WORT ZUM SONNTAG: Der Lebensbaum

Eine 5000 Jahre alte ägyptische Chronik berichtet Folgendes: In der Königsstadt Ur im Zwischenstromland, dem heutigen Irak, bewegte sich ein großer Leichenzug. Der alte König war gestorben. Alles, was dem König zu seinen Lebzeiten lieb und teuer war, wurde mitgefahren. Hunderte von Hofherren, Hofdamen, Tänzerinnen, Palastwächter, Diener und Dienerinnen folgten dem pompösen Leichenwagen. Vor einem weiten Gewölbe hielt der Zug. Der Leichnam des Königs wurde hinabgetragen in die große unterirdische Halle. Alle, die dem Herrscher gedient hatten, folgten dem entseelten Leib. Auch die Prachtstücke des königlichen Schatzes wurden alle hinabgetragen: Goldene Schalen und Schmuckgegenstände, kostbare Alabastervasen, der Thronsessel, ein Wunderwerk der Kunst, und auch alle Gebrauchsgegenstände des täglichen Lebens.

Man glaubte, der tote König könnte sie in der stillen Gruft noch benützen. Der Leichnam wurde inmitten all dieser Kostbarkeiten beigesetzt. Dann begann der letzte Akt der Totenfeier – für unser Denken und Fühlen schauerlich. Goldene Becher, gefüllt mit dem stärksten Gift, machten jetzt die Runde. Ohne zu zögern, tranken alle Hofherren und Hofdamen und das ganze übrige Gefolge den todbringenden Saft. Und nun warteten sie alle, an die Wand des Gewölbes gelehnt, auf den Tod. So schrieben ein Gesetz und die Tradition vor: Wenn der König von Mesopotamien stirbt, dann geht mit ihm sein ganzes Gefolge in den Tod. Der Reihe nach sanken alle, die den Giftbecher geleert hatten, tot zur Erde. Der Eingang zum Gewölbe wurde vermauert und versiegelt. – Neueste Ausgrabungen bestätigen die alte Chronik.

Es war 3000 Jahre später. Im Lande der Israeliten steht ein Mann, an die Geißelsäule gebunden. Sein Rücken wird von Soldaten blutig geschlagen. Er wird angespuckt, ins Gesicht geschlagen, eine Dornenkrone auf sein Haupt gedrückt. Dann laden die Soldaten ihm ein schweres Kreuz auf die Schultern. Geschwächt durch die Misshandlungen, fällt er dreimal zu Boden. Doch er wird emporgerissen und gezwungen, seinen Kreuzweg weiterzugehen bis zum Hügel Golgotha. Dort reißen ihm die Soldaten die Kleider vom Leibe, werfen ihn aufs Kreuz und nageln ihn an Händen und Füßen an. Dann wird das Kreuz aufgerichtet. Der von äußersten Qualen gepeinigte „Mann der Schmerzen“ hängt zwischen Himmel und Erde am Marterbaum. Es vergehen einige Stunden höchster Qual, bis der Gekreuzigte sein Haupt neigt und spricht: „Es ist vollbracht!“ Dann gibt er seinen Geist auf.

Wer war denn dieser Mann, dem dieser qualvolle Tod zugedacht wurde? War er ein Verbrecher, ein Mörder, ein gewalttätiger Rebell? Nein, sein Name war Jesus von Nazareth. Sein Todesurteil war am Baume des Kreuzes befestigt. Jeder konnte es lesen: „Jesus von Nazareth, König der Juden!“ Er hatte einen Ausspruch getan, den kein Gewaltherrscher auf Erden auszusprechen wagen würde: „Mir ist alle Gewalt gegeben im Himmel und auf Erden!“ Was tat er mit dieser Allgewalt? Hat er Heere mit Waffen ausgerüstet und andere Länder mit Krieg überzogen? Nein, nicht mit Schwert und Speer und nicht mit Soldaten wollte er sein Königreich aufrichten. Seine Waffe war seine Lehre von der verzeihenden Liebe Gottes.

Er nahm sich der Armen und Schwachen an und ging Segen spendend durch das Land. Er war die fleischgewordene „Güte und Menschenfreundlichkeit“. Nur wo er Lüge und Heuchelei vorfand, griff er schonungslos zu und entlarvte die Heuchler. Alle, die gegen die Wahrheit lebten, wurden seine erbitterten Feinde. Sie beschlossen, ihn zu vernichten. Er wehrte sich nicht, ließ sich gefangen nehmen, zum Tode verurteilen und kreuzigen. Aber „durch seine Wunden werden wir geheilt“, prophezeite schon Jesaias. Als in Mesopotamien der König starb, mussten viele mit ihm sterben. Der Tod Jesu ward für die Menschen aller Zeiten, die an ihn glauben, zur Quelle des ewigen Lebens. Jesus, der Gekreuzigte, bringt uns das Leben. Sein Todeskreuz ist für uns „Lebensbaum“ geworden. Dankbar beten wir: „Durch dein heiliges Kreuz hast Du die Welt erlöst!“