WORT ZUM SONNTAG: Jesus geht voran

In Budapest, unmittelbar neben der Elisabethbrücke, befindet sich die Innerstädtische Pfarrkirche. Vor dem Bereich des Chorraumes stehen zwei wunderschöne, lebensgroße Bildhauerarbeiten. Auf der einen Seite eine Darstellung der Maria mit dem Kind Jesus. Sie hält ihren nur wenige Monate alten Sohn auf dem Arm und der Säugling strahlt den Betrachter an, unschuldig und von keiner Sorge belastet.

Auf der gegenüberliegenden Seite Josef, der Zimmermann und zwischen den Knien des sitzenden Mannes steht der vielleicht achtjährige Jesus. Josef hat sein Werkzeug in der rechten Hand und es scheint so, als ob er seine Arbeit kurz unterbrach. Jesus war in die Werkstatt zu ihm gekommen und ein paar Minuten verwendet er, mit dem Jungen zu spielen. Zwei Brettchen fügt das Kind zusammen und unversehens wurde daraus ein Kreuz.

Der Bildhauer hält die Minuten fest, die nach diesem Spiel sind: Momente des Schweigens. Die Gesichtsausdrücke der beiden sind aus dem weißen Stein faszinierend herausgearbeitet. In dem Gesicht des Jungen ist Unschuld nicht mehr zu entdecken. Dieses Kind weiß um Schuld, menschliche Unzulänglichkeit, hat die Erfahrungen seines Alters und vielleicht – wie so viele Kinder im ersten Lebensjahrzehnt – auch schon erkannt, dass Menschen zu allem fähig sind. Das gebastelte Kreuz, ein Symbol großer Tragweite: Massiv gefertigt und entsprechend groß wird es zum Galgen, an dem Menschen zu Tode gebracht werden, um Schuld zu sühnen.

Der Blick des Josef geht über das Kind hinweg in eine große Ferne. Sorge und Angst spiegelt sich in seinen Gesichtszügen wider. Die bange Frage, was aus diesem Kind, dem die Sündhaftigkeit des Menschen so an die Nieren geht, wohl einmal werden wird. Ob er ahnt, dass er den Sohn Gottes, das „Lamm Gottes“ vor sich hat, das die „Sünde der Welt“ trägt?

Im Kirchenjahr stehen wir mitten in der Passionszeit. Leidenszeit nannten sie die Alten. Den eigentlichen Sinn des Wortes „leiden“ haben wir wohl in das Unbewusste verdrängt. Wir vernehmen aus diesem Wort Passivität, Erduldung, Ausgeliefertsein.

Ursprünglich aber meinte dieses Wort: Gehen, erfahren. Gehen in diesem Sinn ist mehr als Passivität. Es meint: Über eine Grenzerfahrung hinweggehen, die das Gewohnte vom Ungewohnten scheidet. Aus der Heimat in die Heimatlosigkeit, aus dem „Heimelichen in das Un-Heimeliche“. Wir haben genug Erfahrung, wofür das Wort „leiden“ heute stehen kann: Schmerzhafte Trennung, Verzicht, Ungewissheit, Ungesichertsein.

Zu diesem ursprünglichen Sinn passen weder Resignation noch Hilflosigkeit, sondern viel eher das Einverständnis zum unvermeidlich Widrigen. Jesus spricht es einmal so an: „Der Jünger nehme sein Kreuz auf sich und folge mir nach.“

Jesus geht bewusst nach Jerusalem, zum Hinrichtungsberg, nach Golgota. Es ist sein Weg und er macht sich und uns nichts vor. Jeder hat sein Kreuz auf seinem ureigenen Weg zu tragen.

Laufen lernen beginnt in der Regel mit einem Sturz, aber wagt ein Kind das Abenteuer des ersten Schrittes nicht, kommt es nicht voran. Das kann ein Gleichnis sein für das Gehen im Ungesicherten und Widrigen. Jesus geht auf diesem Weg voran. Lassen wir uns ermutigen, ihm nachzufolgen.