„Was ist denn das für eine Strandausstattung?“

Oder wie ich zur glühenden Verehrerin des Nordens wurde

Stürmische Erlebnisse am Nordseestrand: das verwehte Pünktchen bin ich.

Der Drachen kämpfte tapfer mit dem Wind.

Die Dünenvegetation – eine reiche Farbenwelt im Kleinen.

Als Abschiedstrost gab es Erdbeertorte mit Dänemarkdekoration.
Fotos: Christine Chiriac

Sommerferien an der Nordsee? Für mich Südmenschen war das zunächst unvorstellbar. Dieses Hvide Sande, von dem ich noch nie gehört hatte, ein winziger Ort am westlichen Rand Dänemarks, auf einer schmalen Landzunge zwischen dem Ringkøbing Fjord und dem Meer – „das liegt doch an der Grenze zum Nichts!“, dachte ich skeptisch. Hätte mein Freund Jeff nicht die einwöchige Überraschungsreise von seinem Bruder zum Geburtstag bekommen, so hätte ich wahrscheinlich nie den Einfall gehabt, ausgerechnet in Westjütland nach Entspannung zu suchen. Aber nun hielten wir sie in den Händen, die Einladung zum Familienurlaub – eine hübsche Klappkarte in den dänischen Nationalfarben Rot und Weiß, dazu einen Zettel mit der Adresse des Ferienhauses.

Jeffs Bruder Mario und seine Familie, bestehend aus Lisa und den zwei Kindern Robert und Emma, waren einen Tag vor uns nach Dänemark gefahren und riefen nun aus Hvide Sande an: „Wir sind sehr enttäuscht“, hörte ich Mario ins Telefon klagen. „Das ist kein schönes Haus. Es ist total dunkel und verschimmelt!“ Ich sah wie sich Jeffs Gesichtsausdruck verdüsterte. „Kleiner Scherz“, lachte Mario fröhlich. „Es ist das tollste Ferienhaus auf Erden!“

Dank der nun aufgefrischten Begeisterung vergingen die vielen Autobahnstunden wie im Flug. Im Norden wurden die Wolken immer wattiger und zarter, die Luft schneidend und das hellgelbe Abendlicht dünn und geschmeidig. „Hörst du die Schwalben“, freute sich Jeff als wir vor Esbjerg noch einmal anhielten. „Die sind typisch für Dänemark, sie erinnern mich an die Kindheit.“ Er erzählte mir noch ein wenig von seinen alljährlichen Sommerferien in Jütland. Wir fuhren über kleine, bucklige Hügel, als sich plötzlich die Landschaft öffnete und wir uns inmitten eines irrealen Gemäldes von welligen, sanften Dünen wiederfanden.

Das sandfarbene Haus, in dem Mario und Co. uns jubelnd begrüßten, wartete friedlich auf uns am Ende eines einsamen Schotterweges, wenige Schritte vom Meer entfernt. Bald verstand ich auch, was Jeff zu Hause gemeint hatte, als er mich überzeugen wollte, warme Pullis, lange Hosen, die Kapuzenwindjacke und eine Mütze einzupacken. „Was ist denn das für eine sonderbare Strandausstattung“, hatte ich mich gewundert. Doch jetzt wusste ich, was er meinte: im Juni gefühlte drei Grad plus und ein eisiger Wind, dass ich glaubte, bald fliegen zu können.

Wir wurden im „königlichen Zimmer“ einquartiert – schließlich hatte Jeff als Geburtstagskind das Recht auf gewisse Privilegien – und freuten uns über die riesigen Glaswände auf beiden Seiten, die uns das Gefühl gaben, direkt in den Dünen zu übernachten. Auch das lichtdurchflutete Wohnzimmer mit dem großen, schweren Holztisch und die reinliche, gut ausgestattete Küche waren ganz nach dem Geschmack der beiden designaffinen Brüder.

Dänemark präsentierte sich in einer schlichten, nordischen Klarheit, ganz anders als alles, was ich bisher kannte. Mir wurde klar: an diesem Meer gibt es keine Strandpartys, kein Remmidemmi, keine eingeölten Fitness-Stars, keine frechen Ausschnitte. Sexy sieht man hier gewiss nicht aus – dafür gibt es aber ganz andere Genüsse. Zum Beispiel im böigen Morgenwind bunte Drachen steigen zu lassen, was Jeff und die Kinder mit leuchtenden Augen noch im Pyjama gleich am ersten Morgen taten.

Lisa übernahm die lebenswichtige Aufgabe, morgens frische Zimtschnecken vom Bäcker zu holen; ich freute mich über die launische Sonne, die sich dann doch ab und zu zwischen den Wolken blicken ließ, und schleppte meinen Liegestuhl von einer Terrasse zur anderen, je nachdem, wo der Luftzug gerade nicht zu spüren war. Wir unternahmen geruhsame, lange Entdeckungsspaziergänge in der Umgebung und waren erstaunt über den Naturreichtum, der die mysteriösen, einsamen Dünen schmückte. Auf den ersten Blick eine karge Mondlandschaft. Doch bei näherem Hinsehen offenbarte sich eine winzige, lebendige Welt: goldene löwenzahnähnliche Blüten, zierlich-rosarote Blumenbündel, haarige Knospen, saftige Blätter, vertrocknete Nadelpflanzen und tausend Sorten Moos.

Mario und Jeff kümmerten sich meisterlich um die kulinarische Seite des Urlaubs und verwöhnten uns mit Spezialitäten wie „Smørrebrød“, üppig-phantasievoll belegten Brötchen, und einer Art Delikatess-Hot-Dogs mit den für Dänemark charakteristischen rot gefärbten Würsten, den „røde pølser“, garniert mit süß-sauren Gurkenscheiben und gerösteten Zwiebeln. Dazu gab es eine respektable Auswahl an dänischem „øl“ – zu Deutsch nicht etwa Öl, sondern Bier. Köstlich geräucherte Makrelen wurden in verschwenderischen Mengen serviert – und erfreulicherweise überließen die Kinder sie alle den Erwachsenen, denn Robert wollte nicht probieren, weil es „so nach Füsch“ roch, und Emmchen wollte nicht probieren, weil Robert nicht probieren wollte.

Den Kleinen wurden abends in der Mansarde Geschichten vorgelesen, es ging um Robben, Muscheln, Krabben und Fischerboote. Spät nachts gab es gemütliche Saunagänge und Erzählrunden vor dem Kamin. Über den stillen Dünenriesen wurde es erst gegen Mitternacht dunkel, der Wind pfiff schelmisch am Dach entlang und rüttelte an den Türen. Eine mythische, raue Öde.

An einem der Tage fuhren wir ins verschlafene Fischerstädtchen nebenan zum Supermarkt und zum Kuchenessen. „Ihr beide mampft aber schnell“, freuten sich die Kinder, als sie die Vielfalt von bunten Kuchensorten von Jeffs und meinem Teller im Minutentakt verschwinden sahen. Dann kam der gewaltige Sturm, der zuerst frostige Windstöße vorausgeworfen hatte. Jeff und ich zogen alles an, was es in unseren Koffern gab, und stampften über die wilden Dünen an den Strand. Die grauen Wolken hingen tief und bedrohlich über unseren Köpfen und trieben ins Landesinnere, das Meer wälzte sich wütend, tobte und brüllte, der Sand peitschte uns ins Gesicht und knirschte zwischen unseren Zähnen. Weit und breit keine Seele, nur die grenzenlose Urfreiheit des Wassers – wir kamen uns vor wie in einer kühnen Expedition, bei der nur noch das bloße Überleben zählte. Wir tanzten, schrien und hüpften uns die Köpfe frei.

Der Gedanke, dass die Woche bald vorbei sein würde, tat uns richtig weh. Am letzten Tag kam Jeff auf die aberwitzige Idee, statt eines Drachens diesmal seine Leinenhose steigen zu lassen. Er schnürte sie so zusammen, dass sich der Wind darin verfing und die Hosenbeine bald darauf wie Friedensfahnen in der Luft flatterten. Die Kinder kugelten sich vor Freude. Mario fand im Küchenschrank ein Diät-Tagebuch, das wohl früheren Gästen des Hauses gehört hatte, und las uns daraus mit ernster Mimik und vorgetäuschtem dänischem Akzent vor. Emmchen und Robert hatten in der Umgebung eine tote Hummel, eine Krebszange und einen mumifizierten Frosch aufgetrieben und dekorierten nun damit zu Lisas Entsetzen den Mittagstisch. Jeff machte den Vorschlag, das Aquarium in Esbjerg oder das Legoland zu besuchen, aber auf urbanes Leben schien keiner richtig Lust zu haben. Stattdessen wurden die majestätischen Möwen mit beachtlichen Portionen Weißbrot gefüttert.

Zum Sonnenuntergang versammelten sich Menschen mit Kameras wie winzige Strichlein auf den Dünenbuckeln. Ein altes Ehepaar hatte eine Kollektion von fernsteuerbaren Flugzeugen mitgebracht, die nun wie gigantische Libellen über den Köpfen kreisten.

Nach unserer Rückkehr aus Dänemark dauerte es Stunden, bis wir die Unmengen von Sand aus allen unseren Sachen geschüttelt hatten. Die Kamera hatte Sandkörner-Kratzer an der Linse und war wohl nicht mehr zu retten – aber nach den herrlichen Fotos, die wir mitgebracht hatten, konnte sowieso nichts Besseres mehr kommen. Erschöpft von der langen Fahrt setzten wir uns an den Küchentisch zu einem Glas Weißwein. Ich erschrak ein wenig, als ich sah, dass Jeff sein Laptop aufklappte – gerade erst aus den Ferien zurückgekehrt, wollte er doch nicht schon wieder arbeiten?! Aber nein, es war nicht wegen der Arbeit. „Wir suchen jetzt ein schönes Ferienhaus für den Herbst“, sagte er mit einem vergnügten Augenzwinkern. Ich war glücklich: „Aber bitte im Norden!“