WORT ZUM SONNTAG: Vorurteile abbauen

Wir Menschen kommen als „unbeschriebenes Blatt“ auf die Welt. Auf dieses Blatt tragen Eltern, Erzieher, Freunde, Verwandte, andere Menschen und natürlich auch wir unser Wissen und unsere Erfahrungen ein. So entstehen unsere Bewertungen und Urteile über andere Menschen. Der römische Dichter und Menschenkenner Cicero (106 – 43 v. Chr.) war der Meinung: „Die meisten Menschen werden im Leben bestimmt durch Liebe und Hass, Neigung und Abneigung, Hoffnung und Furcht. Die wenigsten urteilen nach der Wahrheit!“ Hat er recht?

Wir neigen dazu, „Vorurteile“ zu bilden, positive und negative. Menschen, die wir lieben, sind uns sympathisch, wir sehen fast nur ihre guten Seiten und entschuldigen leicht ihre Fehler. Bei uns unsympathischen Leuten sehen wir vorzüglich negative Eigenschaften, stellen ihre Fehler groß heraus und lassen für ihre Entgleisungen keine Entschuldigungen gelten. Den Freunden sind wir ein großzügiger Gönner, den Feinden ein erbarmungsloser Richter.

Fabeldichter legen Tieren unsere Einstellungen bei, um zu zeigen, wie wir sind. Zwei Beispiele: Der Adler hörte viel Rühmens von der Nachtigall und hätte gern Gewissheit gehabt, ob alles auf Wahrheit beruhe. Darum schickte er den Pfau und die Lerche aus. Sie sollten ihr Federkleid betrachten und ihrem Gesang lauschen. Als sie wiederkamen, sprach der Pfau: „Der Anblick ihres erbärmlichen Kittels hat mich so verdrossen, dass ich ihrem Gesang nicht zugehört habe“. Die Lerche sprach: „Ihr Gesang hat mich so entzückt, dass ich vergaß, auf ihr Federkleid zu achten“.

Ein Eichelhäher fand auf seinen Streifzügen ein kunstvolles Nestchen. Er bewunderte es. Als er aber erfuhr, der kleine Zaunkönig habe es erbaut, lachte er höhnisch und rief: „Welch erbärmliches Machwerk!“ Da gewahrte er auf einer Felsplatte einen Haufen zusammengeworfenen Gestrüpps mit Heu und Federn in der Mitte. Als ihm gesagt wurde, dies sei das Nest des Adlers, rief er voll Bewunderung aus: „Welch ein kunstvoller Bau!“ Erkennen wir uns in diesen gegensätzlichen Urteilen nicht selbst?

Auch wir werden oft von unseren „lieben Mitmenschen“ gegensätzlich beurteilt. Jeder der irgendwie ins „Rampenlicht der Öffentlichkeit“ gelangt, muss damit rechnen, dass sein Tun und Lassen sowohl positiv wie auch negativ von unserer Umwelt beurteilt wird. Selbst Christus, der Einzige, der sündenlos durch diese Welt gegangen ist, blieb von dummen und bösen Anschuldigungen nicht verschont. Seine Landsleute von Nazareth hätten doch stolz sein müssen, dass dieser Jesus, der in ihrer Mitte herangewachsen war, nun ein so großer Prophet geworden ist. Sie waren es nicht und redeten abträglich über ihn. Und erst jene, denen das sündenlose Leben Jesu zur Anklage ihres eigenen Lebens wurde, suchten ihn mit allen Mittel zu verleumden. Sie nannten ihn einen Fresser und Säufer und seine Wunderkraft verdanke er Beelzebub, dem obersten Teufel.

Wie unterschiedlich wurde er beurteilt: Viele riefen ihm begeistert zu: „Hochgelobt sei, der da kommt im Namen des Herrn!“ Andere grölten voller Hass: „Ans Kreuz mit ihm!“

Über uns, den „kleinen Mann“ und die gewöhnliche Frau, werden wohl öfter von unseren Mitmenschen gegensätzliche Urteile gefällt, aber so sehr wie Christus werden wir nicht verkannt werden. Nur großes Licht wirft großen Schatten. Wir aber sind nur kleine Lichter.

Wir müssen unsere Vorurteile abbauen. Nur so werden wir unseren Mitmenschen gerecht. Gebrauchen wir bei unseren Freunden nicht das Fernrohr, um ihre positiven Seiten zu entdecken, und benützen wir bei den uns Unsympathischen nicht das Mikroskop, um auch ihre kleinsten Fehler zu vergrößern. Versuchen wir, allen Menschen, mit denen wir zu tun haben, gerecht zu werden. Bauen wir die „Berliner Mauer unserer Vorurteile“ ab. Das wird uns nur dann gelingen, wenn wir unseren Beurteilungen immer eine Prise Sympathie und Nächstenliebe beimischen.