Rom, Byzanz, Türkei, Israel und Hellas auf einmal? Thessaloniki!

Es muss nicht immer Athen oder Athos sein

Weitblick vom Turmdach Richtung Nordost auf das alte Thessaloniki, mit der Festung Eptapírgio links oben im Bild

Gläsern verschließbares Gitterfenster im Weißen Turm, mit Sicht nach Südwest auf das Mittelmeer

Einem Journalisten die Limits aufzeigen…

Auch die imposante Basilika Ágios Dimítrios, dem Soldatenheiligen und Schutzpatron der Stadt geweiht, wurde osmanisch als Moschee genutzt.

In seiner Neuen Synagoge feiert das jüdische Thessaloniki zweimal täglich Gottesdienst.

Die einzig unzerstörte der historischen Synagogen von „La Madre de Israel“ | Fotos: Klaus Philippi

Die Festung im Rücken und vorne byzantinische Stadtmauerreste

Thessaloniki ist Griechenlands größte Universitätsstadt. Leider steht der 1926 gegründete Campus auf dem Boden des früheren Jüdischen Friedhofs, dessen damals noch unberührt verbliebene Areale während des Zweiten Weltkriegs bis einschließlich heute entschädigungslos liquidiert wurden. Juni 2014 dagegen konnte, wenn auch reichlich spät, zentral auf dem Campus der Aristoteles-Universität zumindest ein Denkmal an die vormalige Nutzung des Geländes eingeweiht werden. Es trägt bereits offene Spuren seiner Kritiker. Mitte November 1973 war die Aristoteles-Universität ein Schauplatz des studentischen Aufstands gegen die 1974 gestürzte Militärdiktatur.

Bestimmt könnte er genauso gut auch auf andere balkanische und südosteuropäische Metropolen zutreffen, der ungefähre Eindruck gleich nach dem Ankommen in Griechenlands zweitgrößter Stadt: Tag und Nacht laut befahrene Hauptalleen, unheilbar chronischer Parkplatzmangel in allen engen Seitengassen und Grünareale, die den Hitzespeicher-Effekt stauender Wohnblock-Viertel zu mildern versuchen. Thessaloniki ist trotzdem eine Story für sich. Es liegt an der Ägäis, ohne der Sonne davoneilen zu können. Busfahrten oder lange Fußwege, was tut not? Letzteres, auch wenn es anstrengend wird. Seine alten Schätze gibt Thessaloniki erst mit einem Erlaufen der stickig modernen Großstadt frei. Die griechische Gemütlichkeit hat ja auch ihren Preis. Doch wer ihn gerne einlöst, kommt vielfach auf seine Kosten.

Ein schneller Blick auf die Straßenkarte der Innenstadt, und schon ist die Marschroute gefunden – in Thessaloniki erübrigt sich jedes Suchen nach Orientierung. Sämtliche Verkehrsadern und Straßen des übermächtig wirkenden Zentrums, worin sich das meiste vom Wichtigsten konzentriert, verlaufen kerzengerade. Und im Winkel von entweder 90 oder 45 Grad zueinander, wenn nicht parallel. So lässt es sich in der Tat simpel Kirchen, Museen, antiken Ruinen und archäologischen Ausgrabungsstätten auf die Spur zu kommen. Vorausgesetzt, man geizt nicht mit seiner Zeit. Kein Hotspot gleicht hier einem anderen. Für Stippvisiten ist Thessaloniki einfach viel zu groß.

Und zu schade. Am mächtigen Galerius-Bogen auf der Via Egnatia, den Anfang des vierten Jahrhunderts n. Chr. Roms Kaiser im Osten bauen ließ, lässt es sich noch vorbeischlendern, doch spätestens bei Eintritt in die Rotunde hält einen das frühchristliche Thessaloniki gefangen. Imperator Gaius Galerius Valerius Maximianus, der auf seinem Sterbebett die Politik von Mitkaiser und Christenverfolger Diokletian im Okzident für null und nichtig erklärte, wäre nur zu gerne in der Rotunde bestattet worden, die auf seinen Wunsch hin überhaupt erst entstanden war. Im antiken Rom wusste man, dass vom Thermäischen Golf bis an den Bosporus nur noch knappe 600 Kilometer auf der steinigen Via Egnatia zu zählen waren. Die 1700 Jahre Altersunterschied zum eintönigen Bild etlicher Wohnblocks, die sie flankieren, stehen der Rotunde bestens. Nichts kann ihr das Publikum verleiden.

Kein Zufall im orthodoxen Hellas, dass der Heilige Märtyrer Georg Namensgeber ihres Standorts ist: der Drachentöter als sonnenklare Antwort auf Diokletians historisch belegbare Schreckensreputation. Ob gleiches auch dem Minarett und der Zwangs-Umwidmung der Rotunde als Moschee von 1590 bis 1912 gilt? Regional und offiziell ist man spätestens seit dem Fall Konstantinopels 1453 sehr schlecht auf Türkisches zu sprechen. Der griechische moderne Nationalstaat formierte sich erst zwei Jahre vor Ausbruch des Ersten Weltkriegs; einfach viel zu mächtig war der osmanische Nachbar fast 500 Jahre lang gewesen.

Auf seinen Weißen Turm an der Uferpromenade jedoch, griechisch „Lefkós Pírgos“, ist Thessaloniki stolz. Er ist sein Wahrzeichen. Was der römischen Rotunde zum Glück nicht passierte, erlitt stattdessen der byzantinische Vorgänger des Weißen Turms – Totalabriss bald nach der türkischen Eroberung von Stadt und Land. Dennoch wird ihm keine Träne nachgeweint. Nachmittags, wenn die Abendsonne  Thessaloniki zu verwöhnen beginnt, ist das Panorama vom Weißen Turm unbezahlbar.

Politischer Knotenpunkt der Sonderklasse

Häufig alt und immer kostenlos offen, aber auch sehr heiß sind die Kirchen von Thessaloniki, dem historischen Mazedonien und leicht kühleren Nordgriechenland zum Trotz. Die Mosaiken dafür, einige unter ihnen aus frühchristlicher Zeit, sind es unbedingt wert, Platz im Gestühl zu nehmen und ausruhend umher und vor allem nach oben in die Kuppeln zu blicken. Hängt der typisch orthodoxe Duft nach frischem Weihrauch nicht übermäßig schwer im Kirchenraum, womit vor allem in kleinen Gotteshäusern zu rechnen ist, lässt sich die Schwüle leicht vergessen. Akklimatisierung erfordern da schon eher das konstant auf Wohnzimmertemperatur gehaltene Museum der Byzantinischen Kultur und sein Pendant am gleichen Platz der Innenstadt, das Archäologische Museum. Derart geschichtsträchtige Zentren wie Thessaloniki, das 1997 Europäische Kulturhauptstadt war, hat der Alte Kontinent für dieses Programm nicht gerade in Überzahl zur Verfügung.

Ohne die Brüder Kyrill und Method aus Thessaloniki, die noch vor Anbruch des 10. Jahrhunderts Völkerschaften etlicher Gebiete Zentraleuropas und des Balkans zum Christentum bekehrt hatten, würde besonders auch den slawischen Nationen abgehen, was sie spezifisch erscheinen lässt. Das Alphabet der glagolitischen Schrift inklusive der solitären Eigenheit in Kirche und Kultur verdanken Russland und seine Verbündeten Griechenland. Mit der Urkirche von Byzanz aber hat das, was Patriarch Kyrill I. in Moskau betont, nichts am Hut.

Ungleich permissiver die osmanischen Behörden ab 1430, die sich Mitte des 16. Jahrhunderts nicht weiter darüber aufregten, dass in Hellas Klöster wie Pilze aus dem Boden schossen und Fürsten der Moldau und Walachei dafür ihre Kassen öffneten. Weder wäscht das den türkischen Präsidenten Erdogan rein, noch lässt es seinen berühmten Vorgänger Atatürk, der in Thessaloniki zur Welt kam, als Wohltäter in Griechenlands Geschichte eingehen. Besucher aus Rumänien scheinen das Archäologische Museum von Thessaloniki nichtsdestotrotz für sich entdeckt zu haben und sind dort auch sehr gerne gesehen.

Kaum auf Verständnis stößt womöglich die kalkulierte Toleranz Rumäniens gegenüber der Türkei. Das weiß Griechenland besser. Genauso, wie es im letzten Winter auch wusste, diplomatisch mit seinem historisch bedingten Argwohn auf die Türkei zu brechen, und ihr mit einer Delegation Feuerwehrpersonal schnellstmöglich aushalf, Erdbeben-Verschüttete zu bergen. Im mediterranen Orient aber stand es um das Miteinander-Auskommen auf Dauer noch nie sorglos gut.

Zumal Griechenland selbst im Nachtrag des Ersten Weltkriegs und der Friedensverträge in Pariser Vororten die Türkei entgegen einer internationalen Vereinbarung militärisch aus der Reserve zu locken wagte, was die ihrem Nachbarstaat teuer heimzahlte. Nur liegt das bereits ein volles Jahrhundert zurück, und wer in Thessaloniki noch immer das gefährliche Pflaster von früher vermutet, könnte falscher nicht liegen. Die befestigte Eptapírgio (Griechisch für „Die Sieben-Türmige) am höchsten Punkt der Altstadt, von 1430 bis 1912 unter osmanischer Herrschaft „Yedi Kule“ genannt, wurde erst 1989 aus ihrer Gefängnis-Zweckbestimmung gelöst. Nicht genau bekannt ist, wann und von wem sie gebaut wurde; dafür hat sie das Schlimmste vom Schlimmsten einschließlich Karzer und Folter endgültig hinter sich: Zuchthaus in Zeiten osmanischer Gesetzgebung, Haftanstalt während der deutschen Besatzung im Zweiten Weltkrieg, Kerker des nationalen Bürgerkriegs bis 1949 und nicht minder politisches Gefängnis in den sieben Jahren der Militärjunta Griechenlands ab April 1967.

Heute betritt man die Eptapírgio zu gutem Euro-Tarif und kann sie jederzeit wieder unbehelligt verlassen. Die Erfüllung seines Traums von „Elefthería“, von Freiheit, wonach die Bushaltestelle am Hafen benannt ist, hat Thessaloniki sich sauer verdient. Irgendwann will der fröhliche Schlager „Thessaloniki mou, megáli ftochomána“, der sich zum ersten Mal Mitte der 50er-Jahre des vorigen Jahrhunderts anschickte, Gelassenheit zu verbreiten, ja auch amplifiziert bestätigt werden. Damit „mein Thessaloniki“ wirklich die „große Mutter der Bedürftigen“ bleibt.

Pflicht-Mitbringsel und Background-Vorsicht

Brennender Durst und quälender Unterzucker im Erkunden dieser etwa 2300 Jahre alten Stadt zu Fuß? Im gastfreundlichen Hellas, wo Wasser am Kiosk sehr günstig verkauft wird, kann es für die Sucht nach Süßem zwischendurch keinen besseren Ort geben – dem echt griechischen Hefezopf „tsouréki“ mit Kastanien-Püree-Füllung ist selbst bei vollem Magen schwer zu widerstehen. Die beste Variante des griechischen „cozonac“ in ganz Thessaloniki bäckt die 75 Jahre alte Konditorei „Terkenlis“ am Aristoteles-Platz, wo Heißhungrige die Wahl von handlichen bis ganz großen Portionen haben, alle mit weißer oder Vollmilchschokolade übergossen. Auch am Flughafen gibt es eine Filiale von „Terkenlis“, keine Angst. Außerdem wollen Einheimische aus Thessaloniki gewusst haben, dass man im Süden Griechenlands einen mit ihrem „tsouréki“ vergleichbaren Hefezopf nicht kreiert.

Unschlagbar auch das Kombi-Ticket zum Preis von 15 Euro für die Rotunde, den Weißen Turm, das Museum für Byzantinische Kultur und das Archäologische Museum, das drei Tage lang gültig ist und es erlaubt, fast 50 Prozent der vollen vier Besuchstarife einzusparen. Noch bevor sich die Idee aufdrängen kann, danach zu fragen, wird es bereits freundlich zum Kauf geboten. „Thessaloniki mou, megáli ftochomána.“

Die fünf Euro wiederum, die ein Kühlschrankmagnet im Shop des Jüdischen Museums von Thessaloniki kostet, sind nicht eben billig. Im selben Laden aber gibt es auch die feine CD „Unknown Musical Treasures of the Jewish Tradition of Greece“ inklusive polyglottem Textbuch, von Profisängerin Mariangela Chatzistamatiou und dem Pellegrinaggio al levante Ensemble im Museumsauftrag eingespielt. 72 Minuten Laufzeit für zehn Euro, also ein Muss in das Heimreise-Gepäck. Den forschenden Blick des bewaffneten Gendarmen an der Museumspforte, der sich das Innere von Taschen ohne Gegenwehr zeigen lassen will, braucht nicht zu fürchten, wer einzig und allein  touristisch unterwegs und bloß neugierig auf ein israelisches Stück Geschichte ist.

Im byzantinischen, im orthodoxen Griechenland ist Antisemitismus noch immer kein leichtes Thema. Ende März 2023 konnten in Athen zwei junge Männer aus Pakistan gefasst werden, die andernfalls ein jüdisches Zentrum traurig als Ort eines Massakers bekannt gemacht haben würden. Den Griechen selbst lässt sich zugutehalten, dass sie den geplanten Anschlag auf jüdische Mitbürger vereitelt haben. Die jedoch sind nachträglich vor allem der Türkei dankbar. „Mutter der Bedürftigen“ war Thessaloniki besonders für die Opfer christlicher Politiken im erzkatholischen Italien, Portugal und Spanien zu Ende des 15. Jahrhunderts. Gut 15.000 sephardische Juden in Thessaloniki aufzunehmen, bestätigte sich als ökonomisch vorteilhaftes Manöver vom Sultan.

Jüdische Zeittafel

Das hehre Renommee „La Madre de Israel“ allerdings begleitet die größte Stadt am Thermäischen Golf schon seit ihrer Gründung um das Jahr 315 vor Christus: in Thessaloniki zählten Juden bereits in antiker Epoche unter der römischen Oberverwaltung zur urbanen Bevölkerung. Ihnen, den „Romaniotes“, schenkt die vom Jüdischen Museum produzierte CD mehr als ein Drittel ihrer Gesamtspielzeit. Und sogar dem historischen Großbrand vom Rekordsommer 1917, der drei Viertel der Altstadt zerstörte, setzt sie ein Denkmal in drei  Strophen. Auf Spanisch. Die Weltsprache, die auf diesem Tonträger gemeinsam mit dem Griechischen an das KZ in Auschwitz und den Holocaust erinnert.

Was 1912 längst feststand, konnte auch der ganz neu von Athen aus gelenkte Nationalstaat nicht verdrehen: mehrheitlich war eindeutig das jüdische Thessaloniki. Noch zu Beginn des Zweiten Weltkriegs hatte „La Madre de Israel“ den größten Friedhof im Osten Europas. Seine faschistisch motivierte Schändung und totale Zerstörung fing im Dezember 1942 an. Niemand sonst als Griechen selbst schritten zum furchtbaren Akt, dem das nationalsozialistische Deutschland allein grünes Licht gegeben hatte. So mancher Grabstein wurde in folgenden Jahren völlig pietätlos neu zu anderen Zwecken verbaut – auch die Basilika Ágios Dimítrios beispielsweise, eine der größten Kirchen von Thessaloniki und dem Stadtbrand 1917 mit zum Opfer gefallen, enthält in ihren wiederaufgebauten Mauern und Wänden jüdische Grabmäler.

Ort des Neuen Jüdischen Friedhofs wurde das fast zentrale Viertel Stavroúpoli, wo im Ersten Weltkrieg auch 20.000 Franzosen, Briten, Serben, Italiener, Russen, Bulgaren und Griechen am Zéitenlik War Cemetery würdig bestattet wurden und noch heute ihre Ruhestätte haben.

Mehr als 50.000 Juden bezahlten den Holocaust in Thessaloniki mit KZ-Deportation und ihrem Leben, und fast sämtliche 60 Synagogen der Stadt wurden restlos vernichtet. Alle bis auf eine, die überlebte, weil das Rote Kreuz sie als Dienstzentrale beanspruchte. Spannend natürlich auch das Flair der Neuen Synagoge von Thessaloniki, der nach dem Zweiten Weltkrieg im Parterre eines Bürogebäudes Platz eingeräumt wurde, und wo seither die Jüdische Stadtgemeinschaft regelmäßig zusammenkommt. An der Wand stehen chronologisch aufgelistet die Namen all der historischen Synagogen, die es nicht in die Nachkriegszeit schafften. Aktuell leben in Thessaloniki über 1000 Juden, und bis zur 6. Klasse steht ihnen auch die Option offen, die Elementarschule auf Hebräisch zu besuchen. Und Samstag, am alttestamentarischen Sabbat, gibt es abends nach dem Gebet in der Neuen Synagoge die Agape, eine griechische Speisung Bedürftiger. „Thessaloniki mou, megáli ftochomána.“ Eine Großstadt von Welt, die nicht kleinmacht.