WORT ZUM SONNTAG: Liebhaber der zwei Schwestern

Der bekannte österreichische Schriftsteller Adalbert Stifter (1805 -1868) nennt die Kunst die „irdische Schwester“ der Religion. Also ist die Religion „die himmlische Schwester“ der Kunst. Das zeigen die großen Kunstwerke. Sie wurden durch die „himmlische Schwester“, durch die Religion, inspiriert. Die wertvollsten Erzeugnisse der Baukunst sind Dome und Münster. Die erhebendsten musikalischen Kompositionen haben religiöse Themen. Denken wir an die Werke Bachs, an das „Alleluja“ von Händel und an die zahlreichen „Ave Maria“. Die Mal- und Bildhauerkunst offenbaren in ihren größten Werken religiöse Motive. Ein Leonardo da Vinci und ein Michelangelo wurden unsterblich durch ihre religiösen Schöpfungen. Durch die irdische Schwester, durch die Kunst, freundeten sich die Künstler mit der himmlischen Schwester an. Manche verliebten sich in diese himmlische so sehr, dass sie ihr weiteres Leben dieser Liebe weihten. Ein solcher Künstler der modernen Zeit war der von Papst Johannes Paul II seliggesprochene italienische Kunstprofessor Claudio Granzotto.

Er wurde am 23. August 1900 in Santa Lucia di Piave in der venezianischen Ebene als siebtes Kind einer armen Familie geboren und auf den Namen Riccardo getauft. Die Eltern konnten ihm auf seinen Lebensweg zwar keine materiellen Güter mitgeben, aber sie übermittelten dem Jungen einen wertvolleren geistigen Schatz, einen überzeugenden christlichen Glauben. Schon nach der dritten Volksschulklasse musste Riccardo bei der Arbeit mit anfassen, zuerst als Hilfsarbeiter bei einem Schuster, dann bei einem Tischler und schließlich war er Maurergehilfe. Mit 17 Jahren rückte er zu einer vormilitärischen Ausbildung ein. Danach setzte er die Arbeit als Hilfsarbeiter fort. Dabei entdeckte er sein Talent zum Modellieren. Dieser Vorliebe widmete er jede freie Stunde. Italien trat in den 1.Weltkrieg ein. Nun musste der Hilfsarbeiter die Kelle mit dem Gewehr vertauschen. Er wurde Soldat. Aus dem Kriegsgeschehen kam er zwar heil heraus, wurde aber noch nicht vom Militärdienst befreit. So diente er weiter in Rom, Neapel, Bologna und sogar in Albanien. Erst im Oktober 1921 durfte er endgültig den Militärdienst beenden.

Er kehrte in seine Familie zurück und nahm erneut die Arbeit als Maurer auf. Die Modellierlust war ihm in all den Jahren geblieben und wurde zu seiner Leidenschaft. Seine Arbeitskollegen bewunderten ihn, als sie sahen, was er fertigbrachte. Auch sein Heimatpfarrer wurde auf sein Talent aufmerksam. Beide kannten sich gut, denn Riccardo stellte auch im religiösen Leben der Pfarrgemeinde seinen Mann. Der Pfarrer nahm den aufstrebenden Künstler unter seine Fittiche. Er erspürte Riccardos Talent auf dem Gebiet der Bildhauerei. Er verschaffte ihm den Eintritt in die Kunstschule bei Treviso. Da Riccardo sich dort bewährte, wurde er in das „Liceo artistico“ zu Venedig aufgenommen. Sein Fortschritt als Bildhauer war so imponierend, dass er schließlich Mitglied der „Academia di Belle Arti“ in Venedig wurde. Hier schloss er das Studium mit den besten Noten und mit dem Titel eines Professors der Bildhauerkunst ab. Werke, die er in dieser Zeit schuf, sind vor allem „L’anima e la sua veste“ (Die Seele und ihr Kleid), dann das für seinen Geburtsort geschaffene berühmte Weihwasserbecken und die in Stein gehauene „Verzweiflung des Judas“.

Dank seines von Gott verliehenen Talents war aus dem einstigen Maurerhilfsarbeiter ein berühmter Professor der Bildhauerei geworden. Welche Zukunft wünschte er sich? Neben der irdischen Kunstschwester zog ihn immer mehr die himmlische Schwester Religion an. So entschloss sich Professor Riccardo Granzotto im Alter von 32 Jahren, sein Leben der himmlischen Schwester ganz zu weihen. Er schätzte sehr den Franziskanerorden. Nach gründlicher Überlegung trat der akademische Bildhauer am 27. November 1933 in den Orden des hl. Franziskus zu Venedig ein. Bei der Einkleidung nahm er den Ordensnamen „Claudio“ an. Nun konnte er nach Herzenslust die irdische Schwester ganz in den Dienst der himmlischen Schwester stellen. Er bekam den Auftrag, für Chiampo in Vicenza eine Lourdes-Grotte zu errichten. Dazu meißelte er die Statue der Gnadenmutter von Lourdes. Angeblich gelang ihm dies besser als jenem Meister, der die Statue, wie sie heute in der Grotte Massabielle steht, geschaffen hat. Bruder Claudio errichtete noch andere Lourdesgrotten für andere Orte.

Seine Oberen traten an ihn heran, er solle doch Priester werden. Doch Bruder Claudio lehnte dies aus Demut ab. Er wollte nur einfacher Diener Gottes sein. So scheute der Künstler und Kunstprofessor auch nicht vor den bescheidenen Arbeiten zurück. Er half im Viehstall und in der Küche aus, löste den Bruder an der Klosterpforte ab und besserte die Klostermauern aus. Das macht verständlich, dass sich viele Menschen an ihm erbauten. Offenbar hatte er in den Augen Gottes seine Lebensaufgabe früh erfüllt. Er starb am 8. August 1947, erst 47 Jahre alt. Der damalige Bischof von Venedig, der spätere Papst Johannes Paul I. leitete die Seligsprechung ein, die Papst Johannes Paul II. am 20. November 1994 zu Ende führte. An ihm bewahrheitete sich das Wort des schwedischen evangelischen Bischofs und Friedensnobelpreisträgers Nathan Söderblom: „Heilige sind Menschen, durch die es anderen leichter wird, an Gott zu glauben!“