Zuhause unterwegs

Meist unbekannte oder unbeachtete parallele Welten in unserem Land dokumentiert

Das Teleleu-Duo in der „Redaktion“ im Wohnwagen.

Elena Stancu mit den Darstellern ihres Dokumentarfilms „Ultimul căldărar“. „Wir haben uns in die Gemeinde integriert, bis wir angepasst waren, wir sind einige von ihnen!“, sagt Elena Stancu.
Fotos: Cosmin Bumbuţ/teleleu.eu

Das als „Teleleu“ bekannte Fotojournalisten-Duo Elena Stancu und Cosmin Bumbuţ haben ihre Redaktion seit vier Jahren in einen Wohnwagen verlegt. Ständig auf Reise durch das Land, lernen sie Menschen und deren Geschichten kennen und versuchen, „das Rumänien unserer Tage zu verstehen“, wie sie selber sagen. So erfahren sie im Detail von krasser Armut, unvorstellbarer Gewalt, ausgegrenzten Gemeinschaften wie Gefangene, Behinderte, Obdachlose oder Roma.

Auf ihrer Internetseite teleleu.eu und im erst kürzlich erschienenen Band „acasă, pe drum. 4 ani teleleu“ (deutsch: Zuhause, unterwegs. 4 Jahre Teleleu) bringen sie in einem ausgezeichneten Schreibstil und Fotografien, die zum Nachdenken auffordern, brennende Probleme unseres Landes zum Vorschein, haben sie doch auch eigene Lösungsvorschläge parat. Im Gegenzug zu diesen Themen kann man Reisereportagen aus Kuba, Griechenland oder der Türkei genießen, wo die beiden die kalte Jahreszeit verbringen.

Ende des vergangenen Jahres wurde der Band „acasă, pe drum. 4 ani teleleu“ / (Teleleu heißt soviel wie zwecklos hin und her gehen) von Elena Stancu und Cosmin Bumbuţ im Humanitas-Verlag herausgegeben. Seine Autoren haben das Buch in mehreren Städten vorgestellt, unter anderen in Kronstadt/Braşov, wo die Humanitas-Bücherei rappelvoll war. Von 383 Seiten sind fast 160 mit Fotografien, der restliche Teil ist Text. Die Geschichten wechseln sich ab, sodass nach fesselnden, manchmal erschütternden Berichten aus Rumänien Urlaubsgeschichten erfreuen. Alle Beiträge der beiden gibt es auf ihrer Internetseite Teleleu.eu.
 

Unabhängiger Journalismus. Dokumentarfotografie

Was sofort an den Inhalten, die Stancu und Bumbu] vorstellen, auffällt und betrachtenswert ist, ist die gründliche Recherche und die Nähe zu den Menschen, die sie zeigen. Die beiden schaffen es, einen derart tiefgründigen und respektvollen Blick in die Seelen und Probleme der Gesprächspartner zu bieten, dass man sich selbst vor Ort fühlt und regelrecht den Atem der Gesprächspartner spürt.

Die wochen-, manchmal monatelangen Recherchen und die Freiheit, nur das zu dokumentieren, was ihnen am Herzen liegt, hat sie die Gemütlichkeit einer Wohnung und einer festen Arbeitsstelle gekostet, doch zeigen sie keine Reue. Sie leben von Stipendien für Journalismus und von Abos für Postkarten. Cosmin sendet zweimal im Monat eine von ihm signierte Postkarte an Abonnenten. Die Postkarten sind Bilder aus seinem Fototagebuch von unterwegs.

Es ist zwar nicht leicht, immer wieder ein- und auszupacken, Wasser und Stromanschluss zu finden oder Flöhe zu bekämpfen, die von unterwegs mitgekommen sind. Doch hat sich das Teleleu-Duo an dieses Leben gewöhnt und ist stolz auf seine ausgewogenen Berichte, die sie in den rumänischen Mainstream-Medien weder dokumentieren noch veröffentlichen hätten können.
 

Niemand mischt sich ein

Elena Stancu und Cosmin Bumbuţ tragen die Geschichten, manchmal auch die Sorgen und Gedanken der Menschen, mit denen sie gesprochen haben, in sich. So auch jene von Maria. Sie ist ein Opfer häuslicher Gewalt. Die Schläge ihres Ehemanns Dumitru gehören zu ihrem Alltag. Ihre neun Kinder wachsen damit auf. Die Nachbarn bringen die Frau ab und zu ins Krankenhaus, wenn es ganz arg ist. Das Geschrei sind sie gewöhnt und dass Dumitru ihr Rippen bricht, sie mit der Zigarette verbrennt, ist für die Nachbarn auch schon gang und gäbe. Marias jahrelanger Alptraum wurde beendet. Dumitru hat sie zu Tode geschlagen. Danach hat er sich aufgehängt. Drei der Kinder haben die Leichen gefunden.

Offiziell sind in Rumänien 24 Prozent aller Frauen Opfer häuslicher Gewalt. Erheblich mehr Kinder erleben Gewalt daheim. Laut einer ausführlichen Studie der Organisation „Salvaţi Copiii“ (2013) geben 63 Prozent der Minderjährigen an, zu Hause geschlagen zu werden. Dabei sind Ohrfeigen und Bestrafung noch das Mildeste, was Elena und Cosmin gehört haben. Was Georgiana, ein 17-jähriges Mädchen, ihnen erzählt, scheint eher aus einem Krimi oder SF-Film zu sein: Ihr Vater schlug sie mit Fäusten, Füßen, Kabeln, Stöcken oder dem Hammer und band sie manchmal nachts im Wald an einen Baum unter der Androhung, sie dort zu lassen. Georgiana ist mehrmals von zu Hause geflohen und lebt seit dem 13. Lebensjahr in einem Jugendheim.

Die Journalistin und der Fotograf fragen sich mit Schmerz und Wut, warum es zu solchen Gewalttaten kommen kann? Warum greift niemand ein, kein Nachbar, kein Passant, kein Verwandter? Warum mischt sich, in solchen Fällen, niemand in die Familie eines anderen ein, warum lässt unsere Gesellschaft Gewalt zu?
 

Manchmal ist Zuhören die größte Hilfe

In den vier Jahren unterwegs sind Elena Stancu und Cosmin Bumbuţ immer wieder auf einen schmerzlichen Teufelskreis gestoßen: Armut, Mangel an Erziehung, Gewalt werden von Generation zu Generation weitergegeben. Wer mit Fäusten und Riemen erzogen wird, nicht schreiben und nicht lesen kann, weil die Gedanken vom Magenknurren übertönt werden, wer Eltern hat, die kaum mit den Kindern reden, da sie selbst weder Farben, noch Uhrzeit oder die Tage, Monate, Jahre kennen, oder nicht wissen, dass sie in Rumänien leben, scheint eine zum Scheitern verurteilte Zukunft zu haben. Für viele wird daher die Straße, das Gefängnis zum Alltag. Da hilft nur eine radikale Änderung des Erziehungssystems, sagen die beiden. Eine nationale Strategie, die „von oben“ her ausgeht und politisch umgesetzt wird, sei nötig. Das sei auch im Bereich Gesundheit, Sozialschutz usw. notwendig. Zeitweilige Hilfen von Nichtregierungsorganisationen oder gutmütigen Menschen, die zwar sehr willkommen und lobenswert sind, aber nur auf lokaler Ebene wirken, können die immensen Probleme des Systems nicht von Grund auf lösen und dauerhafte Wirkungen haben.

Bis zu dieser gründlichen Änderung des Systems versuchen die beiden, durch ihre Berichte etwas zu ändern, der Welt die Augen zu öffnen und, wo es geht, auch lokal zu helfen. Dabei sind das Zuhören und die Zeit, die sie ihren Gesprächspartnern widmen, oft die größte Hilfe.
 

Ein unzertrennliches Duo

Elena und Cosmin lieben einander. Das schreiben sie in ihrem Buch, das merkt man, wenn man sie trifft, das muss so sein, wenn man bedenkt, dass sie seit vier Jahren ununterbrochen zusammen sind. Meist auf den fünf Quadratmetern ihres Wohnwagens, der ihnen Heim und Redaktion zugleich geworden ist. Sie essen, schlafen, arbeiten, leben und leiden in ihrem neuen Zuhause. „Wir haben dieselben Angewohnheiten, dieselben Gedanken, wir haben zur selben Zeit Hunger, mögen die gleichen Menschen, haben dieselbe Herangehensweise vor Ort, hören dieselbe Musik, mögen dieselben Filme, werden zur selben Zeit müde, sagen dieselben Wörter gleichzeitig.“ Sie können nicht ohne einander leben, das steht fest.

Elena ist seit über zehn Jahren Journalistin, fünf davon hat sie bei der Glamour-Zeitschrift „Marie Claire“ verbracht, wo sie auch Chefredakteurin war. Ihre Berichte zu sozialen Themen wurden in „Dilema Veche”, „The Independent”, „Der Standard”, „Neue Zürcher Zeitung” oder „Süddeutsche Zeitung” veröffentlicht. Sie wurde mehrfach ausgezeichnet, unter anderem mit dem Preis des Balkan Fellowship for Journalistic Excellence oder mit dem Stipendium des „Carter“-Zentrums aus Amerika. Cosmin, ein sehr geachteter Fotograf hierzulande, ist seit über 15 Jahren freischaffend. Seine Mode- und Werbefotografien wurden in Zeitschriften wie „Tabu“, „Elle“ oder „Esquire“ veröffentlicht. „Bumbata“ (2013), sein Album über das Alltagsleben im Gefängnis von Aiud, wurde mehrfach preisgekrönt. Zu seinen zahlreichen Auszeichnungen kam 2015 der Sony World Photography Preis hinzu.

Zusammen hat das Teleleu-Duo im Jahr 2009 die Foto-Zeitschrift „Punctum“ gegründet. 2016 hat es seinen ersten Dokumentarfilm produziert und gedreht, „Ultimul căldărar“/„Der letzte Kesselschmied“, Gewinner mehrerer Preise bei internationalen Dokumentarfilm-Festivals. Zurzeit arbeiten Elena und Cosmin an einem neuen Dokumentarfilm und weiterhin an den Geschichten über das „tiefgründige“ Rumänien.