Auf dem Jakobsweg

Montpellier – wo Südfrankreich ungeahnte Geschichten erzählt

Urige Atmosphäre in den Gässchen.

Faustgroßer Knoblauch

Und hier geht die Pilgerschaft weiter, Montpellier bleibt ein Stück auf dem Weg.
Fotos: die Verfasserin

Man ist und ist nicht am Mittelmeer. Montpellier, die Hauptstadt von Languedoc-Roussillon, liegt gerade 10 Kilometer vom Mittelmeer entfernt, hat aber dafür die schöneren Strände. In Auto- oder Staßenbahnnähe, nicht so voll und nicht so organisiert wie Nizza oder Cannes, aber dafür mit grauem Sand, handgroßen Muscheln, dem Geruch von Meer und viel Frieden, Freiheit, Luft. Da liegen die Touristen nicht eng aneinandergereiht auf dem Strand, parallel zur „Promenade des Anglais“, da stößt man mit dem Fuß nicht gegen taubeneigroße Steine, es gibt weder ein prunkvolles „Negresco“, noch Casinos oder ein Festivalzentrum. Es sind kleine, meist weiße Häuser, auf der Straße parallel zum Meeresstrand sehr adrett aneinandergereiht.

Montpellier ist nicht nur Meeresnähe, sondern auch Geschichte und Moderne. Oder sollten wir lieber Futurismus sagen, denn das Viertel, in dem unser Hotel steht, glänzt nur so vor Metall, Beton und Plexiglas. Und die Gebäude sind – jedes mit seinen architektonischen Eigenheiten – Hingucker für den Touristen, dem auch dieser Architekturstil naheliegt. So zum Beispiel eine Mall, durch deren Mitte die Straßenbahn fährt. Schulen oder Kindergärten, die überdimensionalen, modernen Kunstinstallationen ähneln  - die Schule ist zwar attraktiv, doch für die Kleinsten würde ich persönlich einen Kindergarten vorziehen, der etwas heimeliger wirkt.

Und dann ist da das geschichtsträchtige Montpellier. Mit einer der ältesten Medizinhochschulen Frankreichs und der Welt  - schon im 12. Jahrhundert hat der damalige Herr von Montpellier, Wilhelm der VIII., das Edikt unterschrieben, das allen Ärzten unabhängig von der Religion das Recht erteilte, Medizin zu unterrichten - und dem ältesten botanischen Garten Frankreichs, anno 1593 angelegt, eingangs für das Studium der medizinischen Pflanzen. Mit makabren Elementen wie der Anatomiesammlung oder aber mit floralen Elementen, die die Parkanlagen bieten, mit religiösen wie die Kathedrale „Saint Pierre“, deren Westfassade eher einer Burg ähnelt oder mit den malerischen Elementen des Kunstmuseums Fabre, das sehr kokett wirkt.

In Montpellier sind auch die Straßenbahnen bunte Kunststücke und schlittern fast lautlos gemütlich durch die Stadt, die etwas von dem mediterranen „Joie de vivre“ hat, das sich zum Beispiel darin zeigt, dass die Studenten sich auf dem Campus der Universität „Montpellier 3“ in das satte Grün hineinsetzen, um zu plaudern oder zu lesen. Und wenn es sonnig ist – es ist oft sonnig in Montpellier, erinnern die Palmen an die geographische Lage.

Der etwas andere Blickwinkel

Der Stadtplan gibt aber außer dem Grau der Straßen und den bunten Straßenbahnlinien eine punktiere blaue Linie an, die etwas ganz Besonderes darstellt und nicht auf vielen Stadtplänen zu sehen ist: Montpellier befindet sich auf einer Route, die seit Jahrhunderten bekannt ist, aber erst vor Jahren wieder in die Schlagzeilen gerückt ist.

1987 rief der Europäische Rat dazu auf, die Jakobswege neu zu beleben. Jahrhundertealt und 700 Kilometer lang – das Ende der 1980er Jahre teilweise vergessene Wegenetz gehört eigentlich zur europäischen Kultur und sollte allein schon deshalb nicht überwuchert werden. Damit begannen sich Lokalbehörden, Institutionen, Regierungen und Vereine zu befassen. Man begann, sich an alte Bräuche zu erinnern und sie wiederzubeleben. Und jedes Jahr machen sich wieder unzählige Menschen auf den Weg.

Nicht zuletzt verdankt man dem brasilianischen Bestsellerautor Paulo Coelho, dass der Sankt-Jakobsweg, der Pilgerweg ins spanische Santiago de Compostela, in den letzten Jahren mit erneutem Schwung begangen wird. Ob es nun der Glaube und die Hoffnung oder die Neugier und die Abenteuerlust sind, die sie dazu führen, die heutigen Pilger betreten den jahrhundertealten Weg mit gewissen Erwartungen. Am Ende steht fast immer eine Erleuchtung und oft auch eine Läuterung.

Montpellier liegt an der Via Tolosana. Wer diesen von den vier großen Jakobswegen, die durch Frankreich in Richtung der Pyrenäen führen, einschlägt, muss die Stadt durchqueren, die Altstadt und sicherlich einige der schönsten Bauten darin sehen. Und andere wiederum links liegen lassen. Denn ein Pilgerweg sucht die ältesten, aber weniger belebten Nebenstraßen, lässt das bunte Treiben in anderen Stadtvierteln unerkundet und dem Pilger mehr Zeit für die Introspektion und den Dialog mit Gott.

Das ist der Blickwinkel, aus dem wir die Altstadt Montpellier betrachten werden. Der Pilgerweg aus Nîmes betritt die Stadt im Nordosten, bis er auf „Le Corum“ stößt, das Kongresspalais, wo ich das Schlendern, Begehen oder Pilgern durch Montpellier beginne. „Le Corum“ ist ein modernes Gebäude an einer Ecke der Esplanade „Charles de Gaulle“, die auf einer Seite von dem „Jardin du Champ de Mars“ und auf der anderen von dem Boulevard de Bonne Nouvelle flankiert wird, am Ende mit dem Place de la Comédie und dem Operngebäude gekrönt. Aber das ist nichts für Pilgeraugen, wir lassen dies alles links liegen und begeben uns auf Gässchen, die parallel zu dieser Promenade verlaufen: winklig, nett, verschlafen und vor allem geschichtsschwanger.

Hier hört man fast nichts von dem Lärm. Hier sieht man keine Clochards. Diese Straßen werden auch meist nicht von Autos befahren, nur hie und da brummt ein Moped vorbei. Schon das erste Gebäude ist ein historisches Monument: „L’Ancien Logis du Chapeau Rouge“ ist ein Hotel aus dem 15. Jahrhundert, das während der Französischen Revolution diesen Status verloren hat. Dieses Gebäude haben viele Pilger auf ihrem Weg gesehen. Wo die Straße sich verzweigt, finden wir auch zwei Tafeln am Straßeneck: „Hier hat der Überlieferung nach der arme Rochus, erschöpft von Müdigkeit, bei seiner Rückkehr auf einer Bank angehalten und ist festgenommen worden“. In Montpellier ist der heilige Rochus besonders beliebt.

Kirchen, Zitrusbäumchen, Sandstein

Die schmalen Gässchen lassen einer kleinen Place Platz, ein paar Bäume, durch deren Grün die Sonnenstrahlen nur einen Hauch von den 30 Grad Celsius verspüren lassen, karierte Tischdecken, ein Straßencafe, urig und ganz französisch. Und eine Kirche, die wir betreten, sind wir doch auf einem Pilgerweg: Es ist die „Notre Dame des Tables“ – die Geschichte geht bis 985 zurück, das Gebäude ist jüngeren Datums. Der Sandstein gehört hier zur alten Architektur wie die Sahne zur Schokotorte. Drinnen: Gebete auf Französisch und eine Tafel mit der Geschichte dieser Kirche.

Wieder draußen erinnert uns eine Metallplatte auf dem Gehsteig, dass wir uns auf „Le Camin Roumieu“ befinden, auf einem der Pilgerwege. Schauen wir nach oben, so erinnern uns die Mini-Zitrusfrüchte und blauen Blumen auf den Fensterbänken daran, dass das Mittelmeer so fassbar nahe ist.

Weiter geht es und die Straße weitet sich plötzlich, wir sind auf einem Platz angelangt, wo etwas unfassbar Schönes und ebenfalls „très français“ passiert: Einen „troc livres“ haben sie das genannt, einen Büchertausch. Hier werden Bücher noch liebgehabt und ausgetauscht, Lesen hat mit Sozialisation zu tun. Auf diesem Platz gibt es aber auch ein Postgebäude und wir suchen schließlich nach Briefmarken für die Briefmarkensammlung meines Sohnes. Briefmarken sind eine Rarität heute und werden vermehrt funktionsmäßig bedruckt: nur die Funktion sieht man dabei, lieblos, ohne viel Aufwand, ohne eine andere Bedeutung als die funktionelle, aber hier finden wir zum Beispiel eine Serie mit „Papa Noël“, dem Weihnachtsmann! Der Mann, der uns bedient, hat weiße, krause Haare, trägt eine Brille und hat so etwas wie Künstlerflair.

Noch ein Stückchen weiter laufen. Die „Halles Castellane“, den Marktplatz, lassen wir uns nicht entgehen, denn faustgroßen Knoblauch und appetitliche Zitrusfrüchte wollen wir auf jeden Fall sehen.

Eine Teestube, in der man Teesorten „du monde“ – aus aller Welt sozusagen - bekommt und einen Laden mit funky Küchenaccessoires, die dieses Herz der Wohnung wie eine Pop-Queen aufputscht: Prinzessinnen mit Sieben statt Röcken, nickende Koalas – die Timer, die jedem Kinderherz nahe stehen und… dieses Man-muss-sie-einfach-haben-Gefühl. Und Parfümerien, die bis in die Straße Duftwallungen schicken.

Doch diese „Bohème“ haben wir schließlich hinter uns, wir betreten das Boulevard du Prof. L. Vialleton mit einigen Straßenarbeiten, der Weg ist mühsamer, wir konzentrieren uns nur darauf. Und kommen endlich zu dem „Place Royal du Perau“, einem Platz wie eine Parkanlage, mit der Statue des Ludovico Magno in der Mitte und Bänken: Familienidylle und Tummelplatz für Junkies in einem, viel Grün und viele Sandsteingebäude.
Wir überqueren diesen Platz und schauen von oben in die Ferne. Da liegt sie vor uns - die Landschaft, die einen weiter bis nach Compostela begleitet: weit, offen, mit kleinen Ortschaften versetzt und mit Kirchen und Bergen  am Horizont.

Die Via Tolosana wird sich bald mit ihren drei bekannteren, aber weniger wilden und abenteuerlichen Schwestern - Via Podiensis, Via Turonenis und Via Lemovicensis - auf dem Camino Frances treffen, dem letzten großen Abschnitt auf dem Weg nach Santiago.