. Viele sind als Volontäre engagiert, absolvieren Praktika oder Internships.

Ab 2016 will man die Wirkung des Jugendparlaments durch empirische Methoden greifbarer machen: durch Fragebögen vorher-nachher, Fokusgruppeninterviews und Erhebungen zu langfristigen Veränderungen.

Jurastudentin Lara Stegarescu resümiert: „Es war eine sehr gute Erfahrung, ich konnte meine Kenntnisse konkret einbringen und miterleben, wie ein Gesetz vom Vorschlag bis zur Verabschiedung entsteht. Das Jugendparlament hat die Beziehung zwischen Parlament und Bürger für mich transparenter gemacht. Man denkt meist, das Parlament sei ein Ort, der den einfachen Menschen verschlossen ist - aber das ist ein Irrtum. Es ist eine Institution, die so nah wie möglich am Menschen sein will.“