Wort zum Alltag

Worte zum Sonntag sind – das ist mein Eindruck – im Überfluss vorhanden. Gottesdienste, Andachten, geistliche Worte und Reden kann man im Internet überall finden; die Konfession sucht man sich dann aus. Und wenn man mehrere Sprachen beherrscht, umso besser. Dann kann man geistliche Angebote aus aller Herren Länder wahrnehmen. Und das geht alles ganz gemütlich und aus dem Fernsehsessel von zu Hause aus. In die Kirche zu gehen, ist ja – besonders für das Hauptpublikum vieler Kirchen – gesundheitsgefährdend, wie uns seit Monaten eingetrichtert wird.

Wie steht es aber mit einem Wort zum Alltag? Zu der sogenannten „neuen Normalität“, die uns jeden Tag neu fordert, herausfordert und überfordert bis hin zur Verzweiflung.

Vor nicht zu vielen Tagen hat die Schule begonnen, mit großen Unsicherheiten, ohne Blumen, dafür aber mit großer Angst – nicht nur Berührungsangst – und Pannen. Die Schulanfänger der Vorschulklasse mussten sich, mit der Maske bis an die Augen, getrennt von ihren Eltern und im Sicherheitsabstand zu ihren Klassenkollegen, in Reih' und Glied aufstellen. Eine vollständig in einen Plastikanzug verpackte Person mit Mundschutz, Visier und Handschuhen richtete ein Thermometer wie eine Pistole auf ihre Stirn. Wie werden sie ihn in Erinnerung behalten, ihren ersten Schultag? Als ein Freudenfest? Wohl kaum.

Von dem Schulalltag der älteren Schüler mit Hybridunterricht, jeder Menge Internetprobleme und genervter Lehrer, die hinter ihrem Mundschutz schwitzend die Computertechnik zu beherrschen versuchen, um die halbe Schulklasse, die zu Hause sitzt, auch ins Unterrichtsgeschehen ihrer maskentragenden Kollegen hinter Plexiglas einzubeziehen, will ich gar nicht sprechen. Auch nicht über Menschen, die ins Krankenhaus müssten und entweder aus Angst nicht hingehen oder aus fadenscheinigen Gründen abgewiesen werden, und nicht über die immer noch abgeriegelten Altenheime, in denen Menschen eher an Vereinsamung als am Coronavirus sterben. Und schon gar nicht möchte ich auf die seltsamen Zahlen – als ob wir alle nichts anderes mehr wären als Zahlen – zu sprechen kommen, die uns täglich vorgelegt werden. Da gibt es schon genügend Leute, die sich ihrer annehmen und Unstimmigkeiten feststellen. Und nein, es soll auch nicht um den sehnsüchtig erwarteten Impfstoff gehen, auf den so viele Hoffnungen gesetzt werden. Oder um den Taxifahrer, der den Fahrgast ermahnt, seine Maske aufzusetzen, weil er, der Fahrer, sonst hohe Bußgelder riskiere. Es geht auch nicht um viele andere Themen, die unseren Alltag bewegen: um die Ekzeme, die aufgrund des Masketragens oder der häufigen Desinfektion der Hände auftreten; die Kinder, die auf der Straße gemeinsam spielen, in der Schule aber Distanz wahren müssen; die älteren Menschen, die im Park zusammen Schach und Backgammon spielen, aber von ihren Enkeln nicht besucht werden dürfen; die Symptome für die Covid-Erkrankung, die zu vielen bekannten Krankheiten passen; die wirtschaftliche Misere, in die dank Lockdown viele Unternehmen geraten sind.

Worum es wirklich geht, ist, ein Wort zu unserem schwer zu ertragenden Alltag zu finden. In der Bibel gibt es viele kraftvolle Worte. Eines davon lautet: „Du sollst den Herrn, deinen Gott, lieben von ganzem Herzen, von ganzer Seele und mit all deiner Kraft und deinem ganzen Gemüt, und deinen Nächsten wie dich selbst“ (Lukas 10,27).

Lieben wir uns denn selbst überhaupt? Bei den lieblosen Maßnahmen, die sich an Strenge gegenseitig überbieten, habe ich gewisse Zweifel daran. Wir sollten es aber, sagt nicht nur die Bibel, sondern jeder Psychologe und letztlich der gesunde Menschenverstand. Denn ohne Selbstliebe ist Nächstenliebe nicht möglich. Und damit Selbstliebe nicht in Egoismus ausartet, muss sie mit Gottesliebe einhergehen. Das ist ein guter Ansatzpunkt für die Prüfung der Kandidaten, die sich an diesem Wochenende zur Wahl stellen.

In diesem Sinne wünsche ich einen liebevoll-nächstenfreundlichen Umgang mit der neuen Corona-Normalität.