Begegnung im stumpfen Turm

Eine etwas andere historische Betrachtung von Salonta...

Der stumpfe Turm oder Ciunt

....über dem Eingang thront der Schriftsteller Janos Arany...

ein Fassadenbild mit Arany, Petöfi und dem Turm

Touristischer Schilderwald - doch leider nur Zeit für einen Besuch im stumpfen Turm

Das „Slavia“ - ein schmuckes Gebäude und historisches Hotel der lokalen slowenischen Minderheit, die sogar ein Konsulat in Salonta unterhält.

Im Arbeistzimmer von Janos Arany
Fotos: George Dumitriu

Es gibt jenseits der materiellen Welt noch eine andere, eine parallele Welt,  in der die Konzepte von Raum und Zeit keine Rolle mehr spielen: Es ist das Reich der Ideen. Wenn sich Ideen bewegen - also den Zeitpfeil rauf und runter gleiten oder springen, von unserem Bewusstsein geschoben, sanft gezogen oder auch kraftvoll gestoßen, werden sie zu  Gedanken. Gedanken ziehen ähnliche Gedankengebilde an und stoßen widersprüchliche ab. So strukturiert sich in dieser Parallelwelt eine andere, unsichtbare Art von „Realität“.

Doch halt! Was hat das alles mit Salonta zu tun? Nun, das soll Janos Ihnen erklären - mein Begleiter auf dem Spaziergang durch die geschichtsträchtige kleine Stadt nahe der ungarischen Grenze...

Auf dem ehemaligen Marktplatz, der Piaţa Libertăţii, zeigen Wegweiser in alle Richtungen. Die verschlafene 17.000 Einwohner-Stadt kann man gut zu Fuß erkunden, entsprechend gibt es mehrere touristische Routen. Im Zentrum gab es bis zu den 60er Jahren den Markt, heute befindet sich dort ein Park. Am historischen Hotel „Slavia“ vorbeikommend, fällt mein Blick auf die ausgehängte Speisekarte: Mit großen Lettern wird als Spezialität das „Menü von Johannis“ angepriesen. Ob der Präsident hier wirklich mal Schweinshaxe mit Bratkartoffeln verspeist hat? Die Kellnerin lacht und gibt zu, es handelt sich um einen Werbegag. Dem ausgewiesenen Audioweg kann ich aus technischen Gründen nicht folgen. Wer kein Smartphone hat, den bestraft das Leben...


Galanter Begleiter

Und während ich ein wenig ratlos herumstehe, spüre ich es zum ersten Mal: Zieht da nicht jemand ganz sanft an meinem Ärmel? Die Touristengruppe bewegt sich ein paar Häuserzeilen weiter. Unsere Blicke bleiben an einer Fassade hängen. Zwei Männer und ein Turm sind darauf abgebildet. Überlebensgroß. Darunter steht in geschwungenen Lettern: Arany Janos und Petöfi Sandor. Was hat es damit auf sich? Und wo ist dieser Turm? Ich hätte nicht so laut denken sollen, denn mit einem Ruck löst sich eine der  Gestalten aus dem Bild... Die Stimme des Reiseführers verhallt. Wo sind auf einmal die Autos? Wo die anderen Leute?

„Pssst!“ Der Mann legt sanft den Finger auf den Mund und bedeutet mir, ihm zu folgen. „Nur eine halbe Stunde...“ Verzweifelt sehe ich mich nach der Gruppe um. Kann ich mich diesem Fremden anvertrauen? Schon zieht er am Vorhang, der unsere Realitäten trennt. „Es wird hier nur wie eine Sekunde sein“, beruhigt er mich, als wir die sich nach unten stark verjüngenden Sprossen der Zeitleiter hinabsteigen. Der Turm sei eine Art Zuhause für ihn, erzählt er -  und es gibt ihn heute noch. Ich könne ihn gerne besichtigen, später,  mit den anderen.

„1660“, erklärt Janos brüsk und öffnet eine Tür. Wir klettern aus dem Zeittunnel. Vor uns erhebt sich der stumpfe Turm! Mein Begleiter zieht mich ins Innere. Pferdehufe dröhnen heran, doch er scheint sich nicht daran zu stören. „Die Türken vor Großwardein“, meint er bloß mit einer abfälligen Handbewegung und klopft sich den Staub aus dem eleganten Mantel. „Das war lange vor unserer Zeit. In ihrer Realität sind wir bloß...ähm...“ „Gedanken?“ „Nenn es so, wenn du willst. Deine, oder meine heutige Welt sind für sie nur Phantasie, Traumbilder....völlig unzugänglich.“ „Und wie sind wir dann in die ihre eingedrungen?“ „Ich bin Schriftsteller!“, belehrt mich Janos ein wenig beleidigt. „Ist es nicht mein Job, die Welt der Phantasie zu beherrschen?“

Tête à tête im Wachturm

Mein Zweifel katapultiert mich augenblicklich zurück. „1332 wurde die Stadt Salonta erstmals erwähnt“, tönt die Stimme des Reiseführers. „Hier, das war der Wachturm, der Großwardein vor den Türkenangriffen warnen sollte. Er ist heute das älteste Gebäude der Stadt - und ein Museum für den Schriftsteller und Poeten Janos Arany.“ Er deutet auf die Statue am Eingang. „Janos!“ fällt es mir wie Schuppen von den Augen.

Amüsiert blickt dieser auf mich herunter. Zwirbelt schmunzelnd seinen Schnauzbart. „So geht das“, kommentiert er nur kurz, „ich sehe, du kannst das auch.“ Janos nimmt mich bei der Hand und führt mich drei Stockwerke hinauf in sein immer noch intaktes Arbeitszimmer. Ringsum sind all seine Bücher ausgestellt. Übersetzt in viele Sprachen - sogar Chinesisch und Russisch. „Gestatten, Toldi“, stellt er vor und der Genannte streckt freundlich nickend den Kopf aus einem Umschlag. „Mein erfolgreichster Zyklus“ kommentiert Janos und beginnt, die Geschichte von Salonta - und damit auch vonToldi - zu erzählen.

„Einige Kilometer von hier lag im Mittelalter die Burg Köleser, der Sitz des katholischen Erzpriesters. Darin gab es eine bedeutende religiöse Schule, in der Latein gelehrt wurde. In einem Papstdokument war erwähnt, dass in Köleser um 1332 fast 3000 Menschen lebten und in Salonta etwa 300. Als im 16. Jh die Türken einen Teil von Ungarn und 1566 die Burg von Gyula und das untere Kreischgebiet eingenommen hatten, mussten die Festungen Großwardein, Köleser und Ineu eiligst verstärkt werden. 1598 beschloss Sultan Mehmed III.  dann die Eroberung von Großwardein! Es ist ihm nicht gelungen - doch aus Rache zerstörte er Köleser und 22 Dörfer ringsum.

Darunter auch Salonta. Nur die Menschen aus Salonta überlebten - dank des Fürsten Istvan Bocskai, der seine Leibeigenen, die ihm einst zur Macht verholfen hatten, freiließ, damit sie sich im Wald verstecken konnten.
Im Frühling 1606 brachte Bocskai dann 300 Söldner aus der Moldau nach Salonta - Haidukken oder Haidones genannt - und ließ sie den stumpfen Turm zur Verteidigung errichten. Daraufhin kehrten auch die im Wald verborgenen Leibeigenen von Toldi zurück, in der Hoffnung, dort Schutz zu finden. So begann der Ort zu florieren und bald erlangte Salonta den Titel einer Stadt: Oppidum.“

„Der Entwicklung der Stadt bereitete 1658 der Angriff der Tataren ein jähes Ende“, fährt Janos fort. „Nach der Eroberung der Festung von Großwardein durch die Türken, die bislang wegen ihres mit heißem Thermalwasser gefüllten Grabens als uneinnehmbar galt, flüchteten auch die Bürger Salontas nach Sathmar/Satu Mare oder versteckten sich in den nahen Sümpfen.Die Müllerin an der Schleuse hatte den Türken verraten, wie man das Wasser ablässt, um ihre entführten Kinder wiederzubekommen...“

„Janos, wieviel Zeit bleibt uns noch, bis die anderen meine Abwesenheit bemerken?“ „Oh, du meine Güte!“ verdunkelt sich sein Gesicht. „Ich kann es mir nicht abgewöhnen, historische Lektionen zu erteilen. Schon mit 14 verdingte  ich mich  als Hilfslehrer, um mir mein Studium zu verdienen. Später  kehrte ich als Lehrer nach Salonta zurück. Doch der schriftstellerische Erfolg ließ auf sich warten, bis ich 1845 endlich den ersten Literaturpreis erwarb. Dann begann meine eigentliche Karriere - dank Toldi!“ Wieder erhebt sich das Männchen aus dem Buch und verneigt sich ergeben vor seinem Schöpfer. 

„Janos - was soll ich schreiben über Salonta?“ wende ich mich ratlos an ihn. „Die Leute aus unserer Zeit interessieren sich nicht mehr für Geschichte. Sie wollen Abenteuer, Spannung, Erlebnis!“ „Lock sie her, und ich entführe sie in die Sümpfe der Vergangenheit“. Dann ruft er mit donnernder Stimme: „45.000 Türken vor Großwardein!“ Das Stampfen der Hufe kommt näher. Staub vernebelt mir dieSinne. Eine Windbö verweht meinen Hut. Aber - wo ist Janos geblieben?