Willkommensgruß mit Dresdner Akzent

Trotz dunkler Spuren der Vergangenheit baut die Hauptstadt Sachsens an ihrer Zukunft

Am Dresdner Neumarkt stellt sich die Frauenkirche schützend vor den Frieden der Zukunft. Fotos: der Verfasser

Blick vom Elbufer der Dresdner Neustadt im September 2018 auf die römisch-katholische Hofkirche und den Turm des Residenz-Schlosses

An den Supermarktkassen und in den Gaststätten Dresdens klingt der sächsische Akzent markanter als in Leipzig, der Stadt, die zurzeit im Schnellrhythmus wächst und sich seit Jahrhunderten als der ehrwürdigste aller bundesdeutschen Messestandorte rühmt. Leipzigs Einwohnerzahl hat zu Jahresanfang 2018 die 590.000 geknackt und wird die 600.000 bald erreicht haben. Leipzig ist längst größer als Dresden. Dresden jedoch war, ist und bleibt die Hauptstadt Sachsens! Zwar nimmt der Leipziger Hauptbahnhof unter allen Kopfbahnhöfen Europas mit seiner riesigen Fläche den ersten Platz ein, aber die längeren Straßenbahnen fahren trotzdem auf den Gleisen der Kleinmetropole an der Elbe. Wie emsige Bienenschwärme strömen die hochmodernen und gelb-schwarzen Waggons der Dresdner Verkehrsbetriebe AG (DVB) durch die barocke Innenstadt und das Szene-Viertel Neustadt in Richtung Loschwitzer Brücke, die dank des hellblauen Anstrichs ihrer Stahlfachwerkkonstruktion „Blaues Wunder“ heißt und die Hermannstädter Lügenbrücke sowie weitere Verkehrsbrücken dieser Art in ihren europaweit bekannten Schatten stellt.


Bis zu 45 Meter lange Straßenbahnen der DVB fahren aus den südöstlichen Stadtvierteln Leuben und Laubegast an dem Großen Garten, der Gläsernen VW-Manufaktur und dem Deutschen Hygiene-Museum vorbei ins Stadtzentrum zurück. Direkt vom Dresdner Hauptbahnhof aus erstreckt sich nach Norden hin die Prager Straße, eine im glänzend-sozialistischen Baustil renovierte Flaniermeile und Fußgängerzone, die nach einer Wegdauer von gemütlichen 15 Minuten den Blick auf die evangelische Kreuzkirche, den Altmarkt sowie auf den ebenfalls kommunistisch inspirierten und 2017 nach grundlegendem Umbau wiedereröffneten Kulturpalast freigibt.

Dresden ist auch als Standort der Semperoper und der Sächsischen Staatskapelle weltweit bekannt. Aber hiermit ist die Liste der Sehenswürdigkeiten noch lange nicht voll, denn in der barocken Altstadt gibt es auch die römisch-katholische Hofkirche, den Fürstenzug an einer Außenwand des Residenz-Schlosses und selbstverständlich auch das Grüne Gewölbe, eine historische Museumssammlung der Staatlichen Kunstsammlungen Dresdens, zu entdecken.

Und wer zuhause wirklich behaupten will, Dresden gesehen zu haben, darf sich den Zwinger keinesfalls entgehen lassen. Der ist nicht etwa spektakulärer als all die anderen Anziehungspunkte der sächsischen Hauptstadt, aber ein Muss auf jeder Wohn- oder touristischen Checkliste Dresdens.

Traumatisierte Schönheit

Dresden ist schön. In seinem hart geprüften Gesicht aber trägt Dresden unverkennbare Rauchnarben rund um Augen, Ohren, Nase, Hals und Mund. „Wie liegt die Stadt so wüst, die voll Volks war.“, lautet der Titel jener Trauermotette, die Kreuzkantor Rudolf Mauersberger Karsamstag 1945 fertiggestellt und am 4. August desselben Jahres mit dem Dresdner Kreuzchor uraufgeführt hatte.

Alttestamentarische Auszüge aus den Klageliedern Jeremias sprechen durch Mauersbergers Motette auch heute noch von dem Dresdner Trauma, das sich wenige Monate vor Ende des Zweiten Weltkrieges ereignete: „Ist das die Stadt, von der man sagt,/sie sei die allerschönste,/der sich das ganze Land freuet?/Sie hätte nicht gedacht,/dass es ihr zuletzt so gehen würde;/sie ist ja zu greulich heruntergestoßen/und hat dazu niemand, der sie tröstet./“ Als himmelschreiende Antwort auf die Luftangriffe von mehr als 700 Bombenwerfern der britischen Royal Air Force (RAF) und 300 Kriegsfliegern der amerikanischen United States Army Air Forces (USAAF) verwendet Rudolf Mauersberger am Schluss der Trauermotette stellvertretend für Dresden den ebenfalls aus Jeremias Klageliedern entnommenen Vers „Herr, sieh an mein Elend,/ach Herr, sieh an mein Elend!“

Wenige Tage vor der fatalen Nacht vom 13. auf den 14. Februar 1945 zählte Dresden 630.000 Einwohner. Bis zu 25.000 Menschen fielen den Brandbomben zum Opfer. Zeitzeugen, die in Wohn- und Villenvierteln rund um den Großen Garten vor dem Fliegeralarm Deckung suchten, erinnern sich daran, dass der Himmel über dem Stadtzen-trum tief orange aufleuchtete. Die von den amerikanischen und britischen Streitmächten gelegten Flammen hatten nicht nur die Stadt Dresden, sondern auch deren edle Seele in Schutt und Asche versenkt.

Deutschland selbst aber hatte unter der Führung Adolf Hitlers wenige Jahre zuvor London, Birmingham, und vor allem Coventry über den Luftweg angegriffen. Die Kathedrale von Coventry wurde dabei fast vollständig vernichtet. Kurze Zeit nach der Zerstörung am 14. November 1940 meißelte Propst Richard Howard die Worte „Father, forgive!“ (Vater, vergib!) an die Wand des Chorraumes. Versöhnung? Nein, dafür hatte Großbritannien auf die Schnelle nichts übrig.

Am 13. Februar 1945 musste Dresden Kopf und Hals unter die Guillotine halten. Die Zerstörung der evangelischen Frauenkirche am Neumarkt und die Brandsetzung der sächsischen Hauptstadt gelten als Racheakte. Kenner der Weltgeschichte interpretieren, dass die Allierten die „Schnauze gestrichen voll“ hatten und Deutschland den schmerzvollsten aller möglichen Gnadenstöße versetzen wollten, um die Kapitulation der Wehrmacht so schnell wie möglich zu erzwingen.

Im toten Winkel

Geduldig leckte Dresden seine Wunden während der Nachkriegszeit und des DDR-Regimes. In der sächsischen Nachbarstadt Leipzig war es trotz Verbot möglich, deutsches Westfernsehen auf den Bildschirm der Geräte sozialistischer Wohnzimmer zu zaubern. Dresden lag außerhalb der Reichweite bundesdeutscher Wellenlängen und wurde auf den Beinamen „Tal der Ahnungslosen“ getauft. Fast ein halbes Jahrhundert lang musste es die Welt medial an sich vorbeiziehen lassen.

Für eingefleischte Dresdner mag ihre Stadt auf der kapitalistischen Reisekarte Europas und der Welt ausschließlich Ausgangspunkt gewesen sein. Eine surreale Ausnahme ergab sich 1975, als der weltberühmte, heute 91 Jahre alte und immer noch ausgesprochen fähige Dirigent Herbert Blomstedt einwilligte, das Amt des Chefdirigenten der Dresdner Staatskapelle zu übernehmen. Bis 1985 stand der bekennende Siebenter-Tags-Adventist Blomstedt der Dresdner Staatskapelle, die für Richard Wagner wie eine „Wunderharfe“ geklungen hatte, als Chefdirigent vor.

Im toten Reisewinkel Zentraleuropas war Dresden zu finden. 1983 nahm der Westberliner Liedermacher Reinhard Mey sich mit dem Chanson „Ich würde gern einmal in Dresden singen“ der sächsischen Haupstadt an. „Ich weiß von euch nur Oberflächlichkeiten,/Und auch die hab´ ich nur aus zweiter Hand,/Ich kenn´ die Dinge gern von beiden Seiten,/Und kenn´ doch eine nur von diesem Land./Ich weiß, ein Lied würde das Eis wohl brechen,/Auch, wenn wir vielleicht manches anders seh´n,/Glaub´ ich, dass wir dieselbe Sprache sprechen,/Trauer empfinden oder Spaß versteh´n!“

Der Refrain zeichnet die innerdeutsche Trennung vor dem Mauerfall nach: „Ich würde gern einmal in Dresden singen,/In Jena, Leipzig, Rostock und Schwerin./Und hören, dass die Lieder hier wie drüben klingen,/In einem wie im andern Frankfurt, im einen wie im anderen Berlin.“ (Anmerkung der Redaktion: Frankfurt am Main, ehemals Westdeutschland, bzw. Frankfurt an der Oder in der ehemaligen DDR).

Schwierige Selbstfindung

Seit dem Mauerfall bemüht sich Dresden um fortwährenden Anschluss an das wiedervereinte Deutschland. In der ehemaligen DDR wird aufgrund massiver Abwanderung vor und nach 1990 das Thema der Vergangenheitsbewältigung kontrovers diskutiert. Mediennutzern aus Rumänien und Siebenbürgen scheint dies gut nachfühlbar.

Außerdem ist etwas dran an der Tatsache, dass die rechtsextremistisch agierende Partei „Alternative für Deutschland“ (AfD) und die bundesweit nationalistisch auftretende Gruppierung „Patriotische Europäer gegen die Islamisierung Deutschlands“ (PEGIDA) ausgerechnet im Osten Deutschlands auf einen sozialen Nährboden stoßen, der in Kombination mit Kriminalereignissen, wie unlängst in Chemnitz und Köthen geschehen, dazu verleitet, das Bundesland Sachsen erneut an den stummen Rand oder aufgebauschten Mittelpunkt Deutschlands drängen zu wollen.

Am Dresdner Neumarkt werben PEGIDA- und AfD-Zivildemonstranten regelmäßig dafür, Deutschlands Tore nach außen hin zu verrammeln. Vor den Fensterscheiben der Frauenkirche wird versucht, Fremdenhass zu predigen. Die Kirche schaut nicht untätig, indem sie rechtsnationalen Aufmärschen die ersten fünf Worte aus Vers 9 im 5. Kapitel des Evangelisten Matthäus im Neuen Testament entgegenhält: „Selig sind, die Frieden stiften“.

Das acht Meter hohe und eine halbe Million Euro teure Kuppelkreuz des 2005 neu eingeweihten Gotteshauses stammt aus der Londoner Werkstatt von Kunstschmied Alan Smith, dessen Vater im Februar 1945 vom Cockpit eines Bombenfliegers aus zur Zerstörung Dresdens beigetragen hatte. Die symbolische Geste der Kreuzherstellung in einem Londoner Atelier berücksichtigte den 65 Jahre alten, von Propst Richard Howard flehentlich bei Gott erbetenen Wunsch deutsch-englischer Versöhnung.

Dresden läuft zum bereits zweiten Mal in der Weltgeschichte Gefahr, das zu werden, was es jahrzehntelang gewesen ist – ein intaktes und doch lebloses Niemandsland der großen Welt. „Ich würde gern einmal in Dresden singen,/In Weimar, Halle, oder Heinrichsruh!/Namen sind das, die für mich mehr nach Ferne klingen,/Als Singapur, Los Angeles, La Paz und Katmandu.“

Vor 35 Jahren mag Reinhard Mey noch richtig gelegen haben. Derzeit liegt es aber an der großen Welt und ihren Bürgern selbst, nebst dem Gebet von Propst Richard Howard auch die Visionen eines Künstlers wie Reinhard Mey zu verwirklichen. Darum lohnt ein Besuch Dresdens, das nicht nur architektonisch, künstlerisch und musikalisch eine Menge zu bieten hat, sondern seine Gäste mit offenen Armen und obendrein entschieden kostengünstiger als alle anderen Metropolen Deutschlands empfängt. Eine touristische Erkundung Dresdens ist für beide Seiten vorteilhaft und leistet Deutschland aktuell wertvollere Hilfe als ein Einkaufsbummel in Berlin, Hamburg oder München.