WORT ZUM SONNTAG: Jedem das Seine

Das Fundament jeder gesunden und lebensfähigen Menschengemeinschaft ist der Grundsatz: „Jedem das Seine!“ Wird dieser Grundsatz von allen Menschen respektiert und als Grundlage im Handel und Wandel angewendet, so wird die Gemeinschaft blühen und Früchte des Friedens hervorbringen. Leider wird dieser Grundsatz allzu oft missachtet. Die Früchte davon sind giftig: Ausbeutung der Schwachen, Raub, Streit, Feindschaft, Krieg, Diktatur und Sklaverei.

Darum ist es für jede Gemeinschaft von größter Wichtigkeit, dass die Gerechtigkeit in allen strittigen Problemen das letzte und entscheidende Wort hat. Seit der Renaissance stellt man die Gerechtigkeit als eine Gestalt mit verbundenen Augen dar. Damit soll veranschaulicht werden: Die wahre Gerechtigkeit darf nicht auf die Person sehen, sondern nur auf die Grundlagen des Rechtes, das für alle gleich ist. Nur die Taten, nicht die soziale Stellung des Angeklagten dürfen beim Rechtsurteil ins Gewicht fallen.

Die alten Römer und Griechen haben die Gerechtigkeit nie mit einer Augenbinde dargestellt, im Gegenteil, sie gaben der Themis, der Dike, der Justitia besonders große, weit offene Augen. So wurde Dike, die Tochter des Zeus und der Themis, die Göttin der vergeltenden und der strafenden Gerechtigkeit, dargestellt. Die Augenbinde geht, laut dem römischen Schriftsteller Plutarch, auf altägyptische Vorbilder zurück. Er berichtet, im ägyptischen Theben seien Bilder von Richtern ohne Hände dargestellt, der Oberrichter habe geschlossene Augen. Es gibt eine Erklärung dafür: Die Gerechtigkeit nehme keine Geschenke an und sei für jeden fremden Einfluss unzugänglich. Erst durch den Humanisten Erasmus von Rotterdam fand Plutarchs Bericht über die „blinde Gerechtigkeit“ in der abendländischen Kunst Eingang.

Wollte man die Gerechtigkeit so darstellen, wie sie in manchen Ländern heute praktiziert wird, müsste man sie mit blinden Augen, aber mit großen offenen Händen darstellen. Wer ihr die größte Geldsumme in die Hand legt, bekommt das Rechtsurteil. Manche Richter sind gerade auf dem Ohr taub, mit dem sie die gerechten Anklagen anhören müssten. Angeblich soll Alexander der Große, wenn jemand mit einer Klage gegen einen anderen zu ihm kam, ein Ohr zugehalten haben. Auf die Frage, warum er das tue, habe er geantwortet: „Ein Ohr stelle ich dem Ankläger zur Verfügung, das andere gehört dem Angeklagten!“

Der größte italienische Dichter, Dante, hatte erkannt, wie schädlich es ist, wenn in einer Gemeinschaft die Gerechtigkeit gerade von denen missbraucht wird, deren Amt es ist, sie auszuüben. In seinem monumentalen Werk „Die Göttliche Komödie“ will er die gewissenlosen Rechtsverdreher abschrecken. In der fünften Höllenfolge trifft Dante auf seinem Gang durch die Unterwelt (Inferno 21. und 22. Gesang) auf einen See voll zähen, kochenden Pechs. In ihm büßen jene, denen die Gerechtigkeit im irdischen Leben um Geld feil war. Wie zu Lebzeiten das Geld an ihnen kleben blieb, so jetzt das siedende Pech. Und damit keiner es wage, aus seiner Pein aufzutauchen, bewachen Teufel mit Zinken und Gabeln ringsum den See und stoßen jeden wieder in die grausige Masse zurück, der auch nur den Kopf herauszustrecken versucht.

Wir sollen unser Tun und Lassen an der Gerechtigkeit messen. An was aber soll die Gerechtigkeit selbst gemessen werden? In Nieblum auf der Nordseeinsel Föhr steht eine alte Kirche aus dem 11. Jahrhundert. An einer Säule der Kirche hängt eine Elle, die früher als Normalmaß des Kirchensprengels galt. Wer ein gültiges Maß haben wollte, musste es an der Elle in der Kirche abmessen. Wenn jemand sich betrogen glaubte, konnte er in der Kirche nachmessen. Es hatte einen tiefen Sinn, dass das Maß im Gotteshaus hing. Es sagte jedem, dass bei jedem Kauf und Handel Gott das letzte Wort spricht. Und das war nicht nur so, als man noch nach der Elle maß, es ist auch heute noch so im Zeitalter des Computers und des Internets.
Das Maß aller menschlichen Gerechtigkeit ist Gott selber. An seinen zehn Geboten, müssen wir, wollen wir gerecht sein, unser Recht und unser Rechtsprechen messen. Halten wir uns ausnahmslos an dieses Maß, dann können wir eine gerechte Menschengemeinschaft aufbauen. Wir alle sind Schuldner vor Gott. Bestechen können wir ihn nicht, aber wir können ihn lieben. Im 1. Petrusbrief (4,8) heißt es: „Die Liebe deckt eine Menge Sünden zu!“ Durch unsere Liebe wandelt Gott seine Gerechtigkeit in Barmherzigkeit um – und wir sind gerettet.