WORT ZUM SONNTAG: Schuld und Verfehlung der Gemeinde

Über die Kirche erzählt man sich bekanntlich vieles. Gutes und Schlechtes. Bei den säkular geprägten Lesern und Hörern von Nachrichten, Talkshows, Interviews und Ähnlichem kommen besonders die angeblichen „Skandalgeschichten“ innerhalb der Kirche sehr gut an. Dabei stellt man oft enttäuscht fest, dass es in der Kirche so wie überall ist. Dass Menschen Fehler machen. Dass auch dort Streit entstehen kann. Die angebliche Enttäuschung kommt daher, dass man eben gerade das andere von ihr erwartet. Kirche soll so sein, wie sie im Glaubensbekenntnis beschrieben ist. Sie soll heilig sein und eine Gemeinschaft von Heiligen.
Der evangelischen Kirche ist dieser Zwiespalt aber nicht neu. Schon die Reformatoren haben sich mit dieser Frage auseinandergesetzt. „Sind alle, die zu der im Glaubensbekenntnis genannten Gemeinschaft gehören, Heilige? Menschen, die vollkommen fehlerfrei und tadellos sind? Kann man also von dieser Gemeinschaft der Heiligen sagen, dass alle in ihr besonders weise, fromm und gut sind und dadurch Gott selbst ähnlicher als andere?“

Der Apostel Paulus schreibt dazu im 2. Korintherbrief 1: Gott ist’s aber, der uns fest macht samt euch in Christus und uns gesalbt und versiegelt und in unsere Herzen als Unterpfand den Geist gegeben hat.
Gott ist es, der den Menschen in seiner Unvollkommenheit heiligt. Christen sind Teil einer Gemeinschaft, die in Beziehung zu ihm steht. Und diese Gemeinschaft ist nicht irgendeine Gruppierung, sondern ein Gebilde, das durch Christus begründet ist und in dem er selbst gegenwärtig ist. Als solche leben Christen dennoch in dieser Welt. Die Vorstellung von der Besonderheit des christlichen Lebens und Handelns in der Welt, von einem Handeln, das sich von dem aller übrigen Menschen grundlegend unterscheidet, hat zweifellos zunächst etwas Bestechendes. Denn „der Christ“ empfängt ja das Gesetz seines Handelns nicht von der Welt, sondern von Gott. Ihm ist etwas anderes geboten, z. B. seinen Feind zu lieben, Gutes zu tun, ethisch „korrekt“ zu leben etc. Dieses Besondere stellt das christliche Handeln zweifellos in einen Gegensatz zur Welt.

Trotzdem ist sich der Christ seiner Situation sehr bewusst. Er weiß, dass er in dieser Welt, solange er darin lebt, Fehler begehen wird. Davor schützt ihn sein Glaube nicht, aber in und durch seinen Glauben kennt er die Liebe und die Gnade Gottes. Martin Luther hat diesen Zwiespalt in der bekannten Formel „simul justus et peccator“ – zugleich ein Gerechter und ein Sünder – festgehalten. Diesem Sachverhalt begegnen wir auch schon in der Heiligen Schrift. Der Gott, den Jesus Christus verkündigt hat, hat nicht scheinbar Perfekte oder Selbstgerechte zu Mitarbeitern berufen, sondern fehlbare Menschen wie dich und mich. Gottes Liebe und Ruf durchdringen jedoch alles. Selbst das Schwache und scheinbar Unpassende oder Unbegabte kann Gott in seinen Dienst nehmen.

Was für den Einzelnen gilt, das gilt nach evangelischem Verständnis auch für die Kirche. Auch die Kirche, also die heilige christliche Kirche, als Einheit ist zugleich Sünderin als auch Gerechtfertigte. Hier zeigt sich die Bedeutung der reformatorischen Botschaft von der Rechtfertigung allein aus Gnade. Als Gemeinschaft der Gläubigen ist die Kirche unsichtbar und unter ihren Fehlern verborgen. Die wahre heilige christliche Kirche ist in dieser Welt verborgen. Sie wird sichtbar z. B. in der Gemeinschaft des Wortes oder im Abendmahl. So wird zwischen der sichtbaren und unsichtbaren Kirche gesprochen.
Wie können wir uns das konkret vorstellen? Was ist damit gemeint? Ein gutes Bild wäre eine Baustelle. Auf einer Baustelle wird gearbeitet. Dort wird gemessen, abgetragen und errichtet. Gräben entstehen und Arbeiter laufen mit ihrem Werkzeug hin und her. Allerdings kann der Betrachter dieser Baustelle schon jetzt sehen, wie schön am Ende alles sein wird. Er hat das Bild, wie es einmal sein soll, klar vor Augen. Und jeden Morgen, wenn er sich die Baustelle ansieht, freut er sich auf das, was einmal sein wird. Etwa so können wir verstehen, was die Reformatoren mit der sichtbaren und unsichtbaren Kirche meinten. Die Kirche ist immer eine unvollkommene Kirche (sie ist Teil dieser Welt). Und sie ist gleichzeitig eine vollkommene Kirche, denn in ihr, im Wort Gottes, im Abendmahl und in der Gemeinschaft der Liebe ist Gott selbst erkennbar. Dort ist sie vollkommen und unfehlbar.

Wenn wir nun vom nächsten „Skandal“ hören, von Geldmissbrauch, von schlechtem Umgang mit der Umwelt, mit dem Kulturerbe, von manchem Taktieren mit politischen Institutionen, ganz zu schweigen von den Dingen, die die Kirche in der Vergangenheit auf sich geladen hat, gilt noch immer, was Martin Luther sagte: „In Christi Wort ist die Kirche heilig und gewiss, außer Christi Wort ist sie gewiss eine irrige, arme Sünderin, doch unverdammt um Christi willen, an den sie glaubt.“
Kirche ist immer auf dem Weg: Mit dem vollkommenen Bild vor Augen ist sie Gemeinschaft der Heiligen auf dem Weg zur Vollendung.