Wo steinerne Wände Geschichten flüstern

Das bewegte Schicksal der Mühlbacher am Beispiel ihrer evangelischen Stadtpfarrkirche

Die Mühlbacher evangelische Kirche: Blick in Richtung Altar

Prachtvoller Renaissance-Hochaltar

Blickrichtung zur Orgel

Diesen Bußstein bekamen vermutlich Ehebrecher um den Hals gehängt.
Fotos: George Dumitriu

Im ältesten Siedlungsgebiets der Siebenbürger Sachsen, dem Unterwald, entstand am Kreuzungspunkt einst bedeutender Handelswege das schmucke Städtchen Mühlbach/Sebeş. Auf dem gleichnamigen Fluss trieben gewaltige Flöße mit in den Bergen geschlagenen Stämmen talwärts. Handel und Zünfte erblühten, und mit ihnen die Baukunst - um im Feuer der raubenden und brandschatzenden Türken und Tataren immer wieder zu verglühen. Als besonderes architektonisches Kleinod sticht im Zentrum die altehrwürdige, über 800 Jahre alte evangelische Stadtpfarrkirche mit dem wertvollsten Hochaltar südlich von Wien hervor. An ihrem Schicksal lässt sich die bewegte Geschichte der Stadt nachvollziehen.

Ihr Dach aus bunten Keramikschindeln leuchtet uns an sonnigen Tagen den Weg. Vor der spätmittelalterlichen Kirchmauer eine schmucke Parkanlage, im Sommer voller Blumen und Bäume, eine grüne Oase inmitten des brodelnden Lebens an der Hauptstraße. Im Inneren der Mauer dann plötzlich schattige Stille. Steinerne Heiligenstatuen wachen mit jahrhundertealtem Blick von den Wänden der Kirche über die Anlage. So manches Gesicht ist längst verwittert. So manches Erdbeben hat die ein oder andere Nische leer gelassen.

Durch die Pforte treten wir von der äußeren in die innere Welt. Ein atemberaubendes Gewölbe macht uns schwindeln. Blumenduft weist den Weg zum festlich geschmückten Altar - die letzten Spuren des 24. Sachsentreffens, das am Vortag im  September 2014 in Mühlbach stattgefunden hatte. Heute klingen die Wände nur noch in der Erinnerung nach: die gewaltige Stimme der Orgel, das gemeinsame Halleluja unter Spitzenhäubchen und geflochtenen Zöpfen. Nun endlich Zeit für einen Blick auf Details.Und ein Ohr für das Geflüster  der Vergangenheit...

Bis zur Blüte

Die ursprünglich romanische Basilika, errichtet von den Siedlern,  stammt aus dem 12. Jahrhundert. Sie fiel jedoch den verheerenden Tatareneinfällen von 1241/42 zum Opfer. Nur die Fundamente und das Mittelschiff sind erhalten geblieben, verrät Pfarrer Afred Dahinten. Nachdem die für ihre Baukunst bekannten Zisterzienser die Kirche wieder aufgebaut hatten, stand sie 200 Jahre lang. In dieser Zeit hat sich Mühlbach stark entwickelt. Handelswege führten vom Osten aus Hermannstadt/Sibiu über Broos/Orăştie und vom Süden aus der Walachei durch das Gebirge nach Karlsburg/Alba Iulia und Klausenburg/Cluj Napoca. Mit dem Handel erblühten  die Zünfte. 1370 gab es 19 Zünfte mit 25 Gewerben - mehr als zur gleichen Zeit in Augsburg. Mühlbach war damals die drittgrößte Stadt Siebenbürgens.

Spuren aus dieser Zeit finden sich heute noch in den Namen: Schwertfeger - vom Gewerbe der Schwertmacher  aus der Zunft der Schmiede; Fabritius  - vom  lateinischen „fabri“, der Schmied; Schullerus - von Schullehrer. Durch den Verkauf handwerklicher Produkte reich geworden, entschlossen sich die Mühlbacher, ihre Kirche zu vergrößern. Zwischen 1370 und 1380 wurde der romanische Hallenchor abgetragen und man begann, dank der Weiterentwicklung der Baukunst, in die Höhe zu bauen. Der neue 15 Meter hohe und 28,5 Meter lange gotische Hallenchor ist laut Kirchenburgenatlas des  Architekten Hermann Fabini in Proportion und Qualität der Bauplastik einzigatrig  in Siebenbürgen.

Die äußere Kirchenmauer wurde mit zwei Reihen Statuen geschmückt, deren Gipsabgüsse sich in der Kirche befinden.  Kunsthistoriker erkennen in ihnen die Hand des berühmten Steinmetzes Peter Parler aus Gmünd, einem der bedeutendsten gotischen Dombaumeister des Mittelalters. Wahrscheinlich aber war es nur einer seiner Schüler, der die Mühlbacher Heiligenstatuen schuf. Die bis zur Gesichtslosigkeit verwitterten  Köpfe hinter den kleeblattförmigen Öffnungen stammen wahrscheinlich noch aus der alten Kirche und stellen wohl die Stifter dar.

Zeit der Türkenüberfälle

Ende des 14. Jahrhunderts wurde der Bauwut jäh Einhalt geboten. Rasch musste man sich um die Errichtung einer Stadtmauer kümmern, das ursprünglich geplante Kirchenschiff blieb unvollendet. Statt dessen zog man lediglich ein Walmdach über Mittel- und Seitenschiffe, daher ist es heute tagsüber im Inneren der Kirche recht dunkel.

Von der Stadtmauer ist heute noch einiges zu sehen, bei einem Rundgang um die Grenze der Altstadt stößt man immer wieder auf Überreste. Von den einstigen Verteidigungstürmen sind noch fünf erhalten - darunter der Studententurm, berühmt durch die Geschichte vom „Rumeser Studenten“: Als die Türken 1438 Mühlbach belagerten, sollen sie den Menschen im Gegenzug zur Aufgabe der Stadt das Leben versprochen haben. Ein ungewöhnliches Angebot, verdienten doch die sie begleitenden tatarischen Hilfsheere ausschließlich vom Verkauf der anfallenden Sklaven. Es kam zu einem Zwiespalt unter den Bewohnern: einige ergaben sich, andere verschanzten sich im Studententurm, der zwar den Angriffen standhielt, doch als die Türken an seiner Basis Feuer legten, fielen  sie in die Hände der Osmanen. Unter ihnen befand sich ein Student, der nach Edirne auf den Sklavemnarkt gebracht und insgesamt achtmal weiterverkauft wurde, bis er nach etwa 20 Jahren an einen Herrn gelangte, der ihm gewogen war. Mit dem Versprechen, an einer Universität den Islam zu studieren und dann zu ihm zurückzukehren, erhielt der Mann einen Pass. Er flüchtete jedoch nach Rom, trat in ein Kloster ein und schrieb dort als Frater Georgius ein vielbeachtetes Buch über die Sitten und Gebräuche der Türken, über die man damals kaum Bescheid wusste.

In der zweiten Hälfte des 15. Jahrhunderts werden in der Kirche lediglich noch die romanischen Seitenschiffe abgetragen und durch gotische ersetzt. In der Folgezeit wird die Stadt mehrere Male erobert und zerstört: 1479 durch Ali Bei, 1661 durch türkische Truppen unter Ali Pascha, 1707 dann der Einfall der sogenannten Kuruzzen, aufständischer antihabsburgischer Bauern im Königreich Ungarn, die von Siebenbürgen aus zusammen mit Teilen des niederen ungarischen Adels weite Teile Ungarns eroberten, bevor sie 1711 von kaiserlichen Truppen besiegt wurden.

Besondere Details

Die Hauptsehenswürdigkeit in der Kirche ist natürlich der Schreinflügelaltar aus dem Jahr 1518 im Renaissance-Stil, mit 13 Metern Höhe der größte Siebenbürgens. Er trägt die „Handschrift“ der Schule von Veit Stoß, wahrscheinlich wurde er von dessen Sohn, Veit Stoß dem Jüngeren, geschaffen. Im mittleren Teil zeigt er den Stammbaum Christi. Links und rechts je vier biblische Szenen, darunter die sehr ungewöhnliche Darstellung der Beschneidung des Jesuskindes. Auffallend auch die historisch falsche Darstellung der Heiligen Drei Könige mit mittelalterlichen Kleidern und Insignien - wahrscheinlich wusste man damals nicht, wie palästinensische Könige auszusehen haben, mutmaßt Pfarrer Dahinten. In den geschlossenen Altarflügeln, die nur an hohen Feiertagen geöffnet werden, verbergen sich acht Tafelgemälde.

Auf der spätgotischen Kanzel weist der Pfarrer auf eine Besonderheit hin: Eine steinerne Kugel hängt unter der linken Brust des gekreuzigten Jesus, die immer wieder Anlass zu Spekulationen gibt. Ein Reichsapfel? Sein Herz? Aber es gibt keine Wunde. Oder gar - eine Weltkugel? Noch vor der Entdeckung Amerikas wäre dies freilich eine Sensation...

Interessant sind auch die Reste eines Lettners, einer Art Trennwand zwischen Chor und Schiff, aus dem 17. Jahrhundert. Möglich, dass so die in der katholischen Zeit oft parallel stattfindenden Gottesdienste getrennt wurden. Oder aber es wurden politische Versammlungen in einem der Räume abgehalten.

Eine Besonderheit - ebenfalls aus dem 17. Jahrhundert - ist der mit Fratzen dekorierte, etwa 15 Kilogramm schwere Bußstein. Den mit einer Kette versehenen Alabasterbrocken bekamen Kirchensünder um den Hals gehängt und mussten damit entweder am Pranger stehen oder im Gottesdienst knien. Wahrscheinlich hatte man ihn vor allem für Ehebrecher eingesetzt. In  Deutsch-Weißkirch/Viscri gibt es Ähnliches: den Schandstein, auf dem man vor dem Ausgang der Kirche, gut sichtbar für alle, sitzen musste. Ansonsten war es auch in den Kirchen eher üblich, Sünder mit Geldbußen zu bestrafen.Welch Segen, in einer Zeit zu leben, in der solche Maßnahmen Geschichte sind!