WORT ZUM SONNTAG: Brief an eine Zweiflerin

Liebe Z.!

Alles ist schön und gut, solange Du bloß urteilen, abwägen und bewerten möchtest. Das Verurteilen liegt allerdings nicht bei uns – und nicht bei Dir. Die Alten waren sehr weise; sie wussten, dass es für eine Rechtsprechung dreier Priester bedarf: des Anklägers, des Verteidigers und des Richters. Die Rechtsprechung ist keine Wahrheitsfindung; sie ist ein Urteil, sie ist das Abgewogenwerden eines Tatbestandes – freilich durch Menschen.

Wenn Du die Frömmigkeit und die angebliche Heuchelei a n k l a g s t, sie seien Verschleierungen der Ichhaftigkeit, so darfst Du das ohne Weiteres behaupten. Du darfst jedoch nicht verurteilen. Das Aburteilen musst Du dem Richter überlassen.

Darüber hinaus musst Du auf den Verteidiger achten. Das römische Recht belehrt uns: Auch der verworfenste Mensch hat ein Recht auf Verteidigung. Und noch etwas. Wehe, wenn zwei der erwähnten drei Priester in einer Person erscheinen oder gar handeln wollen. In jeder Art von Diktatur wird einer der drei Priester vereinnahmt. Hitler hat den Ankläger und den Richter zu einer Person verschmelzen lassen. Stalin verwandelte den Verteidiger in einen Richter. Die Gräuel, die sie damit angerichtet haben, liegen auf der Hand.

Jesus lehrt uns: Richtet nicht, auf dass ihr nicht gerichtet werdet! Und nun einiges zur Frömmigkeit. Sie ist ja nicht die Heiligkeit schlechthin. Jeder von uns wurde schon durch die Taufe „heilig gesprochen“. Wir Menschen brauchen unsere Rituale, unsere heiligen Spiele. Das Leben will in einen „Ausnahmezustand“ erhoben werden. Wir Heutigen wissen uns mit Riten und Festlichkeiten recht gut einzudecken. Aber den Sinn der alten Riten haben wir verdrängt oder vergessen. Ich selbst habe einmal aus unreifer Überlegung auch so gedacht: Die übertriebene Ziererei sei eine Art Verschleierungstaktik.

Die Zeit hat mich aber eines Besseren belehrt. Ich bin oft bei orthodoxen Weihehandlungen dabei gewesen. Wir sind einmal sogar vier Stunden gestanden. Nach der Messe war ich wie ausgespült. Die römisch-katholischen Messen haben es auch in sich. Wir Lutheraner sollten viel mehr auf Luther hören. In der Deutschen Messe hat er ein Gleichgewicht gesetzt zwischen Liturgie (griechisch Volkswerk) und Verkündigung. Beides soll die Seele reinigen.

Ein Pfarrer fragte die Waschfrau am Fluss, ob sie etwas aus der Sonntagspredigt aufsagen könne. Sie verneinte. Nun, fragt er weiter: Warum gehst du dann zum Gottesdienst? Und sie antwortete: Wenn ich diesen Korb ins Wasser senke, fließt das Wasser durch ihn zwar hindurch. Es bleibt aber nicht drin. Dafür wird jedoch der Korb ausgespült, also reiner.
So ist das mit den Ritualen. Sie sind nicht für den Verstand „gedacht“. In ihnen wird die Seele gebadet. Na ja, was ist Seele? könnten wir weiter fragen. Die Antworten sind Legion. Und jede Antwort ist richtig. Für mich ist die Seele der Schmerz und die Sprache. Sie kann aber genauso gut ein Hauch aus jenseitigen Räumen sein – oder ein materieller Strom, aus chemischen Reaktionen hervorgegangen. Alles ist in gleicher Weise „wahr“.

Was den Nächstendienst anbetrifft: Schon die Propheten haben die Riten hintangestellt und gefordert, das Opfer möge nicht zu einem Selbstzweck werden. Beim Ausgang des Opfergangs wartet der Schöpfer und Erhalter aller Dinge und Wesen – und mit ihm der Nächste. Der Nächstendienst kann nicht geleistet werden aus sich selbst heraus. Der Nächstendienst muss durch den Ritus „vorgefertigt“ werden.

Andererseits geht uns an den Heutigen auf: Sie können aus allem ein Ritual heraufbeschwören. Die Politiker haben es längst schon herausbekommen, wie sie ihrem Ich eine Sonderstellung verschaffen können. Werbungen, Wahlen, Festlichkeiten – in allem fließt ein Verhaltensmuster für einen Ausnahmezustand. Die Diktatoren haben viel von den Ritualen der Kirche ins Operettenhafte verkehrt.

Nun, in dem, was ich bisher gesagt habe, möchte ich bloß Ankläger oder Verteidiger – keineswegs Richter sein. Jesus selbst hat gesagt, man soll das „Unkraut“ bis zum Jüngsten Tag wachsen lassen. Ja nicht vorschnell ausraufen wollen – man könnte das falsche Kraut beim Schopf gepackt haben. (Wir üben uns ja dauernd im Verteufeln dessen, was uns nicht behagt, oder dessen, was wir verdächtigen – und wir begnügen uns nicht damit, dass wir Ankläger sind, wir wollen eben Richter sein – und a u s r a u f e n ).

Mir selbst sagen am ehesten die Versöhnungsrituale zu. Auf dem Boden der Gemeinde Jesus Christi sind es die Gottesdienste, in der Welt sind es die Kultur- und Sportveranstaltungen. Die Welt und die Kirche bedürfen ihrer so sehr, meine ich, wie ein Kind der Mutter und Großmutter, der Kinderstube, aber auch der Märchentruhe bedarf. Für die Erwachsenen tut es die Mutter Kirche mit ihren Priestern und Diakonen – halt so, wie Priester und Diakone eben geraten sind. Paulus sagt: Wenn nur Christus verkündigt würde auf allerlei Weise: es sei um der Ehre, oder um der Unehre willen. Die Frömmigkeit als Gehorsam richtet sich nicht so sehr nach dem Verhalten, als vielmehr nach der Ausrichtung. Im 119. Psalm heißt es: Ich bin dein; hilf mir!

Eugen Roth sagt in einem Gedicht: „Ein Mensch wird schon als Kind erzogen / Und dementsprechend angelogen. / Er hört die wunderlichsten Dinge: / Wie dass der Storch die Kinder bringe, / das Christkind Gaben gäb’ zur Feier, / Der Osterhase lege Eier — / Kurz, er durchschaut nach ein paar Jährchen: / Das alles ist ein Ammenmärchen! / Doch andere, weniger fromme Lügen / Glaubt bis ans End er mit Vergnügen.“

Einige Weltläufer meinen, sie müssten den frommen Lügen ausweichen: Sie verfallen aber den w e n i g e r frommen Lügen umso nachhaltiger.