WORT ZUM SONNTAG: Stützestab oder Stabbrecher?

Wenn in früheren Zeiten ein Schwerverbrecher zum Tode verurteilt wurde, las man ihm das Urteil vor. Um diesem Urteil augenscheinliches Gewicht zu verleihen, brach der Richter einen Stab entzwei. Diese Geste ging in unseren Wortschatz ein. Wollte jemand ausdrücken, dass er mit einer anderen Person nichts mehr zu tun haben wollte, sagte er: „Ich habe über ihn den Stab gebrochen!“ In diesem Sinne werden täglich Millionen von Stäben gebrochen. Im Lukasevangelium wird berichtet, dass ein Pharisäer Jesus zu einem Mahl eingeladen hatte. Während des Mahles trat eine stadtbekannte Dirne in den Speisesaal. Sie kniete zu Füßen Jesu nieder und wusch mit ihren Reuetränen den Staub ab, trocknete sie mit ihren Haaren und salbte sie mit Salböl. Der Gastgeber war empört. Er, der fromme Mann, hatte schon längst den Stab über sie gebrochen. So handelten alle Pharisäer, die sich die „Reinen“ nannten. Jesus brach nicht den Stab über sie, ganz im Gegenteil, er sagte zu dieser Frau: „Deine Sünden sind dir vergeben! Dein Glaube hat dich gerettet! Gehe in Frieden!“ Das sagte er zu einer stadtbekannten Dirne. Zu dem gesetzestreuen Gastgeber sagte er dieses beglückende Wort nicht. Wer den Stab über andere Menschen bricht, ist nicht würdig, dieses Gottesgeschenk zu empfangen.

Schon der Prophet Jesaias sagte über Jesus voraus: „Seht, das ist mein Knecht, den ich stütze, das ist mein Erwählter, an ihm finde ich mein Gefallen. Ich habe meinen Geist auf ihn gelegt, er bringt den Völkern das Recht. Das geknickte Rohr zerbricht er nicht und den glimmenden Docht löscht er nicht aus!“ Jesus hat über keinen Sterblichen den Stab gebrochen. Empört fragten die gesetzeseifrigen Pharisäer seine Jünger: „Warum isst euer Meister mit Zöllnern und Sündern?“ Sie selber hatten schon längst den Stab über diese Sorte von sündigen Menschen gebrochen. Als Jesus das hörte, erklärte er: „Nicht die Gesunden brauchen den Arzt, sondern die Kranken. Lernt verstehen, was es heißt: ‘Erbarmen will ich und nicht Opfer!’ Denn ich bin nicht gekommen, Gerechte zu berufen, sondern Sünder!“
Damit hat uns Christus vorgelebt, wie wir mit unseren Mitmenschen, umgehen sollen, die kein vorbildliches Leben führen und mit den Geboten Gottes gebrochen haben.

Auch wir selber sind doch schwache Menschen. Heißt es doch im „Buch der Sprichwörter“ (24,16): „Siebenmal fällt der Gerechte und steht wieder auf!“ Schlüpfen wir deshalb nicht in die Rolle des „Stabbrechers“. „Jeder hat seine eigene Last zu tragen“, stellt der Apostel Paulus im Galaterbrief fest. Steigen wir vom Richterstuhl herab. Der große Menschenkenner Ignatius von Loyola sagte: „Um seinen Mitmenschen nach Kräften zu helfen, müsste jeder gute Christ die Einstellung haben, dass er die Auffassung der anderen zu verstehen und zu würdigen, nicht aber von vornherein zu verurteilen trachtet!“ Unser gemeinsames Leben wird um vieles besser sein, wenn wir unseren Mitmenschen lieber ein Stützestab statt ein „Stabbrecher“ sein wollen. Wir haben die Stütze Gottes tagtäglich nötig. Heißt es doch im Psalm l8: „Du bist meine Stütze und meine Zuflucht!“ Richten wir unser Tun und Lassen nach den Worten Christi: „Seid barmherzig wie auch euer Vater barmherzig ist!“ Legen wir das „Stabbrechen“ für immer ab. Stützen ist ungleich besser als brechen.