WORT ZUM SONNTAG: Adlerseele statt Rabenseele

Ein Reisender war in Südfrankreich im Wagen unterwegs und näherte sich den Pyrenäen, als plötzlich sein Begleiter ausrief: „Sehen Sie, dort sind Adler!“ Er schaute in die Richtung, die der andere wies, und sagte dann: „Das sind keine Adler! Merken Sie sich: Adler fliegen allein!“ Was er sah, waren vielleicht einige Habichte oder Geier, Adler waren es nicht. Der Adler dringt für sich allein zur Höhe empor, er hat keine Begleiter um sich. So muss auch der Mensch, der sich innerlich zu Gott empor schwingen will, oft in die Einsamkeit gehen. Adler fliegen allein.

Gottsucher wissen es aus eigener Erfahrung, dass man Gott nicht im Trubel der Marktplätze finden kann, sondern in der öfter selbstgewählten Einsamkeit. Superaktiven Managern und Freizeitgestaltern fehlt die nötige Einsamkeit, um sich zu sammeln. Deshalb gibt es in diesen Branchen selten intensive Gottsucher. Wie sagt doch das Sprichwort so anschaulich: „Der Adler fliegt allein, der Rabe scharenweise; Gesellschaft braucht der Tor und Einsamkeit der Weise!“

Der evangelische Prediger Oeser führt uns das mit einer ausgedachten Geschichte klar vor Augen: Am Jüngsten Tag trat eine Frau mit großer Zuversicht vor Gott. Sie war im Leben nie stolz oder eitel gewesen, hatte gut gelebt und war sicher, dass sie am Jüngsten Tag auf Gottes Seite sein werde. Gott sah sie an und fragte: „Wer bist du?“ Erschrocken rief die Frau: „Herr, kennst Du mich nicht? Weißt Du denn nicht mehr, dass ich jeden Montag im Kleiderverein für arme Leute gewirkt habe? Am Dienstag war ich in der Kinderkrippe, am Mittwoch in der Volksküche, am Donnerstag im Missionskränzchen, am Freitag im Paramentenverein, am Samstag im christlichen Leseabend und am Sonntag im Verein für Bewahrung schulentlassener Mädchen. Herr, weißt Du nichts mehr davon?“ Gott antwortete: „Das ist es gerade, was ich dir vorzuwerfen habe. Du warst immer auswärts. So oft ich dich besuchen wollte, warst du nicht zu Hause!“ So kann es auch uns ergehen. „Der liebe Gott besucht uns oft genug mit Gnad´ und Huld in unsrer Klause. Doch leider sind für den Besuch wir selten nur zu Hause!“ (Fr. W. Weber)

Wie wichtig die innere Einkehr ist, erkannten sogar alte Heiden. Der römische Kaiser Aurelian (214 – 275) schreibt in seinen „Selbstbetrachtungen“: „Halte recht oft stille Einkehr. So erneuerst du dich selbst!“ Der berühmte Redner Cicero (106 – 43 v. Chr.) legt noch eins drauf: „Wenn ich allein bin, bin ich am wenigsten allein!“ Wahr ist das Wort des Dichters Gorch Fock, der im Ersten Weltkrieg den Seemannstod gestorben ist: „Du kannst dein Leben weder verlängern, noch verbreitern, sondern nur vertiefen!“
Je mehr Adlerseele und je weniger Rabenseele in uns ist, desto leichter reifen wir Gott entgegen. Christus gebraucht dafür im Markusevangelium das Bild von der still wachsenden Saat. Der Bauer streut den Samen in die Erde. Der Samen geht allein auf und wächst empor. Das vollzieht sich in der Einsamkeit. „Einsamkeit ist Seelennahrung“, sagt der Dichter.

Das erfuhr auch der Dichter Max Dauthendey (1867 – 1918) am eigenen Leibe. Für ihn gab es keinen persönlichen Gott. Im Jahr 1914 reiste er nach Jawa und wurde dort vom Ausbruch des Ersten Weltkriegs überrascht. Als Deutscher kam er in ein Internierungslager. In dieser erzwungenen Einsamkeit kam er zur inneren Einkehr. Die Frucht war die Erkenntnis Gottes. Die Freude darüber war so groß, dass er in sein Tagebuch schrieb: „Heute erkannte ich, dass es einen persönlichen Gott gibt. Ich danke Dir, o Gott, dass ich Dich vor meinem Tode nach dreißigjährigem Suchen mit dem Verstand erkannt habe und Dir leben darf! Mensch, Dauthendey, freue dich!“

Jeder von uns kann zu dieser Freude gelangen, aber nur, wenn wir die Nähe Gottes suchen. Je näher ein Ding seinem Ursprung ist, desto vollkommener ist es. Das Wasser ist am reinsten nahe der Quelle, aus der es entspringt. Die Hitze ist am stärkten beim Feuer, aus dem sie kommt. Der Lichtstrahl ist am leuchtendsten, je näher er der Sonne ist. So ist es auch mit uns. Je näher wir Gott kommen, desto klarer erkennen wir seine Größe. Je weiter wir uns von Ihm entfernen, desto unbedeutender wird Er für unser Leben.

Wandeln wir unsere Rabenseele in eine Adlerseele um. Das gelingt uns nur durch innere Einkehr. „Wenn die Lippen schlafen, erwacht die Seele“.