WORT ZUM SONNTAG: Der Sprung über den eigenen Schatten

Als ich in der ehemaligen Sowjetunion das ungerechte Leid der Deportation ertragen musste, arbeitete ich einige Zeit mit der Gruppe russischer Mädchen zusammen. Ein Mädchen erklärte mir: „Wer gut zu mir ist, zu dem bin auch ich gut. Wer aber mir Böses antut, dem tue auch ich Böses an!“ Es ist dies die Einstellung der Menschen seit uralter Zeit, nach dem Axiom: „Wie du mir, so ich dir!“ Schon auf den ersten Seiten der Bibel wird von dieser Einstellung berichtet (Gen. 4,23): Lamech sagte zu seinen Frauen: „Ada und Zilla, hört auf meine Stimme: Ja, einen Mann erschlage ich für eine Wunde und einen Knaben für eine Strieme. Wird Kain siebenfach gerächt, dann Lamech siebenundsiebzigfach!“ Die Rache fällt oft größer aus als die vorangehende Tat. Bei vielen Völkern herrscht das Gesetz der „Blutrache“. Es vererbt sich von Geschlecht zu Geschlecht, oft so, dass die Nachkommen der verfeindeten Geschlechter nichts mehr über den Ursprung der Blutrache wissen.

Dieses unselige „Wie du mir, so ich dir“ ist die Quelle aller Feindschaften und Bluttaten. Soll dieses Rächergesetz ewig andauern? Christus hat in seiner Bergpredigt eine gewaltige Bresche in dieses Gesetz der Rache geschlagen mit seiner bisher unerhörten Forderung: „Vergeltet Böses mit Gutem!“ Der „unerlöste Mensch“ will nichts davon hören, aber der „erlöste Mensch“ in uns nimmt diese Lösung an. Nur auf diese Weise kann die Blutkette zerrissen werden. Christus war kein bloßer Theoretiker. Er selbst hat das, was er lehrte, in einer einzigartigen Weise praktisch ausgeübt. Als er ans Kreuz geschlagen wurde, betete er: „Vater, verzeih ihnen, denn sie wissen nicht was sie tun!“ Der Apostel Petrus stellt den getauften Christen das Beispiel Christi vor Augen: „Christus hat euch durch sein Leiden ein Vorbild hinterlassen, damit auch ihr in seine Fußstapfen tretet. Da er geschmäht wurde, schmähte er nicht wieder; da er litt, drohte er nicht. Durch seine Wunden wurdet ihr geheilt.“

Tatkräftige Christen haben die Kraft, über ihren eigenen Schatten zu springen. Sie setzen die Lehre Christi in die Tat um.

Der ungarische Graf Szapary war in türkische Gefangenschaft geraten. Der despotische Pascha behandelte den adeligen Gefangenen mit berechneter Bosheit. Der Graf musste als Sklave die niedrigsten Arbeiten verrichten. Er ließ ihn sogar mit einem Ochsen zusammenspannen und den Pflug ziehen. Da wendete sich das Glück der Waffen. Die Türken wurden besiegt, der Graf befreit und der gefangene Pascha dem Grafen überantwortet. Nun stand der grausame Pascha vor dem Grafen. „Kennst du mich?“ fragte der Graf. Der Pascha bejahte. „Weißt du noch, wie du mich behandelt hast?“ fuhr der Graf fort. Keine Antwort. Da sprach der Graf: „Damit du siehst, wie ein Christ sich rächt, wisse, du bist frei!“ Der Pascha erblasste. Er sagte: „Dein Edelmut kommt zu spät. Als ich dir zugesprochen wurde, nahm ich Gift. Schon spüre ich seine Wirkung. Aber eine Religion, die solche Seelengröße erzeugt, muss die wahre sein!“

Das ist „christliche Rache“, wie sie Christus von allen Christen erwartet. Er erwartet keine „affektive“, sondern eine „Tatliebe“: „Vergeltet Böses mit Gutem!“

Der Mystiker Heinrich Seuse (1295 - 1366) wurde schwer verleumdet. Jahrelang dauerte die üble Nachrede. Wie reagierte er? „Seinen Feinden vergeben ist mehr, als bis ans Ende der Welt laufen, dass die Füße bluten!“ Ein solches Wort aus einem hart geprüften Mund, muss doch schwer ins Gewicht fallen.

Bringen wir es fertig, Böses nicht mit gleicher Münze heimzuzahlen, dann sind wir auf dem rechten Weg zu Christus. Wir sind dann über unseren eigenen Schatten gesprungen. Bringen wir es darüber hinaus fertig, Böses sogar mit Gutem zu vergelten, dann sind wir endgültig bei Christus angelangt. Nur solche Menschen machen die Welt erträglicher und „humaner“.